Stefan Franzen - "Ohren auf Weltreise"
Worum gehts?
In 366 Kapiteln stellt das Buch auf 366 Seiten genau 366 Songs von ebenso vielen Artists vor: Bands, Solo-Künstler:innen und, typisch für 'Weltmusik', Kollektiven und Projekten aus einmaligen Kollabos. Gleichzeitig reist der Autor in seiner Auswahl durch Skandinavien und den Mittelmeerraum, Lateinamerika, oft Brasilien, bezieht Asiatisches aus China, Indien, Japan, Kambodscha und mehr ein, streift den Orient, greift namhafte afrikanische Acts auf und führt immer wieder vor Augen, was die USA noch so Traditionelles jenseits von Pete Seeger haben. Ein Hauptanliegen ist es Stefan Franzen, den Begriff "Worldmusic" zu den Akten zu legen. Er will die Buntheit von Musik ohne solche Schubladen-Wörter, die man auch als Warnhinweis missverstehen kann, feiern.
Gleichzeitig räumt er schon im Vorwort ein: "Man darf nicht auf den oft gehörten Satz hereinfallen, Musik sei 'eine universell verständliche Sprache'. Sie ist es meiner bescheidenen Meinung nach nicht, und es gehört ein bisschen Anstrengung dazu, sich in andere Tonsysteme und Klangsprachen einzufühlen."
Statt auf dieses Spannungsfeld und die so gesetzte Thematik einzugehen, zitiert Franzen dann auf vielen einzelnen Seiten Interview-Aussagen verschiedenster Künstler:innen, die oft kurz und aus dem Kontext gerissen wirken, meist hat er die Interviews selbst irgendwann geführt. Den Situationen, in denen diese Gespräche stattfanden, misst er viel Raum auf der jeweils einen Seite pro Song und Person bei, was irgendwie auch interessant ist: als Blick hinter die Kulissen von Promo-Abläufen.
Eine erhellende Darstellung einzelner Musikrichtungen oder eine Ausgewogenheit in der Auswahl verspricht der Weltreise-Veranstalter nicht, löst es aber oft auch nicht im Ansatz ein, bei der "Anstrengung (...) sich in andere Tonsysteme und Klangsprachen einzufühlen", zu unterstützen. Manche Details bekommen zwar gute Erläuterungen, wie die Bedeutung des Instruments Ngoni oder die Entstehung der indisch inspirierten George Harrison-Tracks bei den Beatles.
Überwiegend reiht das Buch aber Informationen über Länder, Stile, Rhythmen, Biographisches, Übersetzungen von Lied-Strophen, die üppige Darstellung der Konzert-Szene von Franzens Heimatstadt Freiburg und Einleitungen in potenziell interessante Artikel nebeneinander. Um Erkenntnisgewinn geht es in diesen angefangenen, aber nicht weiter geführten Gedanken, Snippets, Appetizern seltener.
Kuriose Lebensläufe wie zum Beispiel der russischen Opernsängerin, die als Punk von der Sowjet-Uni fliegt, unterhalten dabei ganz gut. Weswegen essenziell wichtige regionale Stile der weltweit blühenden Musik-Vielfalt wie Cumbia im Buch nur ein, zwei Mal auftauchen, sattsam bekannte Griots aus Mali aber zuhauf vertreten sind, bleibt ein Rätsel. Klar kann man den Inhalt eines subjektiven Druckwerks immer mit der Präambel vernebeln, dass keine Vollständigkeit möglich sei oder dass man sie gar nicht beabsichtige.
Warum andererseits eine nahezu weltweit bis in fast jedes Land vorgedrungene Kultur wie Hip Hop mit seinen mannigfaltigen lokalen Ausprägungen und Fusionen im Buch so gar keine Rolle spielt, traditioneller Folk und Elektronik eher am Rande vorkommen und nicht mal Reggae ein Gewicht beigemessen wird, ist trotz des geringen Anspruchs Franzens an sich selbst nicht nachvollziehbar. Dass Jeff Buckley zu früh starb, wie überhaupt auffallend viele Seiten sich frühen Toden widmen, das wusste die Zielgruppe des Buchs wohl schon.
Für die Karibik steht überraschenderweise der Roots-Rasta Taj Weekes Pate, mit dem ich einmal mühelos 90 Minuten Interview ohne einen langweiligen Moment führte. Stefan Franzen bekommt zu Taj nicht mal eine Seite voll. Somit bleibt die Frage, worum es in dem Buch wirklich geht? Um Überschriften, Einleitungen, Gedanken-Anstöße, Playlist-Tipps, ab und zu um Zusammenhänge.
