1. Februar 2023

"In Italien kennt man Italo Disco nicht"

Interview geführt von

Das britische Synthie-Pop-Quartett Ladytron ist nach vier Jahren mit einem neuen Studioalbum zurück. Für unser Gespräch mit Songwriter Daniel Hunt haben wir uns allerdings ein spezielles Thema herausgesucht.

"Vamos A La Playa" - jeder kennt diesen Popsong der frühen 80er Jahre. Die dazugehörige Band Righeira ist dagegen weitgehend ein Insiderthema geblieben. Dass hinter dem spanischsprachigen Hit mit Stefano Rota und Stefano Righi zwei Italiener stecken, die sich Michael und Johnson Righeria nennen, ist nur eines der vielen geheimnisvollen Details rund um das Duo.

In den Nullerjahren erzählt mir Ladytron-Keyboarder und Songwriter Daniel Hunt von seinem Righeira-Fantum. Soeben ist das neue Ladytron-Album "Time's Arrow" erschienen und die Band steht für Interviews zur Verfügung. Ein idealer Anlass also, sich einmal ausschließlich über das Thema Italo Disco, Righeira und die rätselhafte Faszination für die beiden Schöpfer dieses legendären Urlaubssongs zu unterhalten. Die Plattenfirma der Band klopft bei Hunt an und der sagt recht zügig zu. Na, dann kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Daniel, ich trage die Idee dieses Interviews schon eine Weile mit mir herum. Als wir uns 2007 auf der Nine Inch Nails-Tournee trafen, die ihr mit Ladytron eröffnet habt, hast du mir von deiner Righeira-Leidenschaft erzählt. Das fand ich damals obskur, aber auch sehr interessant.

Daniel Hunt: Oh, das ist ja schon eine Weile her.

Wir kamen damals auf das Thema, weil ich dich gefragt hatte, von wem du dir zuletzt ein Autogramm geholt hättest. Deine Antwort war: Johnson Righeira. Und du hast noch erwähnt, dass deine Leidenschaft für die Band schon an eine Obsession grenzen würde.

Das ist richtig, ich war obsessiv unterwegs. Bin ich eigentlich immer noch. Johnson kam damals zu unserem Konzert in Turin und wir haben uns danach lange unterhalten. Später habe ich ihn dann zusammen mit Michael nochmal getroffen, als Devo in Bergamo in der Nähe des Atalanta-Stadions gespielt haben. Ich habe damals ja lange in Italien gelebt und fand es immer total lustig, dass meine italienischen Freunde keine Ahnung hatten, was Italo Disco sein sollte. Sie kennen es nicht. Dieser Terminus für italienische Popmusik aus den frühen 80er Jahren, das ganze Konzept, wurde im Ausland geprägt. Für meine Freunde war es einfach nur Popmusik. Sie fragten immer: Italo Disco, was soll das sein, wovon redest du?

Mittlerweile wird das besser verstanden, ich habe gerade erst eine sehr gute Dokumentation über die Ursprünge der Italo Disco gesehen. Über die Jahre wurde mir erst bewusst, wie viel von dieser Musik vom Produzenten-Duo Carmelo und Michelangelo La Bionda stammt, die auch mit Righeira gearbeitet haben. Nimm irgendeine Italo-Single in die Hand und dreh sie um: Es steht eigentlich immer La Bionda drauf. Für mich spielen sie auf einem Level mit Holland/Dozier/Holland, den Motown-Komponisten. Mir fällt kein anderes Prouzententeam mit ähnlich starkem kulturellen Einfluss ein. Es ist eine großartige Geschichte.

Lass uns nochmal auf dein erstes Treffen mit Johnson in Turin zurückkommen. Wie lief das ab?

Ich lebte damals in Mailand und hatte einige Freunde, die über verschiedene Ecken Leute von damals kannten, darunter Righeira. So habe ich übrigens auch Charisma kennengelernt, eine Band von damals, die über Kontakte ausrichten ließ, dass sie Ladytron mögen. Johnson hat mir dann den ganzen Abend alte Anekdoten erzählt. Zum Beispiel, dass sie selbst nach dem riesigen "Vamos A La Playa"-Erfolg immer noch kein Geld gesehen haben. So kam dann auch die Folgesingle zustande: "No tengo dinero" - "wir sind immer noch pleite". Es war ein autobiografisches Lied. Johnson machte den Eindruck, dass es ihm nach der Trennung der Band nicht wahnsinnig gut gegangen ist. Ich weiß nicht ob er seither ein Buch geschrieben hat, genug zu erzählen hätte er auf jeden Fall.

