laut.de-Kritik

Ein Karussell der Emotionen.

Review von

"Little Oblivions" keift und kratzt und dreht sich um sich selbst, bis es sich erbricht. Julien Baker setzt auf ihrem dritten Album auf Kontrollverlust. Vorbei ist der spärliche Emo-Folk auf "Sprained Ankle", vorbei sind die klar ausformulierten Piano-Balladen auf "Turn Out The Lights". "Little Oblivions" ist unendlich komplexer, ein beinahe atemberaubendes Karussell widersprüchlicher Emotionen und wildester Soundlandschaften. Immer noch blitzt Bakers Gabe hervor, aus dem Morast ihres eigenen Leidens aufzusteigen, sich wie ein Geier in die Luft zu erheben, für eine Sekunde über der Welt zu schweben, auf dass sie wieder hinabstürzt, hungrig nach mehr.

Sie lässt sich in diesem Leid treiben, singt befreit von Hoffnung oder vom Verlangen nach Erlösung. Liebe ist ihr kein Ausweg aus ihrer Verzweiflung, mehr ein weiterer Grund: "There is no glory in love/ only the gore of our hearts" prangt auf dem Cover des Albums. Während sie diese Zeilen auf "Bloodshot" singt, steht die Welt um sie herum still. Das nervöse Schlagzeug und die hervorstechenden Gitarren hören auf damit, die Stille zu vertreiben. Stattdessen gehört aller Raum Baker und ihrem Klavier. Langsam, beinahe staatstragend, hallt jeder Akkord durch die verlassene Soundlandschaft. Baker fleht - und suhlt sich gleichzeitig in ihrem Leid.

Hier liegt der große Unterschied zur bisherigen Arbeit: Bisher schienen die wirklichen dunklen Tage in der Vergangenheit zu liegen, sie waren nur schmerzliche Erinnerung, gegen die Baker ansang. 2021 finden die schlimmsten Momente jedoch jetzt gerade statt. Der blutige Kampf im Closer "Ziptie" ist keine Erinnerung, er ist aktive Gegenwart. Hier und Jetzt. Vorbei sind die Gewissheiten der Vergangenheit, "Little Oblivions" präsentiert eine Künstlerin, die alte Wunden aufkratzt. Paradox ist daran nur, dass die Wunden dadurch heilen. Denn wann immer Baker sich majestätisch in ihre eigenen Songs verliert, erreichen sie und die Zuhörer*innen gemeinsamen einen kathartischen Moment der Schmerzlosigkeit.

Das sanfte "Repeat" schlägt kleine Haken auf dem Weg zu dieser Katharsis. Zu Beginn klingt das Klavier noch hoffnungsfroh, wie die Musik an einem sonnigen Wochenende in der Kindheit. Leichtfüßig umspielen sich Gitarre und Klavier, aller Ballast der Welt scheint ihnen fremd. Bis das Klavier aufhört und die Stimmung sich verdunkelt. Zirkulär bohrt sich das Schlagzeug in die Ohren, während der Drogentrip des Beginns endgültig zum Alptraum mutiert. "All my greatest fears turn out to be the gift of prophecy" schmettert wie ein Hammer nieder und nieder und nieder, bis der Song in sich zerfällt und nur noch einen schüchternen Ein-Frau-Chor zurücklässt.

Ein offensichtlicher Vergleich für Julien Baker ist everybody's darling Phoebe Bridgers. Nicht nur haben die beiden Sängerinnen gemeinsam mit der nicht minder großartigen Lucy Dacus die Band boygenius geformt, sie teilen auch dieselbe emotionale Schonungslosigkeit. Beide graben tief in ihren Herzen, um immer neue Schatten zu beleuchten. Doch wo Bridgers ihre große Referenz in Elliott Smith gefunden hat, zieht Baker ihre Musik aus ihrem unerschütterlichen Glauben an Gott. Er schwebt über ihrem Schaffen, mit ihm hadert sie, auf ihn besinnt sie sich zurück. Auf "Relative Fiction" verwebt sie christliche Symbolik mit ihrer Identität als Suchtkranke und daraus resultierenden Ängsten um ihre Mitmenschen. "I don't need a saviour/ I need you to take me home"

