Den neuen "Herr Lehmann"-Roman bevölkern Hausbesetzer-Punks, Schwangere und heimwehkranke Österreicher. Dazu plingt leise der Eierschneider.
Berlin (dani) - Sven Regener hat es wieder getan: Er hat ein Buch geschrieben. Was hätte er auch sonst tun sollen, in einem Jahr, in dem mit Live-Musik nicht viel zu reißen war? Zum Glück hat der Mann neben Element Of Crime längst ein zweites Standbein und sich selbst einen Ruf als Autor ganz wunderbar unterhaltsamer Romane geschaffen. Deswegen bekommen wir hier auch keine weitere mittelspannende Musikant*innen-Biografie zu lesen, sondern den nächsten Teil aus Regeners "Herr Lehmann"-Kosmos.
"Glitterschnitter" (Galian Berlin, 480 Seiten, gebunden, 24 Euro) setzt so nahtlos da an, wo "Wiener Straße" aufgehört hat, dass der (Wieder-)Einstieg ins Berlin der 1980er-Jahre nicht ganz leicht fällt. Wer war noch gleich dieser Erwin? Wie war das mit P.Immel, Kacki, der ArschArt-Galerie und der Intimfrisur? Wer in den vergangenen vier Jahren ein oder zwei andere Bücher gelesen hat, dürfte das Personal vom Café Einfall und seine Verstrickungen wahrscheinlich nicht mehr so wahnsinnig prominent auf dem Schirm haben. Die Figuren katapultieren sich aber allesamt recht schnell ins Gedächtnis zurück.
Grandios lebensnahe Dialoge
Das liegt vor allem an Regeners beneidenswertem Talent, ihnen (teils erschreckend) nachvollziehbare Gedanken in die Köpfe und grandios lebensnahe Dialoge in die Münder zu legen. Egal, wie auserzählt einem Setting und Cast zunächst vorkommen mögen: Im Verlauf der knapp 500 Seiten lernt man alles und jede*n wieder neu lieben: Chrissie, aus dem Schwabenland in die geteilte Stadt geflohen, die versucht, ihre besorgte Mutter abzuwimmeln. Besagte Mutter, die das Band zu ihrer Tochter reißen fühlt. Kneipenwirt Erwin, der mit der Neuausrichtung seines Etablissements und seiner drohenden Vaterschaft hadert. Herr Frank Lehmann, der sich von der Putze zur Thekenkraft hochwirtschaftet und letzten Endes noch von einer Nebenfigur zum eigentlichen Helden der Geschichte aufsteigt.
Obendrein bevölkern Regeners literarisches Universum unter anderem: stark bis sehr stark heimwehgeplagte Österreicher, ein Rudel Hausbesetzer-Punks, ein Polizeibeamter, der mit sich und seiner Zeit offenbar wenig anzufangen weiß, ein Aktionskünstler, der seinen Manager mehrmals an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, Klaus, etliche Schwangere und ungefähr genau so viele Jürgens, die Kurator*innen einer Veranstaltung namens Wall City Noise - und natürlich die titelgebende Band Glitterschnitter, die dort um jeden Preis auftreten will. Auch wenn in besagtem Preis inbegriffen ist, eine junge ambitionierte Saxofon-Spielerin ins Line-Up zu lassen, handelt es sich doch um (zumindest so etwas ähnliches wie) die Nichte der Frau, die über Wohl und Wehe der Bewerbungen entscheidet.
Vorgruppe: Dr. Votz
Neben Glitterschnitter - Schlagzeug, Synthesizer, neuerdings Saxofon und Bohrmaschine, ausreichend virtuos bedient von einem gewissen Karl Schmidt, treue Regener-Leser*innen werden sich erinnern - tritt im fulminanten Finale ein weiteres Mal die aus dem Vorgängerbuch bereits vertraute Formation Dr. Votz auf, diesmal jedoch als Mariachi-Playback-Truppe, deren einziges Live-Instrument ein gezupfter Eierschneider ist:
"P.Immel wusste natürlich, dass es asozial war, ohne Absprache mit den anderen das Dr. Votz-Playbackshow-Konzept mit einem Eierschneider und einem Mikrofon zu durchbrechen, aber was wäre das für eine Welt, dachte er, während er mit wachsender Begeisterung mit dem Zehnschillingstück auf dem Eierschneider herumschrummte, wenn immer alles nach Plan liefe?"
Kannste dir nicht ausdenken? Wohl, Sven Regener kann das, und er kann das alles auch noch so plastisch erzählen, dass man den Spelunkenmief der beschriebenen Lokalitäten, den Bieratem der Protagonisten und den Geruch von H.R. Ledigts schnelltrocknender Acrylfarbe auf Dachfolie direkt in der Nase hat.
Schlusspunkt - oder Neuanfang
Die tatsächliche Handlung von "Glitterschnitter" bewegt sich in so überschaubarem Radius wie die Figuren. Die schaffen es, falls überhaupt je aus der Wiener Straße hinaus, maximal bis in den nächsten Möbelmarkt. Lange Zeit passiert nicht viel, dann plötzlich alles auf einmal, und am Ende treten P.Immel und Kacki kurzentschlossen die Rückreise nach Ottakring an. Der Moment, in dem die beiden auf dem nächtlichen Bahnhof auf den Zug in die Heimat warten, könnte der höllisch stimmungsvolle Endpunkt des "Herr Lehmann"-Romanzyklus sein.
Da aber höchst unwahrscheinlich erscheint, dass eine von Sven Regeners Gestalten einen einmal gefassten Plan konsequent durchzieht, handelt es sich wahrscheinlich doch eher um den Auftakt zum nächsten Band. Ehe der erscheint, möchte ich dringend dieses Glitterschnitter-Demotape hören. "'Ist das dann mit Bohrmaschine?', fragte Erwin. Alle schauten Charlie an. 'Natürlich!', sagte der. 'Sonst ergibt das doch gar keinen Sinn!'"
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1 Kommentar mit 2 Antworten
Ach, herrjeh, was klingt das alles wieder aufregend. Und so crazy! Wow.
Ich habe mal die Biographie von Chuck Jones gelesen, der Cartoons wie den Road Runner gezeichnet hat. Er hat gemeint, dass es keinen Sinn macht, Zeichentrickfilme zu produzieren, die nur das Leben nacherzählen, wenn man mit dem Medium alles machen kann, was man möchte. Das lässt sich auch ziemlich gut auf Bücher übertragen, insbesondere auf solche, die die "crazy" Lebensgeschichte einer Musikers nacherzählen.
Ja, da ist was dran. Man könnte viel mit einem Roman anfangen, sowohl was Stimmung als auch Realitätsbezug betrifft. Klar ist nicht jeder so kreativ, um mit dem Medium mehr anzufangen als sich faul in so ein superbraves Nest namens "Szene, Hihi!" zu fläzen. Beim Lesen der kurzen Besprechung hier hatte ich aber die Rollen allesamt mit Matthias Schweighöfer besetzt, so nett klang das alles. Und der Malte aus dem WG-Zimmer nebenan ist so super crazy, daß der auf nem Eierschneider herumzupft. Voll der Hammer! Hahaha!