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Murat Güngör, Hannes Loh & Uh-Young Kim - "Remix Almanya"

Worum gehts?

Wahnsinnig viel Widerspruch dürfte man anno 2024 nicht mehr ernten, wenn man sich hinstellt und behauptet, Deutschrap habe längst den Mainstream übernommen. Dabei fällt allerdings gerne unter den Tisch, dass das Genre seit jeher riesige migrantische Anteile hat. Diesen wesentlichen Teil der deutschen Hip Hop-Geschichte beleuchtete das Autoren-Duo bereits mit dem Buch "Fear Of A Kanak Planet". Selbiges hat inzwischen über zwei Dekaden auf dem Buckel. Die migrantische hat sich längst zur postmigrantischen Gesellschaft gewandelt, die Transformation von Deutschland zu Almanya ist, auch wenn es manchem missfallen mag, unumkehrbar vollzogen.

Höchste Zeit also, wieder einmal draufzuschauen, auf die deutsche Sprechgesangsszene. "Remix Almanya" erzählt, der Untertitel verrät es, "eine postmigrantische Hip Hop-Geschichte". Die Erde hat sich weitergedreht, seit "Fear Of A Kanak Planet" 2002 erschien, Künstler*innen kamen und gingen. Manche sind auch damals schon dagewesen, fanden seinerzeit aber keine Beachtung. Es geht im "Remix" also nicht nur darum, die Entwicklungen der letzten Jahre nachzureichen, sondern es gilt zudem, frühere Versäumnisse und eventuell gemachte Fehler auszubügeln.

Murat Güngör und Hannes Loh erzählen die hiesige Rap-Historie dabei nicht, wie es oft versucht wurde, als durchgängige Geschichte, in der ein Ereignis stringent auf das andere folgt. Sie postulieren vielmehr eine Abfolge von Brüchen, the breaks, wenn man so will, und kommen damit der vielfach verflochtenen Realität wahrscheinlich wesentlich näher. Dabei unterziehen sie nicht nur die Szene und den Umgang mit ihr, sondern auch die eigene Arbeit einer krititischen Prüfung.

Das Herzstück dieses Buches bilden unzählige Interviews. Neben Rapper*innen von Afrob und Apsilon über Ebow und Eko zu Tice und Xatar kommen ehemalige Gastarbeiter*innen, Liedermacher und Sängerinnen, Journalistinnen, Filmemacher und Wissenschaftler*innen zu Wort. Klar, die Gespräche und Betrachtungen bieten unterschiedlichen Erkenntnisgewinn, lesen sich mal mehr, mal etwas weniger flüssig. Zuweilen macht die Wissenschaftlichkeit einen Text auch erheblich verkopft. Trotzdem: Aus der Vielzahl von Perspektiven, Betrachtungsschwerpunkten und Herangehensweisen ergibt sich ein Mosaik, das den Reichtum der Szene und ihre vielfältige Herkunft einfängt und lebendig abbildet. Es geht immer auch um Ausgrenzung und strukturellen Rassismus, ja. In erster Linie erzählt "Remix Almanya" aber nicht eine, sondern eine Vielzahl Geschichten von Selbstermächtigung und Empowerment.

Wer hats geschrieben?

Murat Güngör ist studierter Kulturanthropologe, Soziologe und Politikwissenschaftler, Lehrer und Buchautor und als pädagogischer Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt beschäftigt. Seine unbestrittene Street-Credibility bezieht er aus seiner zeit als Rapper, DJ, Veranstalter und Mitbegründer des anti-rassistischen Netzwerks Kanak Attack.

Hannes Loh, Rap-Nerd aus der westdeutschen Provinz, gründete einst die Polit-Rap-Crew Anarchist Academy, gab Fanzines heraus, arbeitete später als freier Autor für verschiedene Magazine und verfasste Bücher über Hip Hop, darunter - zusammen mit Güngör - das vielzitierte "Fear Of A Kanak Planet". Loh unterrichtet Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium in der Nähe von Köln.

Wer solls lesen?

Ein gewisses Interesse an Hip Hop schadet nicht, auf allzu widerstandslosen Lesegenuss sollte man auch nicht zwingend aus sein. Dieses Buch revanchiert sich für die Mühe, die die Lektüre passagenweise beschert, aber mit einer ganze Reihe von Scheunentoren in Welten jenseits des Szenehorizonts. Es spürt fast vergessene Wurzelstränge der Kultur auf, illustriert ihre wunderbare Vielfalt und schärft den Blick dafür. Gerade Nerds, die glauben, das Rap-Wissen bereits mit dem Löffel gefressen zu haben, sollten einen Blick riskieren, und dann gerne noch einen zweiten und dritten. Sie werden feststellen: Hinter jeder vermeintlich bekannten Geschichte lauern drei weitere, die noch nicht tausendundein Mal erzählt wurden.

Das beste Zitat:

"Mein Leben begann 1985 mit einem großen Streit in Ankara. Meine Oma und Mutter konnten sich nicht auf einen Namen für mich einigen, so dass ich über zwei Monate namenlos auf der Welt war. Am Ende konnte sich keine der beiden Frauen mit ihren Wünschen durchsetzen. Daraufhin eskalierte der Streit zwischen den Frauen in Ankara beim Standesamt während der Namenseintragung, und der zuständige Beamte entschied eigenmächtig, dass ich Hatice heißen sollte. Er beglaubigte dies rechtskräftig mit einem Stempel. Ein fremder Mann gab mir den Namen, den ich fortan tragen sollte, und zeichnete damit den Konflikt meiens Lebens vor: sich gegen die Fremdbestimmtheit zu wehren." (Tice)

Wertung: 4/5

Text von Dani Fromm

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