Beschäftigung mit Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche macht wütend, ist aber unerlässlich, wenn sich etwas ändern soll.
Mainz (dani) - Warnhinweis vorab: Dieses Buch nervt gewaltig. Es macht wütend, müde, frustriert und ergo überhaupt keinen Spaß. Der Umstand, dass es dennoch nötig, geradezu unerlässlich ist, dass dieses Buch existiert, macht es nicht besser. Im Gegenteil.
FLINTA*-Personen und alle, denen deren Belange nicht vollkommen am Arsch vorbeigehen, kennen das diffuse Gefühl, in der Musikbranche irgendwie unterrepresentiert zu sein. Alle Jahre wieder springt es jedoch selbst denjenigen ins Gesicht, die von der gewaltigen Schräglage bis dahin nichts mitbekommen haben wollen. Dann nämlich, wenn insbesondere die großen, aber auch kleinere Festivals ihre Line-Ups bekanntgeben. Streicht man die rein cis-männlich besetzen Acts, herrscht vielerorts gähnende Leere auf den Plakaten. Betroffene und deren Verbündete beklagen in der Folge regelmäßig das Ungleichgewicht.
Genau so regelmäßig bricht die sich angegriffen wähnende Seite in Rechtfertigungs-Geschnatter aus: Quaaak, quak-quaaak, niemand wolle "Quoten-Frauen". Man wähle Künstler*innen doch wohl nicht nach ihrem Geschlecht aus, quak, quak. Oder: Man würde ja gern, aber, nak-nak-nak, es gibt ja keine Frauen, die man buchen könne. Jedenfalls keine mit ausreichend wirtschaftlicher Zugkraft, quakedi-quak. Die Forderung nach Gleichberechtigung: wokes Gewese. Wenn die Weiber Qualität liefern würden, würden sie sich schon von alleine durchsetzen. Überhaupt hat Band XY doch eine Sängerin, was wollt ihr denn alle?!
Wir kennen den Bumms. Rike van Kleef kennt ihn ebenfalls. Als Bookerin, Veranstalterin und Journalistin hat sie vor und hinter den Kulissen Einblick in verschiedenste Bereiche der Musikbranche, und was sie dort sehen, hören, erleben und sich bieten lassen muss(te), hat sie zur Aktivistin gemacht. Für ihre Abschlussarbeit untersuchte sie Gender-Imbalance im Booking und unterfütterte die vage Ahnung von den abwesenden FLINTA* im Business mit wissenschaftlich erhobenen und entsprechend validen Zahlen, ehe sie die Mär vom "fehlenden Angebot" und der "mangelnden Qualität" nach allen Regeln der Kunst zerlegte.
Mit ihrer Veröffentlichung zum Thema räumte Van Kleef 2023 einen International Music Journalism Award ab. Ich hatte die riesige Freude, für die Preisverleihung die Laudatio schreiben zu dürfen. Schon damals stellte die Autorin einen Nachschlag in Aussicht, mit dem Thema ließe sich ja leider ein ganzes Buch füllen.
Schieflage auf allen Ebenen
Was zu beweisen war: Inzwischen liegt "Billige Plätze" (Ventil Verlag, 317 Seiten, Taschenbuch, 22 Euro) vor, und auch wenn sich die Uhr zwei Jahre lang weitergedreht hat, und wir immer wieder eingeredet bekommen, es habe sich in punkto Gleichberechtigung wahnsinnig viel getan, zeichnet es noch immer ein trauriges Bild. Eines, das einer angeblich ach so progressiven, aufgeschlossenen Branche besonders schlecht zu Gesicht steht: Während das Patriarchat blüht, müssen FLINTA* um ihre Repräsentation noch immer hart kämpfen. Am Ende landen sie, wenn überhaupt irgendwo, maximal auf den titelgebenden billigen Plätzen: Der Gender Pay Gap ist real, für gleiche Arbeit werden FLINTA*, so sie den Job denn kriegen, noch immer wesentlich schlechter bezahlt.
Rike van Kleef greift für ihr Buch auf ihren eigenen Erfahrungsschatz als seit Jahren im Musikzirkus tätige queere Frau zurück. Zusätzlich sprach sie mit unzähligen Menschen aus zahlreichen Gewerken der Branche. Musiker*innen kommen zu Wort, aber auch Backliner*innen, Menschen, die bei Shows für den guten Ton und das rechte Licht sorgen, und nicht zuletzt die, die die Bühnen überhaupt erst hin-, damit andere sich draufstellen können, und sie anschließend auch wieder wegräumen. Außerdem sprechen Veranstaltende und Personen, die bei Labels, im Booking, im Management, in der PR tätig sind.
Mann entscheidet, FLINTA* assistiert
Aus vielen verschiedenen Blickwinkeln setzt sich so ein einziges, höchst ärgerliches Bild zusammen: Die Ungerechtigkeit durchzieht alle Ebenen und Gewerke der Branche. FLINTA* sind nicht nur auf, sondern auch hinter und neben den Bühnen unterrepräsentiert. Die Posten mit Entscheidungsgewalt: größtenteils in Männerhand. Selbst Betriebe oder Festivals, die sich mit Gender-Ausgewogenheit schmücken, kommen bei genauerer Betrachtung oft schlecht weg: Wenn sich 50 Prozent der Belegschaft aus FLINTA* rekrutieren, handelt es sich noch lange nicht um Gleichberechtigung, wenn auf den Chefsesseln, an den Stellen mit Gestaltungsmöglichkeiten, ungebrochen überwiegend Männer sitzen. So verhält es sich ja leider oft: Der Chef ist ein Kerl, den weit weniger prestigeträchtigen Assistenz-Job kann dann ja gnädigerweise jemand anderes machen.