Das Buch ist eher ein Booklet zu einer CD-Box, vorne gibt es QR-Codes zum Kennenlernen der Musik via Playlist. Ein Buch im Buch-Sinne, Gedanken-Ketten zu folgen und sich an geschriebener Sprache zu ergötzen, ist es weniger. Auch des Autors Idee, es als Kalender zu handhaben, überträgt sich beim Durchblättern wohl kaum auf die Leser:innen. Immerhin streut Franzen immer wieder Geburtstage von Sänger:innen ein, internationale Tage wie den "Tag der Weltreligionen" oder nimmt Bezug auf die Jahreszeit.
"Ohren auf Weltreise" arbeitet sich nach dem lesenswerten autobiographischen Vorwort über die Kapitel 1. Januar bis 31. Dezember zu einer reichhaltigen Liste an Fußnoten durch. Zwischen den Tagen stellt Franzen thematische Verbindungen zum Weiterlesen her. Gut gemacht ist das theoretisch schon, jedoch landet man dann bei Interesse in einer kleinteiligen und wilden Hin- und Herblätterei, und ein Kalender im Taschenbuch-Format wird halt nie zum Kalender.
Wer hats geschrieben?
Stefan Franzen ist freier Journalist und studierter Musikologe. An seinem Studienort Freiburg begann er noch während seines Studiums im Alter von 25, Konzerte im dortigen Jazzhaus zu organisieren, Sendungen auf Radio Dreyeckland als Redakteur und Moderator zu gestalten und Platten aus dem Segment Weltmusik zu verkaufen. Das alles passiert Mitte der 1990er, als das Sammelbegriff-Genre boomt.
Als Freelancer wird er für Konzerthäuser und Labels tätig und formuliert Promo-Texte. Als Autor schreibt er für die taz, die Badische Zeitung, Nürnberger Nachrichten, Folker und Jazz Thing, macht Radio-Beiträge beim Schweizer SRF sowie im WDR, NDR und bei Byte FM. Diese verschiedenen Ansätze ermöglichen ihm den Zugang zu einer großen Zahl prominenter Musiker*innen aus weit entfernten Ländern.
Wer solls lesen?
Der Autor scheint ein Jazz-Publikum im Auge zu haben, das gerne mitreden möchte und sich selbst als weltoffen definiert. Auch alle, die den Begriff Weltmusik nicht satt haben, werden fündig und gelegentlich sogar in den Klischees der Worldmusic-Branche bestätigt. Vorkenntnisse in Bezug auf weltweite Musik braucht man keine, Stefan Franzen holt seine Leserschaft bei einem allgemeinen Musik-Basis- und Alltagswissen ab. Umgekehrt werden Fans afrikanischer oder brasilianischer, französischer oder italienischer Musik hier in allererster Linie sehr bekannte Namen wiederfinden.
Trotzdem lassen sich Geheimtipps aufstöbern, selbst wenn man meint, schon extrem viel über Musik zu wissen. Insoweit macht man mit dem Teil als Verlegenheits-Weihnachtsgeschenk weder gegenüber Nerds noch Neulingen etwas verkehrt. Wer einen verständlichen, aber auch trockenen und konservativen Schreibstil schätzt, ist hier richtig, auch wenn Franzen zu langen Sätzen neigt. Wer sich gerne im Sinne des Autors von Musik überraschen lässt, wird bei den abrupten Wechseln zwischen vielen Themen und Regionen den ein oder anderen Treffer ziehen, wie es allerdings Daniela Mercury, Manu Dibango oder Niels Frevert in das Buch schafften, beantwortet sich nicht. Die Auswahlkriterien widersprechen immer wieder den im Vorwort genannten.
Wer dies daher nicht lesen soll, lässt sich leichter beantworten: Wer ein konsequentes Werk mit Fließtext und klarem Aufbau wünscht, ist trotz der scheinbar einleuchtenden Gliederung schlecht beraten. Wer ein Reisebuch sucht, wird bis auf ein Dutzend mediokrer Pressebilder von Künstlerinnen in Schwarz-Weiß keine Fotos finden. Auch von den Ländern vermittelt sich allzu wenig. Humor ist das gesamte Werk hindurch praktisch nicht vertreten. Dafür erfährt man gefühlt sehr viel über den Autor.
Das beste Zitat:
"Nishtiman ('Heimat') ist geboren, mit Mitgliedern aus dem Irak, dem Iran und der Türkei. Musiker aus dem kurdischen Gebiet Syriens ebenfalls in die Band zu holen ist wegen der katastrophalen politischen Lage im Land nicht möglich.
Kurdistan, das man auf der Landkarte als Staat nicht findet, ist eine Nation mit vielen unterschiedlichen Nuancen, was Essen, Kleidung, Bräuche und Religionen angeht, es gibt kurdische Juden, Muslime, Christen und jede Menge vorislamischer Religionen. 'Und mit der Musik ist es genauso, auch da gibt es viele Farben', sagt Zahawy.
Wertung: 2,5/5
Text von Philipp Kause
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