"Nichts" nennt Rainer von Vielen das zwölfminütige Stück, mit dem er sein Album "Kauz" ausklingen lässt. Kein Text, kaum Instrumente, und doch präsentiert der Musiker aus dem Allgäu hier alles andere als Nichts: Er bedient sich einer Gesangstechnik, die in Europa eine relativ überschaubare Tradition besitzt, in anderen Teilen der Welt, insbesondere in Zentralasien, jedoch fest im jeweiligen Kulturgut verankert ist.
Oberton- und Kehlgesangs-Interpreten beherrschen die Kunst, ganz alleine den Eindruck von Mehrstimmigkeit zu erzeugen. Manche Künstler scheinen gar über ein komplettes Glockenspiel im Rachen zu verfügen. Die zugrunde liegende Technik sei, behaupten Musiker und Gesangslehrer wie Wolfgang Saus, der ein Lehrbuch zum Thema verfasste, für jedermann erlernbar.
Vorab ein wenig Theorie: Schwingungen, so auch Schallwellen, bestehen aus einer Grundfrequenz und einer diese überlagernden Folge von Intervallen, den Obertönen. Die Grundfrequenz bestimmt die Tonhöhe, die relative Lautstärke der verschiedenen Obertöne zueinander bewirkt die Klangfarbe eines Tons. Der charakteristische Klang einer Stimme resultiert aus dem Zusammenspiel von Tonhöhen und Klangfarben, also aus der Verteilung der Lautstärken ihrer Obertöne.
Wird nun einer der Obertöne gegenüber den anderen verstärkt, wird er als separater Ton wahrnehmbar. Diesen Umstand machen sich Obertonsänger zunutze: Sie kontrollieren über Bewegungen der Zunge und der Wangen Resonanzräume im Mund- und Rachenbereich, um gezielt einige Obertöne herauszufiltern, während andere abgeschwächt werden. Kommt den Obertönen eine eigene musikalische Funktion zu, spricht man von Obertongesang. Einige Künstler sind in der Lage, mit Grund- und Obertonstimme zwei verschiedene Melodien zu interpretieren.
Beim normalen Sprechen oder Singen liegt der Großteil der Energie auf dem Grundton. Beim Obertonsingen wird das Verhältnis zugunsten der höheren Frequenzen verschoben, so dass die Obertöne letztlich als Klingeln oder Pfeifen getrennt wahrzunehmen werden und der Eindruck der Vielstimmigkeit entsteht. (Um das Obertonspektrum zu erweitern, bedient man sich bei einigen Formen des Kehlgesangs auch Untertontechniken. Hier werden durch gezielten Kehlkopf-Einsatz Töne produziert, die unterhalb des gesungenen Grundtons liegen, was mehr Spielraum nach oben gestattet.)
Aus physiologischen Gründen ist nur ein kleiner Ausschnitt der Obertonreihe, der zwischen 350 und 3000 Hz, musikalisch nutzbar. Höhere Frequenzen können kaum noch gezielt verstärkt werden, da sie sehr eng beieinander liegen, die Feinmotorik der Zunge natürlichen Beschränkungen unterliegt, die Resonanzräume im Mund zu klein und die resultierenden Töne entsprechend leise sind. Einige wenige Interpreten, darunter der mongolische Khöömej-Meister Hosoo oder Steve Sklar, bringen es auf bis zu 3500 Hz.
Oberton- und Kehlgesangstechniken werden in verschiedensten ethnischen Gruppen gepflegt. Die sardischen "cantu a tenores" bedienen sich des Kehlgesangs. Die Gebetsgesänge tibetanischer Lamas zählen ebenso dazu wie manche musikalischen Bräuche der Inuit, der Xhosa in Südafrika, einiger Völker auf Papua-Neuguinea, der japanischen Ainu auf Hokkaido oder der Samen in Lappland.
Letztere pflegen mit dem Joik eine spezielle Art des Obertongesangs, der mehr an das alpenländische Jodeln erinnert. Joiken stellt einen integralen Bestandteil der Kultur der Samen dar. Die halb-improvisierte Mischung aus Lied und Gedicht ist bei Folk- und Viking-Metalbands (z.B. Finntroll) ebenso zu finden wie bei Mari Boine, die in einem Electronica- und Weltmusik-Umfeld joikt.
