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Jenni Zylka - "Tina Turner: 100 Seiten"

Worum gehts?

Reclams "100 Seiten" ist ein komisches Format: Auf (Überraschung!) 100 Seiten sollen da verschiedenste Autor*innen ihr jeweiliges Thema erklären, das Spektrum reicht von ABBA und Astrophysik über Menstruation, den Nahostkonflikt, Ovid und die Verkehrswende zu Zen. Eigentlich kann das nicht funktionieren: Jedes einzelne Sujet ist viel zu komplex, um es auf 100 (zudem kleinformatige) Seiten einzudampfen, unzulässige Reduktion auf bereits sattsam bekannte Allgemeinplätze erscheint da vorprogrammiert. Nun haben sie auch Tina Turner in diesen Winzrahmen gequetscht, und entgegen jeder Erwartung erledigt Jenni Zylka das ganz wunderbar. Zwar hadert die Autorin zu Beginn etwas mit der Frage, ob sie als weiße Journalistin überhaupt befugt und in der Lage sei, diese Schwarze Geschichte richtig zu erzählen. Manche*r mag solche Gedanken übertrieben finden, sie sind dennoch nötig, und sensible Themen sensibel anzugehen, hat noch nie wirklich geschadet.

Auch hier nicht: Zylka erzählt Tinas Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte, ihren harten Befreiungskampf und ihre triumphale Rückkehr mit großem Feingefühl. Weiblich, arm, Schwarz, früh Mutter geworden, sitzengelassen, ergo alleinerziehend landet Anna Mae Bullock bei ihrem ebenso gewalttätigen wie manipulativen Ehemann Ike Turner. Der stülpt ihr einen neuen Namen und ein Image nach seinen Vorstellungen über, macht sie zum Star, hält sie aber auch finanziell abhängig und misshandelt sie brutal auf vielerlei Weise. Tina Turners Emanzipazion dauert lange, und als sie sich endlich aus der toxischen Umklammerung befreit hat, ist sie nach landläufiger Meinung eigentlich schon zu alt, um noch einmal durchzustarten. Wie diese Frau nach allen anderen Benachteiligungen auch diese Hürde überwindet, erzählt dieses Büchlein ebenso rasant wie empathisch.

Den Fehler, an dem viele Biografien kranken, umschifft Zylka dabei: Sie verliert über der Betrachtung der Person deren Werk nicht aus den Augen. Immer wieder belegt sie Tina Turners Entwicklung anhand von Songtiteln, Lyrics, Coverartworks und der Musik. Dazu gibts, wie üblich in dieser Reihe, noch diverse Abbildungen und etliche Infokästen. Nicht zu fassen eigentlich, dass das alles auf 100 Seiten passt, aber: isso.

Wer hats geschrieben?

Wer sich einmal ordentlich einschüchtern lassen will, lese den Wikipediaeintrag von Jenni Zylka. Kein Wunder, hat sie die eigentlich unlösbare Aufgabe der 100-Seiten-Beschränkung virtuos gemeistert: Diese Frau kann offensichtlich alles. Sie hat Linguistik, Kultur- und Kommunikationswissenschaft studiert, ist ausgebildete Tontechnikerin, hat in verschiedenen Bands Orgel gespielt, arbeitet als Redakteurin und Moderatorin, hostet Radioshows, schreibt Drehbücher und Romane, natürlich unterrichtet sie auch, und sie sitzt in x Gremien und Jurys, unter anderen in der für den Grimme-Preis. Face it: Jenni Zylka ist kompetent.

Wer solls lesen?

Alle, die sich genug für Tina Turner interessieren, um eineinhalb bis zwei Stunden Lesezeit dafür abzuzweigen, können sich hier auf die Schnelle einen absolut runden Ersteindruck verschaffen. Eingefleischte Fans erfahren zwar nichts großartig Neues. Doch auch dieser Klientel bietet eine interessante Perspektive, einmal in den Fokus zu nehmen, welch vielfältigen Diskriminierungen die Sängerin ausgesetzt war.

Das beste Zitat:

"Den am meisten verstörenden, wenn auch immer noch verhüllten Einblick in partnerschaftliche Abgründe gibt der Song 'Letter From Tina', ebenfalls aus Ikes Feder. Der Text wird von Tina größtenteils gesprochen, als ob sie einen Brief vorläse. 'Dear my man', beginnt der Song, 'du kontrollierst alles, was ich mache!', heißt es, oder: 'Ich möchte doch nur verstehen, wieso du mir wehtust.' 'Hinter meiner Liebe zu dir verschwinden alle Fehler.' Ein Täter, der seinem Opfer, der Frau, die er regelmäßig schlägt und missbraucht, diese Worte in den Mund legt, der sie den Missbrauch perfide selbst entschuldigen lässt - so etwas nennt man Psychoterror."

Wertung: 4/5

Text von Dani Fromm

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