Michael Loesl - "Die Ärzte - "40 Songtexte aus Berlin"
Worum gehts?
Na, um Hochkultur, da genügt ja wohl ein Blick aufs Cover! Die Ärzte im Reclam Verlag. Doch der äußere Eindruck täuscht: Zur Pflichtlektüre im Deutsch-LK werden es die "40 Songtexte aus Berlin" kaum schaffen, "Schrei nach Liebe" statt "Kabale und Liebe" bleibt für kommende Schüler*innengenerationen Illusion. Zumal die 40 Songs des Trios kurze Erläuterungen und Analysen des Autors mit auf den Weg bekommen, sozusagen die Sekundärliteratur zum Werk selbst. Die liest sich am Beispiel von "Schrei nach Liebe" und dessen Quintessenz zum Beispiel so: "Selbstabwertung wird externalisiert, Schuld an der eigenen Misere sind sogenante andere."
Wer hats geschrieben?
Kulturjournalist Michael Loesl, der schon für Emma, Die Welt und den Playboy schrieb, allerdings aber oft über Musik. Im Bezug auf Die Ärzte wird er als "profunder Kenner von Mensch und Material" bezeichnet, was seine Kurz-Analysen zu 40 ausgewählten Songs und ein mehrseitiges Nachwort belegen sollen.
Wer solls lesen?
Gut, dass ihr fragt. Die Antwort ist diffizil. Im Internetzeitalter ist bekanntlich vieles vergänglich, da soll die Reclamisierung gehobener Punkrock-Literatur wohl einen Pflock einschlagen. Fair enough. Und wenn Außenministerin Baerbock Die Ärzte zitiert, muss es dafür ja Gründe geben. Zumal das von Bela B. stammende Artwork mit Schnecki und Gwendoline nicht nur alte und neue Ärzte-Zeiten vereint, sondern auf gelbem Hintergrund schlicht wunderschön geraten ist.
Der Inhalt richtet sich aber wirklich nur an Menschen, die mit der Entmystifizierung von Songtexten keinerlei Probleme haben. Allerdings benötigen viele Ärzte-Texte gar keine Erklärungen. Das ist Loesl aber egal, er schnappt sich jede Metaebene, die er findet und interpretiert drauflos. Ist ein Text zu offensichtlich, erzählt er eben dessen Entstehungsgeschichte, etwa bei "Männer sind Schweine". In bestem Fanduktus rückt er den Texter Farin Urlaub auch mal in die Nähe von Bach oder Goethe. Er erklärt, in welchem Song Die Ärzte Immanuel Kants kategorischen Imperativ neu interpretieren und hebt Bela Bs. Weitsicht in "Das darfst du" hervor, die Ode an unkonventionelles Denken aka Querdenken, bevor der Begriff von Coronaleugnern missbraucht wurde.
Dass alle eindeutig haltungsstarken bis politischen Songs der späten Karriere aufgenommen wurden ("Deine Schuld", "Woodburger", "Demokratie - Our Bass Player Hates This Song"), gefühlt alle Songs von "Jazz ist anders" und lediglich zwei aus den 1980er Jahren (interessanterweise nicht "Zu Spät"), erzeugt in Teilen einen etwas humorlosen Bildungsbürgermief, der der Band eigentlich sehr fern liegt, und legt gleichzeitig den fatalen Schluss nahe, dass Ärzte-Klassiker wie "Vollmilch", "Du willst mich küssen" oder "Alleine in der Nacht" für den deutschen Kulturkanon offenbar ungeeignet sind.
Das beste Zitat:
"November 1984. Die Welt steht am Abgrund: Limahl ist bei Kajagoogoo rausgeflogen, Laura Branigan beklagt den Verlust der Selbstkontrolle. Hoffnung kommt aus Berlin. Die Ärzte selbstermächtigen sich, den Mangel an Mitgefühl poetisch zu betrachten. Bela B. verlautbart in seiner 'Scheißtyp'-Betrachtung: Ohne Selbstwert kein Bewusstsein für die Bedürfnisse anderer Menschen."
Wertung: 3/5
Text von Michael Schuh
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