Anstelle einer allmächtigen, allgütigen Gestalt tritt ein stark asymmetrisches "you" als ständiger Bezugspunkt. Damit einhergehenden verliert Baker den Grund unter ihren Füßen, gefestigte Überzeugungen verschwimmen. "If I spend a weekend out on a bender/ Do I get callous or do I stay tender/ Which of these is worse, and which is better?", wundert sie sich laut in die Leere, "you" ist nur im gleichen Raum. Erst zum Schluss, wieder mit vollem Bandsound im Rücken, findet der Song seine Auflösung, ein berührender Moment der Zufrieden- und Zärtlichkeit. "I've got no business praying/ I'm finished being good/ Now I can finally be okay/ in not the way I thought I should" zeigt den Weg zu einer neuen Identität abseits alter Moralvorstellungen und heraus aus dem Dasein als "Martyr in another passion play"

Immer wieder geben sich Lieder dem Rausch des "Faith Healer" hin, ständig auf der Suche nach diesen winzigen Momente der Schwerelosigkeit. "Faith Healer, come put your hands on me/ Snake Oil Dealer, I'll believe you if you make me feel something" jauchzt Baker, bietet alles an: "Everything I love, I'd trade it into feel it rushing to my chest". Dazu hetzt die Gitarre das Lied voran und voran, nach jeder Sekunde der Ruhe stürzt sie unbarmherzig wieder hinab. Drums wirken wie Schläge auf die Nervenbahnen, während ein schiefer Synthesizer alle Bösartigkeit des "Faith Healer" verkörpert.

Die schwermütige Klavierballade "Crying Wolf" ertönt aus dieser Hölle des "Faith Healer". Insignien der Abstinenz wie der "day one chip" der Anonymen Alkoholiker gehen verloren, zusammen mit allem anderen. "Couldn't stand the thought of having everything to lose so I tied a knot". Ein Song der tiefsten Traurigkeit bis zur letzten Zeile, "in the evening I'll come back again." In der Zwillingsballade "Song In E" muss sich Baker hingegen mit den Auswirkungen der Selbstdestruktion auseinandersetzen. Wieder ist da dieses "you", das trotz aller Schmerzen bleibt. Nichts wünscht sich Baker in diesem Moment mehr, als dass "you" geht, sie anschreit, verstößt. "It's the mercy I can't take"

Nur zweimal verschmelzen "you" und "I" zu einem zärtlichen "we" während der gesamten 43 Minuten auf "Little Oblivions". Einmal kurz vor dem Alptraum in "Relative Fiction" und im Roadtriprock "Favor". Hier überkommt Baker wieder ein Wunsch nach Nähe, oder zumindest der Möglichkeit von Nähe, dem Abriss ihrer schützenden Mauern. "I always wanna tell the truth/ But it never seems like the right time". Da scheint es nur folgerichtig, dass sie den Song nicht alleine bestreiten muss. Lieber mischen sich ihre Boygenius-Kolleginnen dazu und stützen die gepeinigte Sängerin auf den letzten Metern des Songs.

Die leichtfüßige Country-Single "Heatwave" erinnert dezent an Bridgers "Graceland 2", übrigens auch mit Boygenius an den Backing Vocals, tauscht aber den hoffnungsfrohen Blick nach vorne gegen Zeilen der unmittelbaren Verzweiflung wie "Nothing to lose until everything's really gone". Dieser Fatalismus, der Flirt mit der kompletten Selbstdestruktion durchzieht auch den umwerfenden Opener "Hardline". "I can see where this is going but I can't find the brakes" schreit Baker aus sich heraus, ummantelt von düsteren Streichern und einem unbarmherzig klopfenden Schlagzeug, bis der gesamte Track kurzzeitig lärmend in sich zusammenbricht.

Zu jeder Sekunde weiß die Sängerin um die kommende Destruktion, kann sich ihr aber nicht entziehen. Denn im Moment fühlt es sich gut an, besser als alles andere. " It isn't like I do this on purpose, I just forget the second I've learned it/ Looking for Little Oblivions, I'd do anything knowing you would forgive me", singt sie auf "Bloodshot" und beschreibt damit das ganze Album. "Little Oblivions" handelt nicht von den Momenten der kurzen Schmerzlosigkeit. Es handelt von der alles zerstörenden Suche nach diesen Momenten und allem Leid, das diese Suche anrichtet. Doch gleichzeitig produziert Baker daraus selbst eigene Momente der "Oblivion", in denen die Musik alles unter sich begräbt und den Schmerz vertreibt.

Trackliste

  1. 1. Hardline
  2. 2. Heatwave
  3. 3. Faith Healer
  4. 4. Relative Fiction
  5. 5. Crying Wolf
  6. 6. Bloodshot
  7. 7. Ringside
  8. 8. Favor
  9. 9. Song In E
  10. 10. Repeat
  11. 11. Highlight Reel
  12. 12. Ziptie

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