laut.de-Kritik
Keine Spur von Altersmilde.
Review von Stefan MertlikMuff Potter zeigen keine Spur von Altersmilde. Auf ihrem Quasi-Comeback-Album "Bei Aller Liebe" giftet Sänger Thorsten Nagelschmidt gegen Ist-Zustände und Konformität. Als Inspiration scheinen weniger die Punkbands von damals und mehr die eigenen Romane gedient zu haben.
"Sie hat sich vor Wochen von ihrem Typen getrennt / Der Typ zieht nicht aus, er findet nichts Neues", heißt es in "Killer". Der 46-Jährige hat so literarisch wie noch nie im Musikkontext geschrieben. Ohne klassische Strophe-Refrain-Struktur reiht Nagel in diesem Eröffnungsstück kurze Geschichten aneinander. Mal beobachtet er, mal kommentiert er. Die Stimme klingt rau und aggressiv.
Nagels Organ scheint nach wie vor gemacht fürs Schreien von Parolen, doch zum Mitgrölen eignen sich die zehn Songs nicht mehr ganz so oft. Stattdessen verlangen die Texte Aufmerksamkeit ab. Im fast achtminütigen "Ein gestohlener Tag" setzt Nagel auf Spoken-Word-Passagen: "Deine Zigarette baut Paläste unter die Decke / Die Zeiger drehen schüchtern ihre Runden." Im ausgedehnten Outro des Stücks leistet Felix Gebhard ganze Arbeit. Es wird geschreddert wie in der Metal-AG.
Überhaupt lenken Nagels mitunter komplexe Texte immer wieder davon ab, wie anspruchsvoll auch die Musik klingt. Von polternd bis filigran – Thorsten Brameier spielt das Schlagzeug abwechslungsreicher denn je. Und Dominic Laurenz schafft am Bass die Grundlage für Nagels Popharmonien. Dass das Quartett die Stücke live eingespielt hat, trägt zur Wucht bei, die die Stücke innehaben.
"Wir wollen die Schönheit, wir wollen sie trinken / wir wollen die Wahrheit, um sie zu schminken", heißt es in "Flitter & Tand" und könnte in Inhalt und Vortrag so auch von Thees Uhlmann stammen. Was hier vermutlich ungewollt war, findet in den restlichen Stücken auf "Bei aller Liebe" ständig statt: Hommagen und Zitate. Fugazi, Franco Battiato, NDW-Sänger Markus, Blumfeld, Hendrik Otremba, Barack Obama oder Timothy Leary – kaum ein Stück verzichtet auf Verneigungen und Erinnerungen.
Nagel bezeichnet das Album als "Angry Pop Music". Und tatsächlich steht das Anprangern und Verteufeln von Dingen, Zuständen und Menschen im Mittelpunkt. "Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg", heißt es in "Nottbeck City Limits". Nagel behandelt darin den Tönnies' Fleischskandal. In "Wie Kamelle raus" gällt er gegen die oberflächliche Leistungsgesellschaft: "Kennst von allem den Preis, aber von nichts den Wert." Vielleicht ist Nagel nur noch ein weiteres Album davon entfernt, sich in Dauernörgler Meise aus seinem eigenen Roman "Was Kostet Die Welt" zu verwandeln.
Muff Potter haben sich 13 Jahre Zeit gelassen für ihr neuntes Studioalbum. Sie mögen älter geworden sein, doch die Wut im Bauch ist geblieben. Nach fünf Büchern kann Nagel diese noch besser beschreiben. Doch auch die Musik durchlief einen Reifeprozess, der aus dem zuweilen rumpeligen Punk von früher eine Indie-Band mit noch mehr Anspruch gemacht hat. Dieses Quasi-Comeback bietet mehr als das Aufwärmen alter Gefühle.
7 Kommentare mit 6 Antworten
Der "Sänger" ist natürlich gefundenes Fressen für Ragi.
Neben Peter von den Sportfreunden Stiller der Sänger mit der größten Range überhaupt. Da kann eventuell vielleicht noch Mike Patton mithalten.
Gerade noch so! Sowas hab ich in all den Jahren noch nie gehört aus all den Proberäumen nebenan.
Im ausgedehnten Outro des Stücks leistet Dennis Schneider, der Felix Gebhard ersetzt hat, ganze Arbeit.
... anders herum ist es richtig. Dennis wurde durch Felix ersetzt.
Danke für den Hinweis, habs geändert
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Ach, der hat nach diesem Maden Buch noch mehr geschrieben?
Ja, mehrere Romane. Ich empfehle die Lektüre von "Arbeit".
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Die erste Singleauskopplung „ich will nicht mehr dein sklave sein“ hat mich gar nicht gepackt. Und jetzt bin ich ziemlich überrascht und angetan! Ich weiß zwar immer noch nicht, ob ich diese 3 Text -aufsagen-Lieder von Nagel jetzt gut finde oder nicht. Songs wie „Hammerschläge, Hinterköpfe“ haben dann doch mehr punch. Aber insgesamt vielschichtiges Album und einfach richtig gute Musiker. Die Rezension gefällt mir. Grüße aus dem südöstlichen Tonnies-Münsterland
Ganz schlimm. Nicht zu vergleichen mit allen grandiosen Vorgängern. Mir ist ein Rätsel, wie die Band das selbst toll finden kann (sonst hätten sie es ja nicht veröffentlich).