laut.de-Kritik
10-CD-Enzyklopädie aus Liebe, Soul und Groove.
Review von Michael SchuhZum 50. Jahrestag des Plattenlabels Motown präsentierte Universal kürzlich eine Online-Abstimmung, bei der man seine drei Lieblingssongs aus einer Liste mit 50 Evergreens auswählen sollte. Marvin Gaye, The Supremes, Michael Jackson, The Temptations; die Liste war beileibe aussagekräftig bestückt.
Umso irritierender, als man nach genauerer Inspizierung plötzlich feststellte: Da fehlen ja immer noch Klassiker. 50 Songs sind nicht genug. Mal ehrlich: Welches Label auf der Welt könnte so etwas von sich behaupten?
Es mag Menschen geben, die auch auf der Tracklist von "Motown: The Complete No.1's" den ein oder anderen Song vermissen, obwohl es sich hier um ein 10-CD-Boxset mit 191 Songs handelt.
Unglaubliche 181 davon platzierten sich auf Platz eins der Charts in mindestens einem von 16 ausgewählten Ländern. Die ergänzenden zehn Bonustracks wiederum schafften dies "nur" in Form von späteren Coverversionen.
Motown-Legende Smokey Robinson bringt es im Booklet auf den Punkt: "This is why Motown is what it is. Look at this list: Number 1's back to back to back to back. We bombarded the world with hit records."
Aus gegebenem Anlass glänzt diese gigantische Enzyklopädie aus Liebe, Soul und Groove nun in einer äußerst schmucken Nachbildung der legendären Detroiter "Hitsville USA"-Studios (mit abnehmbaren Dach). Im Inneren befinden sich dann die Hits, also ganz so wie 1959 im echten Gebäude, das der visionäre Labelboss Berry Gordy mit seinen am Fließband hart erarbeiteten 800 Dollar kaufte.
Die 191 Klassiker sind verteilt auf fünf CD-Sets mit jeweils zwei Tonträgern, ergänzt durch ein fotoreiches Booklet (eigentlich eher Book!), das wenig Wünsche offen lässt. Überraschend zeitgemäß die Supremes'schen Bobfrisuren der 60er, nach wie vor unglaublich die Taucheranzüge, mit denen die Herren der Schöpfung im Folgejahrzehnt vor die Haustüre traten.
Wie sehr das Label bis heute für seine Anfänge berühmt ist, legen die ersten beiden CDs dar: Ob The Miracles, Stevie Wonder, Marvin Gaye oder die Supremes; sie alle zelebrieren leichtfüßigen, Handclap-versetzten Soul-Pop im Vierviertel-Takt, den die Jugend der 60er in sich aufsog, um hernach voller Inbrunst gesellschaftliche Rassenschranken nieder zu reißen.
Gleich die erste Nummer eins für das Label stürmt voll juveniler Energie nach vorne, "Shop Around" von den Miracles (feat. Smokey Robinson), denen nur zwei Jahre später mit "You've Really Got A Hold On Me" der erste Klassiker für die Ewigkeit aus der Feder floss.
Dass man in Gordys Hitsville Studios vor allem zu Beginn auch die Außenwelt wahrnahm, belegt "Do You Love Me" von den Contours (1962), das den R'n'R-Geist manch früher Sun Records-Acts atmet.
Kaum bekannt dürfte den meisten "Fingertips Part 2" eines damals noch als Little Stevie Wonder firmierenden 12-Jährigen (!) sein, der von den Motown-Verantwortlichen seinerzeit noch auf einen krakeelenden Ray Charles getrimmt wurde, bevor er als einer der vielseitigsten Künstler der Musikgeschichte der Plattenfirma nachhaltig seinen Stempel aufdrückte.
Allein zehn Nummer eins-Songs lieferten die Supremes in jener Ära ab, bevor Diana Ross zum Star des Damen-Ensembles auserkoren und ihr Name vor den der Gruppe gesetzt wurde.
Wie unterschätzt demgegenüber eine Gruppe wie Martha & The Vandellas bis heute ist, zeigt allein die Box-Integration des Songs "Dancing In The Street", da dieser erst zwanzig Jahre später in der Version von Bowie und Jagger in zahlreichen Ländern Nummer eins wurde.
Förmlich jeder einzelne Song auf diesen ersten CDs lässt das vor kreativem Tatendrang strotzende Selbstbewusstsein der Interpreten neu aufleben und den Zuhörer erahnen, welch grenzenlosen Sehnsüchten die Musiker damals gerecht werden mussten - und dies sensationellerweise auch schafften.
Die CDs drei und vier decken die turbulenten Jahre 1969 bis 1973 ab, in denen der bahnbrechende Anfangserfolg des Labels mit dem einher gehenden Reichtum verwaltet werden musste.
Hier kam Berry Gordy zugute, dass er sowohl Jahrhundertkünstler wie Stevie Wonder, Marvin Gaye oder die frische Solokünstlerin Diana Ross im Programm hatte, als auch bei Neuverpflichtungen ein goldenes Händchen bewies.
Allen voran sind hier die Jackson 5 zu nennen, die gleich zu Anfang des Jahres 1970 mit "I Want You Back" zuerst die R'n'B-Charts und anschließend auch die Pop-Charts anführten.
Nur zwei Jahre später wurde dann der kleine Michael an den Bühnenrand geschoben. Seine Beiträge "Ben" oder "Got To Be There" lassen jedoch in keinster Weise das Feuer erahnen, mit dem der Kinderstar sieben Jahre später auf "Off The Wall" die globale Disco-Kultur entzündete.
