laut.de-Biographie
Jim Sullivan
In den späten 1960er Jahren ist Jim Sullivan in Los Angeles kurz vor dem großen Karrieresprung. Mit seinen eingängigen Folk- und Countrysongs tritt der siebte Sohn eines Farmers aus Nebraska pausenlos in kalifornischen Clubs auf, seine Frau arbeitet bei der bekannten Plattenfirma Capitol Records und in seinem Freundes- und Bekanntenkreis tummeln sich einige Hollywood-Figuren wie Lee Marvin ("Das dreckige Dutzend", 1967), Lee Majors (aka Colt Seavers) und Farrah Fawcett ("Bezaubernde Jeannie"), die bei ihm zuhause ein- und ausgehen. L.A. ist darüberhinaus 1969 das Mekka der Rockmusik. Zeitgleich ergattert Sullivan sogar eine Nebenrolle im Hippie-Kultfilm "Easy Rider". Ein besseres Timing scheint also kaum möglich, um ein Debütalbum unters Volk zu bringen.
Gesagt getan: "U.F.O." erblickt das Licht der Welt, ein Album über UFOs, Highways und die Liebe. Jeder scheint es zu spüren, Jim Sullivan wird der nächste große Star. Und jeder will später dabei gewesen sein, um als Insider davon erzählen zu können. Doch es kommt anders. Der am 13. August 1940 geborene Musiker wird nicht der nächste große Star. Das in Kleinstauflage erscheinende Debüt "U.F.O." hinterlässt keinerlei Spuren in der Musikgeschichte. Es ist eine Schande. Sullivans Leben geht weiter, als wäre nichts geschehen. Als hätte er gerade nicht zehn herausragende Folk-Juwelen auf einem Debütalbum versammelt. Also spielt der Amerikaner weiterhin für ein wenig Gage und Freigetränke vor zehn bis hundert Leuten in sämtlichen Bars von Acapulco bis Big Sur.
Während etwa Gram Parsons aufgrund seiner Vergangenheit bei den Byrds schnell ein Label für sein neues Projekt The Flying Burrito Brothers findet, fehlt Sullivan 1970 dieser Schub. Auch seine Frau überzeugt ihre Kollegen bei Capitol nicht, ihrem Mann einen Vertrag zu geben. Dort erfährt sie, dass die Capitol-Geldkoffer bereits für das Debüt des musikalisch ähnlich aufgestellten US-Songwriters James Taylor geöffnet wurden.
Irgendwann kann Sullivans Freund und Schauspieler Al Dobbs das alles nicht mehr mitansehen und gründet das Label Monnie Records, nur um die Songs seines Freundes zu veröffentlichen. Dobbs organisiert Phil Spectors legendäre Session-Band The Wrecking Crew (Don Randi, Earl Palmer, Jimmy Bond), die schon bei Sinatra im Studio stand, aber vor allem auf den Platten der Beach Boys den legendären Westcoast-Sound prägte. Alles umsonst. 1970 erscheint das Album erneut, diesmal bei Century City Records und mit "Rosey" als Single-Veröffentlichung. Wieder interessiert es niemand. Noch ist Sullivan aber darob nicht sonderlich enttäuscht. Der ehemalige High School-Quarterback ist von Natur aus keiner, der sich gern in den Mittelpunkt stellt. Von daher schluckt er seine Enttäuschung hinunter und glaubt weiter an seinen Traum.
1972 erscheint Sullivans zweites, gleichnamiges Album, dem ebenfalls keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Misserfolg geht dem 32-Jährigen nun langsam an die Nieren. Allmählich reift in ihm die Einsicht, dass er so auf Dauer nicht seine Familie, zu der mittlerweile zwei kleine Kinder gehören, ernähren kann. Den wachsenden Druck kompensiert er mit Alkohol, wodurch wiederum Eheprobleme entstehen.