Am weitesten verbreitet sind Obertongesänge allerdings in Zentralasien, unter den Nomadenvölkern des Altai-Gebirges, in der Mongolei und in Tuva. Abgeleitet von der tuvinischen Bezeichnung für Kehle spricht man - in den unterschiedlichsten Schreibweisen - von Khöömej. Als Kagyraa bezeichnet man die Untertontechnik, die an heulende Winterwinde erinnernde Laute erschafft. Helle, pfeifende, klare Obertöne liefert das sogenannte Sygyt. Varianten, die keine isolierten Obertöne hervor bringen, sind unter dem Begriff Xorekteer bekannt.
Obwohl jedes Volk seine spezielle Tradition unter einem eigenen Namen pflegt, haben Oberton- und Kehlgesänge jedoch eines gemeinsam: Sie entstammen größtenteils nomadischer oder schamanischer Tradition. Durch Nachahmung von Naturgeräuschen wie Tierstimmen, Wind oder Wasser entsteht eine Verbundenheit zwischen Mensch und Umwelt, die bis zum Erreichen neuer Bewusstseinsebenen führt. Inzwischen haben Musiktherapeuten die entspannende Wirkung der Klänge für ihre Zwecke entdeckt.
In der westlichen Welt spielte der Obertongesang zunächst aber lange keine Rolle. Lediglich einige wenige Musiker befassen sich im Rahmen von Stimmexperimenten mit Kehlgesangs-Praktiken. Erst ab den ausgehenden 60er Jahren des 20. Jahrhunderts findet der Obertongesang Eingang in die Avantgarde-Musik und später in die New Age-Szene der 80er.
Angeblich ohne Kenntnis der zentralasiatischen Praktiken entdeckt Komponist Karlheinz Stockhausen gemeinsam mit Michael Vetter die Technik für sich. Mit seinem 1968 uraufgeführten Stück "Stimmung" für fünf Solostimmen und Tonband inklusive detaillierter Gesangsanleitung sowie dem Nachfolgewerk "Sternklang" von 1971 legt er den Grundstein für eine eigene westliche Obertongesangs-Tradition.
Zu den Pionieren zählen hier unter anderem der italienische Experimental- und Jazzmusiker Roberto Laneri, die Brüder Michael und Jochen Vetter, der US-amerikanische Sänger und Komponist David Hykes, sowie Christian Bollmann. Der studierte Jazzmusiker wird durch eine Aufführung von Stockhausens "Stimmung" auf das Gesangsphänomen aufmerksam und gilt als der Wegbereiter des Obertongesangs in Deutschland.
1975 gründet David Hykes in New York das erste spezialisierte Oberton-Ensemble, seinen Harmonic Choir. Laneri kreiert 1981 mit "Two Views Of The Amazon" eine weitere Komposition für Obertongesang, die ebenso wie Hykes' "Hearing Solar Winds" als Meilenstein gehandelt wird. 1985 zieht Christian Bollmann nach: Der von ihm in Folge einer gemeinsamen Konzertproduktion mit Laneris Memory Rainbow Ensemble ins Leben gerufene Obertonchor Düsseldorf gilt noch drei Jahrzehnte später als angesehenste deutsche Gruppierung des Genres.
Nicht zuletzt der aufkommenden Esoterik-Bewegung verdankt der Obertongesang seine in den 90er Jahren rapide wachsende Popularität. Spirituell interessierte Kreise schüren das öffentliche Interesse. In den USA sorgt der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman mit seiner Beschäftigung mit Tuva und seiner Kultur für Aufmerksamkeit. Darüber hinaus finden hier speziell die Gebetsgesänge der tibetanischen Lamas Beachtung.
Insbesondere in Tuva und der Mongolei formieren sich im ausgehenden Jahrhundert zahlreiche Gruppen, die Lied- und Melodiegut ihrer Kultur neu für sich entdecken und bewahren und mit ihren Programmen hochgradig erfolgreich international auftreten. Unter den Stars der Szene finden sich die tuvinischen Huun Huur Tu, die zudem auf traditionellen Instrumenten musizieren, oder Yat Kha, die folkloristische Elemente mit rockigem Sound kombinieren.
In Deutschland und Westeuropa existieren mittlerweile zahlreiche Obertongesang praktizierende Singkreise und Chöre. Etliche Musiker, beispielsweise der Liedermacher und Barde Gerhard Fankhauser, der Elektro-Punk-Hop-Protestsongwriter Rainer von Vielen oder das Stephan-Max Wirth Ensemble ("Illumination"), lassen Obertongesangs-Techniken in ihre Musik einfließen. Die aus Deutschland stammende Künstlerin Arjopa Limburg, die mit Krautrockbands wie Embryo oder Guru Guru kooperierte, genießt als eine der wenigen Ausländerinnen auch in Tuva gewaltiges Ansehen.