Dass gerade an diesen Positionen für weniger Geld mehr und qualifizierter gearbeitet wird, zudem in heftigeren Abhängigkeitsverhältnissen bei sehr viel geringerer Fehlertoleranz, entsprechend unter viel, viel stärkerem Druck, fräst Rike van Kleef erschreckend deutlich heraus. Sie widmet sich in einzelnen Kapiteln außerdem sexuellen Übergriffen (deren Opfer größtenteils eben keine Männer sind), der schwierigen bis unmöglichen Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft (die Männer sehr viel seltener ausbremst) oder der auch anno 2025 noch ungleich verteilten Care-Arbeit (ein Schelm, wer denkt, es wären Männer, die hier den Löwenanteil erledigen).
Wie wenig nicht-cis-männliche Menschen oft überhaupt mitgedacht werden, illustriert Van Kleef anhand von Kleinigkeiten, die sich für die Betroffenen aber zu Riesenproblemen auswachsen können: Fehlende Mülleimer in Toiletten oder unzulängliche Möglichkeiten, sich die Hände zu waschen, mögen einem Mann nicht weiter auffallen. Er fragte sich in aller Regel (haha! Pun NOT intended!) wohl eher selten, wohin mit der benzuten Monatsbinde oder wo zum Teufel er, idealerweise noch einigermaßen diskret, seine Menstruationstasse ausspülen soll. Vielen Männern scheint ja noch nicht einmal aufzufallen, wenn - auch keine Seltenheit - Klos oder Duschräume für andere Geschlechter gleich ganz fehlen.
Böser Wille, Ignoranz oder Gleichgültigkeit?
Nicht immer stecken perfide Absichten oder böser Wille dahinter. Doch auch unentwegt gegen Ignoranz, Gleichgültigkeit oder fehlende Empathie anrennen, sich fortwährend behaupten, die eigene Daseinsberechtigung beweisen zu müssen, ermüdet auf Dauer kolossal. Genau wie dieses Buch, das sich insbesondere im letzten Drittel doch ziemlich wiederholt. An ein FLINTA*-Publikum, würde ich schätzen, richtet es sich zwar eher nicht. Zumindest nicht in erster Linie. Ich sags mal mit der großartigen Gitte Haenning: Sorry, Rike, "doch was du da erzählst, weiß ich schon lang."
Wir, die Frauen, Queers, inter-, nonbinären, trans Personen aus der Branche, sollten "Billige Plätze" dennoch lesen. Allein schon, um uns immer wieder aufs Neue zu versichern, wie wichtig es ist, dass wir da und sichtbar sind, um denen, die nach uns kommen könnten, die Türen zu öffnen, die wir uns selbst noch mühsam aufhebeln mussten. Oder eben eintreten.
Vor allem sollten dieses Buch aber Männer lesen, und bestenfalls nicht nur die, deren Horizont bereits etwas über ihre eigene Gliedlänge hinausreicht. Die gibt es zum Glück ja auch, das wollen wir bei allem berechtigten Ärger nicht vergessen. Wenn mehr Männer ihre Privilegien nutzen würden, um sie abzuschaffen, würden am Ende alle gewinnen. Auch das zeigt Rike van Kleef in ihrem Buch: Wie sich Diversität auf das Arbeitsklima auswirkt. Positiv, nämlich: Auch die befragten Männer gaben an, in gemischt oder überwiegend mit FLINTA* besetzten Teams ein freundlicheres Miteinander erlebt und bessere Ergebnisse erzielt zu haben. Gleichberechtigung wäre also im Sinne aller, wer hätte das gedacht?
Es könnte so einfach sein
Frust und Ärger darüber, wie wenig sich Dinge ändern, und wie langsam, überlässt Rike van Kleef aber zum Glück nicht das letzte Wort. Am Ende von "Billige Plätze" sammelt sie Strategien und Handlungsoptionen, um dem (immerhin schon angestoßenen) Wandel beschleunigend in den Arsch zu treten. Es könnte ganz einfach sein. Hallo, ihr da, in den Entscheiderpositionen: Bucht mehr FLINTA*, stellt mehr FLINTA* ein. Und ihr FLINTA*, die ihr es geschafft habt: Vernetzt euch, helft einander und zeigt euch, damit die nächste Generation sieht, was möglich ist. Am Ende profitieren wir alle. Wär' das nicht schön?
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Rike van Kleef - "Billige Plätze"*
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4 Kommentare mit 2 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor einem Tag durch den Autor entfernt.
In der Branche ändert sich im Moment wirklich einiges zum Guten. Aber zwischendurch ist es immer wieder nötig, die sich selbst verstärkenden Bestätigungsschleifen zu durchbrechen. Insofern ist das hier ein wichtiges Buch.
Ich glaube nicht, dass es hier jemals Gleichheit geben wird, aber das muss es auch gar nicht. Hauptsache, es wird niemandem wegen unterschiedlicher Voraussetzungen irgendetwas schwerer gemacht als Anderen - und allein das ist schon eine schwierige Aufgabe.
Jetzt haben wir eine Empfehlung und ich schnupper auch mal rein, aber wo bleiben ein paar Worte zu dem Buch von Jennifer W.? ^^
kommt noch, versprochen. ich reich so nach und nach alles nach, das ich im urlaub gelesen hab.
Merci!
wie macht laut.de denn INTAS* sichtbar? ab und an bissi pflichtschuldig ikkimel und dea bbz erwähnen? laura jane grace ist relaitv aktiv als musikerin zur zeit. nahezu alle verweise auf ihr schaffen hier kommen von mir...