Pleite nach "Vamos A La Playa", diesem internationalen Hit? Das ist ja kaum vorstellbar. Außer die La Bionda-Brüder haben alles eingeheimst. Aber mit denen haben sie ja noch eine Weile weiter gearbeitet.

Darüber weiß ich nichts. Ich meine, er deutete schon an, dass viel Kohle beim Label und im Management versickert ist. Ich muss aber dazu sagen, dass ich zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht so firm mit ihrer Geschichte war. Daher klang es für mich nach dem Klassiker: Sie haben einen Scheiß-Deal unterschrieben und wurden abgezockt. Das hat ja eine lange Tradition und ist sogar schon den Rolling Stones passiert. Ich hoffe, sie bekommen heute die Tantiemen, die ihnen zustehen.

"Righeira spielten mit dem Format von Popmusik"

Warst du im Vorfeld nervös, wie man es vor Treffen mit eigenen Helden üblicherweise ist?

Nicht wirklich, denn ich komme ja aus Liverpool und wenn du dort in den Pub gehst, kann es schon mal sein, dass plötzlich zwei Meter weiter Ian McCulloch von Echo & The Bunnymen sitzt. Ich bin es also gewohnt, Idole meiner Jugend zu treffen.

Mögen Righeira die Musik von Ladytron?

Gute Frage, er hat das Thema nicht angeschnitten. Aber wir sind danach eine Zeit lang lose in Kontakt geblieben, bis es dann auch abgebrochen ist. Du sagtest es ja schon, wir reden hier über eine Begegnung vor 15 Jahren. Ich bin 2010 aus Italien weggezogen und seither sind wir mit Ladytron auch nicht mehr dort aufgetreten.

Du meintest damals, Righeira seien für dich so etwas wie die italienischen Devo. Das hat mich extrem neugierig gemacht und ich fing selbst ein bisschen mit dem Forschen an. Ich finde, dass dieser Vergleich in vielerlei Hinsicht Sinn ergibt: Viele Ideen in Righeira gehen ja auch auf ihren künstlerischen Werdegang als Grafiker zurück.

Ja, es passt irgendwie, obwohl Devo natürlich ein viel langlebigeres Band-Projekt darstellt. Righeira war einfach eine extrem gerissene Idee für ein postmodernes Konzept, das mit dem Format von Popmusik spielte. Ein Format, das in der Italo Disco aufging. Nimm allein den Nihilismus des Songs "Vamos A La Playa": Righeira schufen eine künstlerische Plattform und tobten sich darauf aus wie Situationisten. Das hat mich fasziniert.

Lass uns über das fantastische Debütalbum "Righeira" sprechen, das 1983 erschienen ist und auf dem sowohl "Vamos A La Playa" als auch "No Tengo Dinero" drauf sind. Italo-Disco-Songs handelten generell von Liebe und Sex, und plötzlich singen Righeira von einer Nuklearkatastrophe und verbinden dies mit einem Strandtag. Wo hast du den Song zuerst gehört?

Ich habe nur eine unscharfe Erinnerung. Ich war damals etwa acht Jahre alt und bin mit meinen Eltern in Italien im Urlaub gewesen. Damals kam ich mit diesem Sound zum ersten Mal in Berührung. In Großbritannien gibt es diese Tradition, dass man ungefähr Ende August Sommerhits für die Urlauber verfügbar macht, die aus Italien, Spanien oder Portugal zurückkommen. Jedes Jahr wurde einer dieser ausländischen Songs bei uns ein Hit. "Vamos A La Playa" allerdings nicht so sehr, der war eher auf dem Kontinent groß. Darum hatte ich ihn auch jahrelang nicht mehr auf dem Schirm. Irgendwann aber zirkulierte er mal wieder auf Social Media, genauer gesagt auf Myspace. Die mexikanische Boyband Menudo hatte ihn damals gecovert.

Überhaupt kannst du in Amerika in jeden Staat gehen und du wirst immer auf eine eigene Version von einer Gruppe aus den 80ern stoßen. Es gibt einfach massenhaft Coverversionen von diesem Stück. Selbst Brasilien, wo ich seit zehn Jahren lebe, hat sein eigenes Cover, Argentinien auch. Doch jetzt kommt's: Alle denken, ihr Song sei das Original. Niemand kennt die ursprüngliche Version von Righeira. Es ist unglaublich. Als wir in Mexiko und Kolumbien auf Tournee waren, haben wir den "Vamos A La Playa"-Refrain mal spaßeshalber in einen Song eingebaut, das kam extrem gut an. Das müsste zum Zeitpunkt unseres Interviews gewesen sein, für "Witching Hour" waren wir sicher zwei Jahre lang unterwegs.