1975 beschließt Sullivan, Los Angeles den Rücken zu kehren. Er will einen Neuanfang in der Country- und Westernstadt Nashville wagen, wo seine Schwägerin Kathie Doran einen Fuß in der Tür des Musikgeschäfts hat. Wie Sullivans Frau Barbara später berichtet, war sein Plan, zunächst alleine sein Glück zu versuchen und die Familie später nachzuholen. Doch dazu kommt es nicht: 15 Stunden nach seiner Abreise halten Polizeibeamte seinen VW-Käfer auf dem Highway nahe Santa Rosa/New Mexico an, nachdem Sullivan Schlangenlinien fährt. Er steht zwar nicht unter Alkoholeinfluss, auf der Polizeiwache wird ihm jedoch geraten, sich im nahe gelegenen La Mesa Motel auszuruhen. Sullivan stimmt zu. Es ist das letzte Mal, das ihn ein Mensch gesehen hat.
Am nächsten Tag wird sein leerstehender Wagen 40 Kilometer stadtauswärts von Santa Rosa entfernt gefunden. Im Auto liegt sein Geldbeutel und ein paar Exemplare seines zweiten Albums, in seinem Hotelzimmer liegen Kleidung und seine 12-String-Gitarre auf dem unbenutzten Bett. Von Jim keine Spur. In der Folge reisen seine Frau sowie Verwandte und Freunde an, um der Polizei bei der Suche nach dem Musiker zu helfen. Die lokalen Zeitungen drucken Vermisstenanzeigen, doch Sullivan bleibt spurlos verschwunden.
Das geheimnisvolle Ende erhält noch eine zusätzliche Spur Mystik: Sein Manager Robert Ginter erzählt später, bei einer Unterhaltung über ein mögliches Lebensende hätte Sullivan ihm gegenüber den Wunsch geäußert, einfach in die Wüste zu laufen und zu verschwinden. Seine Frau sieht es ähnlich: "Als er plötzlich - poof - einfach weg war, dachte ich wirklich, dass er es geschafft hat. Sie sind gekommen, um ihn abzuholen. Das hätte ihm gut gefallen", so Barbara Sullivan in den Liner Notes der "U.F.O."-Platte.
Ein unbekannter Singer/Songwriter, der über UFOs sang und sich in New Mexico scheinbar in Luft aufgelöst hat: Den überregionalen Zeitungen, geschweige denn dem US-Musikbetrieb ist dieses Ereignis nicht einmal eine Fußnote wert. So dauert es geschlagene 34 Jahre, bis das Liebhaber- und Spezialistenlabel Light In The Attic die Fährte wieder aufnimmt. LITA-Chef Matt Sullivan, der übrigens nicht mit Jim verwandt ist, entdeckt dessen Debütalbum und ist sofort verliebt. Auf der Suche nach Mastertapes von damals trifft er Sullivans Frau und Sohn Chris (Tochter Jamie starb mit 15 Jahren an einem Asthma-Anfall), er telefoniert, mailt, faxt und spricht so viele Zeitzeugen, wie er auftreiben kann. Wie schon bei anderen Label-Veröffentlichungen von Rodriguez oder Lee Hazlewood erscheint die Platte auf LP und CD mit ausuferndem Booklet, Texten und raren Fotos. So ist "U.F.O." im Herbst 2010, 40 Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung, endlich für alle zugänglich und belegt die Gabe des kalifornischen Songwriters für mehrere nachgewachsene Generationen.
2019 stemmt Light In The Attic dann auch den Re-Release des zweiten Albums "Jim Sullivan", so dass wieder beide Studioalben des vergessenen Folk-Helden erhältlich sind. Doch es kommt noch besser: Irgendjemand fand irgendwo Tonaufnahmen aus dem Jahr 1969, auf denen sich Sullivan nur mit der Akustikgitarre begleitet. Darunter einige Songs von "U.F.O.", aber auch bis heute unveröffentlichte Lieder. "If The Evening Were Dawn" heißt diese überraschende Unplugged-Show, bei der Sullivan genau so viel Magie versprüht, wie auf den beiden Originalalben.
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