Kiev Stingl - "Briefe an Gabriella"

Worum gehts?
Um die Liebesbriefkorrespondenz des 20-jährigen Kiev Stingl, damals noch Gerd Stingl, mit einer Zufallsbekanntschaft namens Gabriella. Ihre Begegnung im Zug Anfang der 60er Jahre reichte gerade noch aus, um Adressen zu tauschen, danach muss Gerd zurück in seine katholische Privatschule in Hamburg und Gabriella in ein weit entferntes Nonneninternat. Drei Jahre lang schreiben sie sich, treffen sich nur sporadisch, ihre Beziehung bleibt platonisch und wird in diesen zufällig wieder aufgefundenen Zeitdokumenten lebendig. Über zehn Jahre bevor Stingl sein Debütalbum "Teuflisch" mit Achim Reichel aufnimmt und in Szenekreisen Aufsehen mit seiner Prosa erregt, erlauben die "Briefe an Gabriella" einen überraschend feinfühligen wie erwartungsgemäß poetischen Einblick in die Gefühlswelt des jungen Stingl, bevor die Studentenbewegung von ihm Besitz ergreift.
Wer hats geschrieben?
Kiev Stingl, in den letzten Jahren zunehmend wiederentdeckter Dichter und Provokateur mit einem Underground-Abo auf Lebenszeit. Selbst sein Tod Anfang 2024 im Alter von 80 Jahren dürfte an dieser Rezeption nichts ändern. Der kleine, auf "literarische Texte und Essays zu Kunst und Kultur" spezialisierte Heidelberger Flur Verlag freut sich nun schon über seine zweite Stingl-Veröffentlichung: Letztes Jahr erschien mit "Mein Collier um deinen Hals" eine vom Autor noch kurz vor seinem Tod freigegebene Aphorismen-Sammlung. Wer angesichts von "Briefe an Gabriella" auf den Geschmack gekommen ist, darf sich zudem kommendes Jahr auf ein posthumes Album freuen, an dem Stingl seit Jahren mit Niklas David von Audiac gearbeitet hat. Bereits 2022 ist auf dem Klangbad-Label von Faust-Gründer Hans-Joachim Irmler die EP "X R I NUIT" mit Neuvertonungen von 1982 angefertigten Texten erschienen.
Wer solls lesen?
Machen wir uns nichts vor: Der Name Kiev Stingl hat nicht denselben Klang wie Blixa Bargeld, von daher wird man diese Publikation nicht über die Spiegel-Bestsellerliste finden. Ein Malheur, denn Stingls vier Alben zwischen 1975 und 1989 füllen ein oft übersehenes Kapitel der Geschichte experimenteller deutscher Rock-Avantgarde. In gewisser Hinsicht sind die "Briefe an Gabriella" der Anfang der "himmlischen Reise durch eine tumbe Bundesrepublik Deutschland", wie Stingl später als 80-Jähriger seine Karriere im laut.de-Interview zusammenfasst.
Der junge Mann mit der athletischen Erscheinung macht Eindruck auf Gabriella, mehr noch aber offensichtlich seine besondere Ausdrucksweise, in der sich Moralvorstellungen und Sehnsüchte eines Heranwachsenden in der muffigen Ludwig-Erhard-Ära spiegeln. Der Querkopf Stingl schimmert hier und da schon durch, etwa wenn er seine Angebetete kommentarlos auf der Tanzfläche des Hamburger Star Clubs stehen lässt, um mit seinen Kumpels an der Bar ein Bier zu trinken. Ohne einen kuriosen Zufall wiederum hätten diese Briefe nie das Licht der Welt erblickt: Gabriella erfährt 2024 vom Tod eines Künstlers namens Stingl, hat plötzlich eine ferne Erinnerung, googelt Stingls Vornamen und erinnert sich an den Freund Gerd, den sie sechs Jahrzehnte nicht gesehen hat. Die Geschichte in ihren Worten rundet das Werk wunderbar ab.
Das beste Zitat:
"Zwar fühle ich mich sowohl physisch als auch geistig als Crétin, was du gleichermaßen am Schriftbild wie an der Syntax erkennen kannst, dennoch will ich versuchen, dir die Gefühle deines kränkelnden Liebhabers zu offenbaren. Um mich herum ist alles weiß, weißt du, weiße Wände und Tücher, ein weißes Bett, weiße Doktoren und weiße Schwestern. Seit mehreren Tagen liege ich nun schon in diesem krankenhausweißen Zimmer und trauere meinen Mandeln nach. Vor der Operation hat mir der Fleischer acht Spritzen in den Hals gepikt, ich glaubte schon, ich wäre im Himmel, daraus ist aber nichts geworden."
Wertung: 5/5
Text von Michael Schuh
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