"Dieser flüchtige Erfolg ist schon sehr speziell"

Ich finde es spannend, dass Stefano Rota und Stefano Righi im engeren Wortsinn keine Musiker, sondern mehr am Konzept einer Popband interessiert waren. Deshalb nannten sie sich ja auch von Anfang an Michael und Johnson Righeira. Oder das Albumcover: Sie stehen in einer Kunstgalerie, doch nur Johnson ist von vorne zu sehen, Michael betrachtet ein Gemälde.

Das sind tolle Details, die es lohnt, näher zu betrachten. Sie sind ein echtes Rätsel.

Du hast vorhin die neue Dokumentation über Italo-Disco von Alessandro Melazzini angesprochen, in der Protagonisten zu Wort kommen, darunter Sabrina, die La Biondas und eben Johnson. Darin erzählt er, dass Righeira nichts mit dem "No Future"-Konzept des Punk anfangen konnten. Sie sahen sich vielmehr als Futuristen. Im "Vamos A La Playa"-Video sieht man sie ja auch in mikrofonierte Armbanduhren singen. Diese Idee geht zurück bis in die 1940er Jahre, als die "Dick Tracy"-Comics erschienen sind.

Ja, das Video versprüht auch diesen Nuklearkitsch der 50er Jahre, der mich ein wenig an die B-52's erinnert.

Zurück zu ihrem Debütalbum: Die Platte ruht sich an keiner Stelle auf den beiden Hitsingles aus. Mit "Jazz Musik" und "Tanzen mit Righeira" sind sogar gleich zwei tolle, deutschsprachige Songs auf der Platte, letzteres beinhaltet auch ein paar Brocken Französisch. Was sind deine Favoriten?

Oh yes! Lass mich kurz auf Discogs gehen. Ah ja, "Disco Volante" ist natürlich toll. Und der Opener "Tanzen mit Righeira", klar.

Der abschließende Song "Kontiki" ist in seiner traurigen Hymnenhaftigkeit beinahe schon die Blaupause für spätere Pet Shop Boys-Balladen.

Da sind auf alle Fälle Sachen drauf, die einflussreicher waren, als man angesichts der internationalen Verkaufszahlen des Albums denken würde. Es ist aber leider oft so: Am Ende müssen die tollen Ideen von den Bands aus England oder Amerika gekommen sein. Völlig egal, wer etwas wirklich erfunden hat: Es war ganz bestimmt die Band aus London oder New York. Ich darf das so frei und offen sagen, denn ich komme aus Liverpool.

Ich muss jetzt nochmal tief in den Nerd-Talk einsteigen, aber wofür ist man Vinyl-Fan. Zum Mastering und für den Feinschliff sind Righeira und die La Biondas von Mailand noch nach München gegangen. In den Album-Credits steht außerdem, dass "Jazz Musik" der einzige Song ist, der nicht von den La Biondas stammt. Als Komponist wird Hermann Weindorf ausgewiesen. Das Studio gehört seinem Bruder Berthold.

Interessant, den Namen kannte ich nicht. Also er hat "Jazz Musik" produziert?

Nein, produziert hat Berthold Weindorf, es war sein Studio, aber Text und Musik stammen von dessen Bruder Hermann, ein deutscher Komponist. Der deutsche Jazzdrummer Curt Cress ist scheinbar auch auf einem Song vertreten, in den Credits allerdings mehr oder weniger inkognito als Kurt Crass.

Curt Cress ... ja, ich sehe es gerade. Ach, der spielte auch auf Freddie Mercurys Soloalbum. Oder sagen wir: auf seinem etwas verunglückten Soloalbum. Und auf "Forever Young" von Alphaville. Sogar bei Milli Vanilli.

Und nicht zu vergessen: Bei den Scorpions.

Tatsächlich.

Die Verbindung zu Freddie Mercury kommt über die Studios in München, wo Cress offenbar gut vernetzt war.

Stimmt, das sind ja die Sessions, die man im Film "Bohemian Rhapsody" sieht.

Die Musik auf "Righeira" ist geprägt vom damals unglaublich hippen, digitalen Fairlight CMI Sampler. Wie würdest du den Sound charakterisieren?

Ich finde es spannend, wie viele subtile Akzente man mit ihm setzen konnte. Man hört immer wieder kleine Details, Fills und solche Sachen, nicht nur die großen Synth-Bläserarrangements.