Die einstmals braven Temptations entdeckten mit Norman Whitfield 1969 das Wah Wah-Pedal; "Run Away Child, Running Wild" fungiert daher als Paradebeispiel für den Umschwung der Popbude Motown zum ungezügelten Funk- und teilweise auch Rock-Stall.
Rare Earth etwa, deren frühes "Get Ready" ebenfalls gelistet ist, entwickelten sich erst mit ihrem zweiten Album "Ma" zu einer groove-konzentrierten Rockgruppe, die kein Mensch auf Motown vermutet hätte.
Stevie Wonder, der übrigens auch Smokey Robinsons "Tears Of A Clown"-Hit mitkomponierte, geht in jener Phase mit seinem überbordenden Talent geradezu freigiebig um: "Yester-Me, Yester-You, Yesterday", "Signed Sealed Delivered I'm Yours" oder die Hymne "Heaven Help Us All" zählen bis heute zu unsterblichen Klassikern des Soul-Genres.
Wonders vielleicht größter Moment leitet die fünfte CD ein: "Higher Ground", das selbst für seine Verhältnisse berstende Funk-Manifest vom Kultalbum "Innervisions" (1973). Nicht nur die Red Hot Chili Peppers, die die Nummer in den 80ern um ein paar beats per minute hochtunten, schwören auf diesen Groove.
Auch der von den Temptations fortgezogene Eddie Kendricks lässt mit einigen Solonummern weiter Gordys Kassen klingeln, bevor sich die Commodores Ende der 70er Jahre zu den Zugpferden der Herzschmerz-Balladenschiene entwickeln. Songs wie "Slippery When Wet" verdeutlichen dagegen, dass auch Lionel Richies Jungs als beinharte Funker starteten.
Dass Motown im Gegensatz zum einstigen Rivalen Stax Records aus Memphis (Otis Redding, Isaac Hayes) nicht bereits Mitte der 70er Konkurs anmelden musste, lag nicht allein an der weitaus vernünftigeren Veröffentlichungspolitik.
Gordys Künstler hatten stets den Zeitgeist im Blick und versorgten den Pophörer ab Mitte der 70er verstärkt mit astreinem Stehblues, bevor man um 1979 auf die Diskoschiene umschwang (Jermaine Jackson, Diana Ross"I'm Coming Up").
Musikalisch geraten die letzten CDs der Box (80er/90er) leider weniger spannend, da vor allem Lionel Richie nun solo auf die Schmalztube drückte, dass einem die Haare zu Berge stehen ("Say You, Say Me"). Kaum besser anzuhören ist die qualitative Talfahrt des Stevie Wonder zu einem Hitlieferanten fürs Formatradio ("I Just Called To Say I Love You", "Part-Time Lover").
In den 90ern fand Motown dann in Boyz II Men neue Heilsbringer, von denen allein sieben Nummer eins-Hits zu Buche stehen. Erykah Badus "Bag Lady" (2000) sorgt schließlich für ein versöhnliches Ende.
Wie sehr Motown die Popkultur beeinflusste, kann seither an Coverversionen der unterschiedlichsten Bands nachgeprüft werden. Ob die Beatles ("Please Mr. Postman", The Marvelettes), Soft Cell ("Where Did Our Love Go", The Supremes), Kim Wilde ("You Keep Me Hanging On", The Supremes), Prince Buster ("My Girl", The Temptations), Phil Collins ("You Can't Hurry Love", The Supremes), Coolio ("Pastime Paradise", Stevie Wonder) oder, seufz, Rick Astley ("Ain't Too Proud To Beg", The Temptations) - Motown traf sämtliche Menschen mitten ins Herz.
9 Kommentare mit 2 Antworten
Willenlos
Entschuldigung, aber ist das jetzt mal wirklich geil? Nur der Preis von (noch) 69,95 ist noch ein bisschen fett, aber insgesamt: Wow!
@bmwtop12 (« Entschuldigung, aber ist das jetzt mal wirklich geil? Nur der Preis von (noch) 69,95 ist noch ein bisschen fett, aber insgesamt: Wow! »):
Na komm, also - 10 randvolle CDs mit Originalversionen!, was ja leider auch nicht immer selbstverständlich ist, dazu noch ein ansprechendes Design zum Rumprotzen ... geht doch in Ordnung?
Gruß
Skywise
naja... viele der songs kenne/habe ich schon und viele songs sind balladen... teils sehr schnulzige balladen...
mich hätte eher interessiert wie gut die klangqualität der besonders alten songs ist, viel zu oft bringt das remastern enttäuschend wenig.
Es ist meins! Es läuft und läuft! Geile Sammlung!
meine lauscher werden just mal wieder von rare earth's ma betört - stöbere mal bei laut - und finde - nada den einzigen mitschnitt bei var. artists - hää?? rare earth, exquisite band der frühen 70-ern, soul, blues der extraklasse mit einem psychedelic touch - die weissen schwarzen bei motown - und laut kennt se nicht?
immerhin der link zu 'get ready' mit dem genius drummer/vocalist pete rivera in der long version
https://www.youtube.com/watch?v=IyAwY2Q96Ps
interessiert sich wohl eh keine s. - aber mir gefällts gerade auditiv schweinemässig
"Get Ready" ist ein hammermäßiges Album. Aber sich darüber wundern, dass laut manche Künstler nicht führt, habe ich aufgegeben.