laut.de-Biographie
Marvin Gaye
Sexual healing. Das kriegen Marvin Gaye-Songs durchaus hin - sie überziehen einen mit Schokoladenglasur der exquisitesten Sorte. Der Mann der noch ein "e" hinter seinen echten Namen gepackt hat, damit auch niemand auf falsche Gedanken kommt, war wohl der erfolgreichste Star aus dem Hause Motown. Noch heute hat er einen schwer in Worten ausdrückbaren Wert für Myriaden von R'n'B und Soulsängern.
Marvin Pentz Gay Junior kommt 1939 in Washington D.C. als Sohn eines apostolischen Pfarrers auf die Welt. Seine Kindheit ist nicht gerade rosig, handelt es sich bei seinem Vater doch um einen zutiefst religiösen und jähzornigen Menschen, der nicht selten handgreiflich gegenüber seinen Kindern wurde.
Schon mit drei Jahren beginnt Marvin in Vaters Kirche den Sangeskünsten zu frönen - in den folgenden Jahren macht er sich auch auf Tasten und Schlagzeug fit. Nachdem sich zum Militär zu gehen, als eine Schnapsidee heraus stellt, hält er sich mit einer fünfköpfigen Doo-Wop-Gruppe, den "Moonglows" über Wasser. Diese exisiert allerdings nicht lange, und Marvin zieht schließlich nach Detroit und knüpft Kontakte mit dem gerade mal einem Jahr alten Motown.
Für das angehende Monstersoul-Label arbeitet er als Schlagzeuger für Smokey Robinson und den spundjungen Stevie Wonder - auch als Songschreiber ist er zunm Beispiel an Martha Vandellas Hit "Dancing In The Streets" beteiligt. 1961 bekommt er den ersehnten Vertrag als Solokünstler. Ins Geschehen hüpft er ein Jahr später mit seinem ersten Hit "Stubborn Kind Of Fellow", der mit einem der wundervollsten Texte der Menschheit aufwarten kann: "Say yeah, yeah, yeah ... say yeah yeah yeah...".
Die Single setzt Maßstäbe für den Stil, den Marvin in den folgenden drei Jahren verfolgt, die folgenden Hits wie "Pride and Joy" und "Ain't That Peculiar" sorgen dafür, dass er schnell zum erfolgreichsten Zugpferd von Motown wird. Seine Alben verkaufen sich prächtig, das Image eines Womanizers beginnt sich ihm anzuhaften. Marvins Plattenfirma intensiviert dieses Bild noch, indem sie eine neue Periode von Gayes Schaffen einläutet: Die Phase der schmelzigen Soulduette, in der Marvin zusammen mit den erfolgreichsten 'Zugstuten' von Motown massenhaft allerliebste, zuckersüße Liebeshymnen-Tophits à la "You're All I Need To Get By" verbucht. Die wohl Innigste dieser musikalischen Partnerschaften ist die mit Tammi Terrell, der nicht nur dieser Song von 1968 entspringt.
Marvin Gaye entwickelt sich Ende der Sechziger stetig weiter. Gegenüber seinen, im Vergleich eher niedlichen ersten Hits, hat er mittlerweile die Kurve zu fett instrumentiertem, ausgetüftelterem Soul genommen. Die für ihn typische Art und Weise, wie er gleich mehrere, sich in Bravour umeinander schlängelnde Gesangsspuren benutzt, ist abartig sophisticated. Ist ... ist ... geil!
1971 wirft Marvin, der inzwischen eine weit größere Herrschaft über seine Produktionen errungen hat, ein Album auf den Markt, das als das erste Konzeptalbum Motowns gilt. Gaye befasst sich auf "What's Going On" mit dem Krieg in Vietnam, Umweltverschmutzung, Rassismus und Armut. Die Platte trifft den Geist der Zeit genau un dverkauft sich auch bestens. Um so erstaunlicher ist der Wechsel zum 1973 erscheinenden "Let's Get It On". Er verblüfft sein Publikum durch einen schockig-schnellen Wechsel vom sozialkritischen Protestredner zum - von schlichtweg purem Sex singenden – Mr. Loverman.
Zwischen den beiden Alben 1972, erschien lediglich der Song "You're The Man", in dem er US-Präsidenten an ihren Versprechen im Wahlkampf misst ("Demagogues and admitted minority haters should never be President"). Als Nixon im Herbst '72 wiedergewählt wurde, soll Gaye die Arbeiten am Album frustriert abgebrochen haben. Die bis dahin erfolgten Aufnahmen erscheinen erst 2019 unter dem gleichen Titel wie die Single: "You're The Man".
Im krassen Gegensatz zu seinem Erfolg steht Marvins Seelenleben. Tammy Terrell kollabiert auf der Bühne in seinen Armen und stirbt mit 24 an einem Hirntumor – für Marvin ein schwer zu verkraftender Schlag. Außerdem zieht sich nach wie vor ein zermürbender Kampf gegen sein Gewissen und seinen Vater durch sein Leben. Zwischen Marvins oft tabulosen Texten und der auferlegten Frömmigkeit seiner Eltern herrschen drastische Diskrepanzen. Marvin ist schwer kokainabhängig und tritt kaum noch öffentlich auf. Auch seine beiden Ehen scheiterten.
Auf dem Album "Here, My Dear" von 1978, in dem seine abartig perfektionistische Studioarbeit zutage tritt, rechnet er mit seiner 2. Frau ab – verarbeitet auf geniale aber verdammt verbitterte Weise seine Ehe. Das Ausnahme-Album wird zunächst nicht sonderlich beachtet - wie so oft wird die Genialität von Platten, die ihrer Zeit voraus sind, erst später festgestellt. Bei "Here, My Dear" dann allerdings richtig.
Marvin verbringt die nächsten Jahre in Europa, in der Hoffnung seine mittlerweile völlig instabile psychische Verfassung zu retten. Aufgrund einer Veröffentlichung Motowns, die ohne Marvins Einverständnis erfolgt, wechselt er wütend zu Columbia, wo ihm mit "Sexual Healing" noch einmal ein furioses Comeback gelingt.
Doch sein Zustand verbessert sich nicht mehr, er leidet an schweren Depressionen, spielt mit Selbstmordgedanken und bekommt seine Sucht nicht mehr in den Griff. Das Ende ist traurig. Marvin Gaye, der vielleicht genialste, einflussreichste und sahneschnittigste Soulsänger seiner Zeit, stirbt im Alter von 45 Jahren. In einem eskalierenden Streit wird er am 1. April 1984 von seinem Vater angeblich aus Notwehr erschossen.
Tragische Tode lenken manchmal von dem grandiosen Lebenswerk eines Künstlers ab, doch sicherlich nicht bei Marvin Gaye - dafür sorgt allem voran seine engelsgleiche und gleichzeitig unmöglich laszive Stimme. Und es ist leider kaum verwunderlich, dass die phantastischen, innovativen Studio-Tüfteleien des Perfektionisten Gaye übersehen werden. Ed Townsend, der Komponist einer der wohl berühmtesten Hymnen ("Let's Get It On"), hat doch irgendwie recht, wenn er von Marvin sagt: "Marvin could sing a Lord's Prayer – and it would have sexual overtones."
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