Die Wege von Righeira und den La Bionda-Brüdern sollten sich Mitte der 80er Jahre trennen, in ihren Mailänder Logic Studios nahmen allerdings in den Folgejahren zahlreiche prominente Musiker*innen auf. 1989 etwa Depeche Mode für ihr Album "Violator".

Ja, ich überlege gerade, ob ich selbst schon dort war, oder das Studio gerade verwechsle. Mein Freund Morgan von der Band Bluvertigo hat mich jedenfalls mal in ein Studio dort mitgenommen, ich kriege es jetzt aber nicht mehr zusammen.

Neil Tennant hat einmal erzählt, dass er "Vamos A La Playa" immer sofort auf den Lippen hat, wenn er die Grenze nach Spanien passiert.

Neil Tennant hat das gesagt? Da hast du ja die Connection! Oh no, ich sehe gerade, dass Carmelo La Bionda letztes Jahr gestorben ist.

Ja, infolgedessen hat sich auch Johnson auf Facebook geäußert mit einem sehr rührenden Statement.

Ich war im November viel unterwegs und das ist komplett an mir vorbeigegangen. Wie traurig.

Hast du die Brüder einmal getroffen?

Nein, höchstens unbewusst beim Schlendern durch Mailand. Ich habe leider auch Righeira nie live gesehen, da ich zum Zeitpunkt ihrer Reunion aus Italien weggezogen bin.

Teilen deine Ladytron-Kolleg*innen eigentlich die Liebe zu Righeira?

(lacht) Ich würde sagen, sie tolerieren es.

Johnson ist auf Social Media ja sehr aktiv. Michael hat sich jedoch komplett zurückgezogen. Wie war das bei eurem Treffen?

Genau so war auch mein Eindruck. Johnson hat pausenlos geredet, Michael ist vom Typ her schon sehr ruhig.

Alles klar. Darf ich dich zum Schluss noch um eine Anekdote bitten, die du mit der Band verbindest oder die vielleicht auch deine Faszination mit diesem kurzen Pop-Phänomen erklärt?

Es ist schon sehr speziell wie flüchtig der Erfolg war. Sie hatten nach "Vamos A La Playa" nur noch zwei weitere Hits, "No Tengo Dinero" und "L'estate sta finendo". Dazu gibt es eine tolle Geschichte: "L'estate sta finendo" heißt übersetzt "Der Sommer ist vorbei" und wurde später eine Fan-Hymne des FC Liverpool. Die haben es sich aber nicht bei Righeira abgeschaut, sondern holten sich die Idee von Fußball-Fans in Porto, die die Melodie ihrerseits von Italienern borgten, wo es aus Solidarität mit den Opfern des L'Aquila-Erdbebens gesungen wurde.

Ich habe mich dann gefragt, ob Righeria davon wohl irgendeinen Schimmer haben. Zum Glück hat sich ein Sportjournalist des Guardian dann auf Spurensuche begeben und die Band auch getroffen, um über den unerwarteten Erfolg dieses Songs zu sprechen. Solche Zufälle passen zu Righeria, es ist einfach eine sehr ungewöhnliche Band.

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7 Kommentare mit 3 Antworten

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  • Vor einem Jahr

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    Tolles, besonderes Interview! Aber ich frag' mich, ob Hunt nicht doch noch über andere Themen sprechen wollte, also seine Band, das neue Album und selbst solche Sachen wie „wie sie die Coronazeit als Band verbracht haben vor dem neuen Album“ oder Anekdoten, die von ihm kommen, statt dem Interviewer. Also es war schon ein Interview mit dem Interviewer sehr im Fokus.
    Aber wenn es für Hunt OK und interessant war, nach 16 Jahren (!) auf diesen wirklich speziellen Moment in einem Interview mit einem deutschen online-Musikportal, an das er sich scheinbar vielleicht gar nicht mehr erinnert (das Interview/seine Aussage macht es unklar) und das Interesse an der Band so echt ist, dass man hier wirklich in „nerd talk“ gekommen ist und er das nicht auch (mehr) für den Interviewer gemacht hat, weil er gesehen hat, wie sehr diesen dieses Thema (das Hunt ja selbst auch in welchem Ausmaß auch immer interessiert, ich meine man sieht es ja wie sehr Hunt da hinterher war, das will ich überhaupt nicht anzweifeln) interessiert, dann ist es ein hervorragendes und unkonventionelles Interview und eine krasse Leistung des Interviewers nach 16 Jahren (!) an die Geschichte nochmal anzuknüpfen — trotz des Anlasses, dass die Band ein neues Album herausbringt!
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