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Berthold Seliger

Auch 2021 wird es eventuell noch keine Konzerte geben - hast du noch Durchhaltewillen oder denkst du schon über einen Berufswechsel nach?

Berthold Seliger: Mal jenseits der Tatsache, dass ich sozusagen zwei Berufe ausübe, nämlich neben dem des Konzertagenten und Tourneeveranstalters auch den des Autors: So schnell gibt man doch nicht auf! Es hat nie jemand behauptet, dass es leicht sein würde, und es war auch nie wirklich leicht. "Wir haben einen jahrelangen Kampf vor uns", sagt die wunderbare Anna Karina am Ende von Jean-Luc Godards "Made in U.S.A." aus dem Jahr 1966 ...

CTS Eventim brachte jüngst ins Spiel, den Konzertbesuch an eine Impfung zu knüpfen. Der Ethikrat erteilte jeglichen Privilegien für Geimpfte eine Absage. Wie stehst du dieser Thematik gegenüber?

Ich finde diese Position, die interessanterweise ja fast nur von den Großkonzernen des Konzertgeschäfts eingenommen wird, äußerst problematisch. Die Motivation ist allzu durchsichtig: CTS Eventim (Jahresgewinn/EBITDA 2019: gut 284 Millionen Euro) geht es darum, möglichst rasch wieder Großkonzerte und Festivals veranstalten zu dürfen und vor allem die hohen Profite durch Ticketverkäufe einstreichen zu können. Die EBITDA-Marge (Geldfluss vor Steuern und Abschreibungen) im Ticketverkauf liegt bei über 45 Prozent (im Vergleich zu eher mageren 4 bis knapp 7 Prozent im Konzertgeschäft). Moralisch ist es problematisch, wenn nicht sogar völlig abwegig, dass Geimpften Vorteile aus der Corona-Impfung erwachsen - jedenfalls, solange sich nicht alle Menschen impfen lassen konnten, was wohl frühestens im vierten Quartal 2021 der Fall sein dürfte.

Kultur sollte grundsätzlich möglichst allen Menschen zur Verfügung stehen. Die Teilnahme an Konzerten und anderen kulturellen Veranstaltungen muss also im Idealfall allen Menschen gleichberechtigt möglich sein. Die Corona-Impfung darf nicht zu einer neuen oder noch weiter verschärften Trennung des Publikums führen in Privilegierte und Leute, die leider draußen bleiben müssen. Hinzu kommt das gesundheitspolitische Problem: Solange nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Virus beziehungsweise seine Mutationen durch Geimpfte weiterverbreitet wird, wären Großveranstaltungen mit Geimpften ein idealer Brutkasten für die Verbreitung von Escape-Varianten des Covid-19-Virus (etwa für die südafrikanische oder die brasilianische Variante). Das mag Großkonzernen mit ihren Profitinteressen egal sein, aber für Menschen mit einer Haltung, die eine gesellschaftliche Verantwortung ihres Tuns ernstnehmen, steht eine Position, bei der der Kommerz wichtiger ist als die Gesundheit der Menschen, nicht zur Debatte.

Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Obwohl Umfragen zufolge eine Mehrheit der Bevölkerung die Maßnahmen der Politik stützt, bröckelt die Zustimmung zu Maskenpflicht, Impfnotwendigkeit und harten Lockdownregeln. Gehen auch in deinem Freundeskreis die Meinungen auseinander?

Nein. Alles gute Freunde! Übrigens weiß ich gar nicht, ob diese Umfragen die Wahrheit erzählen. Bei der "Restart-19"-Studie der Universitätsmedizin Halle (Saale), die anhand eines Großkonzerts in Leipzig untersucht hat, wie Hallen- und Clubkonzerte nach dem Lockdown wieder stattfinden können, haben 90 Prozent der Teilnehmer*innen angegeben, dass es ihnen nichts ausmacht, FFP2-Masken während des gesamten Konzertbesuchs zu tragen - einfach, weil derartige Maßnahmen den Fans wieder Konzerte ermöglichen.

Welche Lehren ziehst du für dich aus dieser historischen Zäsur? Hast du dich als Person verändert?

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Berthold Seliger ist seit über 30 Jahren Tourneeveranstalter. Er organisierte Konzerte von Patti Smith, Calexico, Lou Reed und Lee Hazlewood. Für Aufsehen sorgte 2013 sein anklagendes Buch "Das Geschäft mit der Musik", in dem er die Zusammenhänge von Ticketmonopolisten, Künstler*innen und Plattenfirmen sezierte. Zuletzt erschien sein Buch "Vom Imperiengeschäft: Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören".

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