Hurricane: "Don't believe the Brexit, we're a European Band!"

78.000 feiern mit Muse, Die Ärzte, Marteria, RIN, QOTSA, The 1975, Placebo u.v.a.

Scheeßel (laut) - Was wär ein Hurricane ohne Wasser von oben? Doch zum Glück regnete seit dem Festivalstart nur ein wenig - bei sommerlichen Temperaturen durchaus erfrischend. Zumal: Als Eskapismus von der tristen Weltlage taugt das Hurricane für die rund 78.000 Fans auf dem Eichenring mal wieder allemal. Hier gehts zur Berichterstattung vom Schwesterfestival im Süden, dem Southside.

Wobei die Massen bisher noch nicht komplett eskalieren, zumindest nicht auf den Zeltplätzen: Eher traditionelles Warm-up bei Flunky Ball, Bier Pong und Trichtertrinken ist angesagt. Viel Bewegung kommt dann am frühen Freitagabend aber in der Moshpit bei den Donots: eine staubige Angelegenheit bei einem mitreißenden Konzert der Band aus Ibbenbüren mit immerhin auch schon 30 Jahren Bühnenerfahrung. Den Auftakt geben zuvor aber u.a. die UK-Rocker Deaf Havana.

Von Provinz zu Peter Fox

Anti-Flag haben dann mit gewohnter Flugshow von Bassist Chris Barker richtig Bock. Auf der zweiten Mainstage spielen Provinz - bei der Band aus dem tiefen, oberschwäbischen Süden ballt sich das Hurricane-Publikum geradezu. Dann rüber zu Peter Fox, der seine langersehntes Solo-Comeback auf der Mainstage gibt, sicher ein Highlight im Line-up von Freitag. Und er bringt richtig viele Leute auf die Bühne mit: Auf der aktuellen Tour werden zudem regelmäßig Personen aus dem Publikum gecastet, die Peter Fox und Band dann zeitweise tänzerisch begleiten.

Von Tash Sultana bis Kraftklub

Multi-Instrumentalistin Tash Sultana spielt mittlerweile die großen Festivalbühnen: Nach etwas längeren, technischen Problemen geht es dann, wie gewohnt, nach vorne. Die Liste der unterschiedlichen Instrumente, die die Australierin spielt und dann loopt, ist lang. Billy Talent liefern solide ab, bevor das gefühlt zweite Highlight des Tages ansteht: Kraftklub sind wie viele andere Bands des diesjährigen Lineups gern gesehene Gäste auf dem Hurricane. Die Chemnitzer legen mit einem Knall los, der Vorhang fällt und die Band, Felix Kummer ist auf der Bühne sehr präsent und später auch im Publikum, gibt direkt Gas. Ein feiner erster Festivaltag.

Sonnenbrandgarantie inklusive - und dann: Unwetter

Der Samstag beginnt Two Door Cinema Club auf der River Stage inkl. Sonnenbrandgarantie. Es ist merklich wärmer geworden: Perfektes Festivalwetter, und die Leute haben Bock. Seichter Indiepop aus Nordirland passt perfekt zur nachmittäglichen Festivalstimmung. Das Infield gleicht einer Staubsäule. Funeral For A Friend legen direkt danach auf der Forest Stage los. Die Menge hat es allerdings mehrheitlich zu My Ugly Valentine verschlagen. Trotz allem ein solides Emo-Indie-Brett aus den Nuller-Jahren und tatsächlich das erste Konzert der Band in 2023, laut Ansage von Sänger Matthew Evans.

Mittlerweile erstreckt sich ein langer Steg ins Publikum, der am Vortag noch fehlte. Muse hatten sich den gewünscht, aber dazu später mehr. Chvrches - mit ihrer großartigen Frontfrau Lauren Mayberry, die wie ein Derwisch über die Bühne kreiselt -, elektrisieren das beseelte Publikum. Besser geht es eigentlich nicht. Bevor Madsenaber die Main Stage betreten können, bricht ein Unwetter herein. Hurricane eben. Wind, Starkregen und zeitweise Hagel fegen eine halbe Stunde lang über das Gelände.

Die Headliner kommen

Tut der Stimmung aber keinen Abbruch, im Gegenteil: All diejenigen, die sich nicht mehr unter ein Dach retten konnten, feiern einfach noch enthusiastischer. Weiter geht es dann mit den Lumineers, die eine ziemlich große und erstaunlicherweise junge Crowd vor die Bühne ziehen. Schöner Indie-Folk aus Denver, mit allen erwartbaren Hits der Band. So langsam starten aber die Headliner durch. Bei Marteria sind Bengalos und Pyros Standard, seine Live-Qualitäten dazu und fertig ist eine mitreißende Show: Die Fans drängen sich vor der Bühne. Bis zur letzten Reihe wird gesprungen und getanzt. Nach der Wall of Hip-Hop (aka Wall of Death) pausiert die Show kurz, vermutlich musste erst mal wieder Ordnung hergestellt werden bzw. sicher gegangen werden, dass alle Beteiligten noch okay sind. Die Zugabe dann mit viel Feuer und Adrenalin.

Stadionrock auf dem Hurricane: Muse

RIN begeistert danach ein sehr junges und textsicheres Publikum und zeigt seine neue Bühnenshow, die anfangs nur aus drei großen Plattformen unterschiedlicher Höhe besteht, von denen RIN abwechselnd seine Songs performt. Dann aber: Muse. Der Headliner des Tages. Matthew Bellamy hat sich dafür, wie gesagt, extra einen Steg ins Publikum bauen lassen, auf dem er hoch und runter läuft und sich direkt vor uns zu einem Gitarrensolo niederkniet. Manchmal braucht man auch etwas Glück. Den ersten Song performt die Band allerdings mit Masken vor einem brennenden Logo über der Stage. Als die Masken fallen, geht es richtig rund. Stadionrock auf dem Hurricane. Passt.

Zerfeiert aber glücklich

Der Sonntag stellt sich als weiterer, herrlicher Festivaltag heraus. Top Stimmung im Publikum und keine Unwetterwarnung in Sicht. Kann losgehen. Man sieht nicht wenigen Menschen die Spuren der vergangenen zwei, drei Tage mittlerweile an: Zerfeiert aber glücklich. Die Vorfreude als auf den Abschluß mit Placebo und Die Ärzte auf den großen Bühnen ist definitiv da. Zunächst zeigt sich aber Clueso sichtlich überrascht, wie viele Leute er vor seine Bühne gezogen hat - und er hat richtig Bock. Mit Bläsersection im Rücken treibt der Erfurter das Publikum an - wobei dieses das eigentlich gar nicht mehr nötig hat, so ausgelassen geht es zu.

The 1975 und die Weinflasche

Danach stehen Loyle Carner und Hip Hop aus Süd-London an: Von der Fachpresse gefeiert, vom Publikum heute eher verschmäht. Trotzdem liefert der Brite eine großartige Show, die die fachkundige Crowd wohlwollend und kopfnickend quittiert. Kurz zurück zur River Stage. The 1975 geben sich die Ehre. Zuletzt sorgte die Band bzw. Matty Healy weniger durch Musik, als durch die Gerüchte um Taylor Swift für Schlagzeilen. Matty mit Flachmann auf die Bühne, Kippe darf natürlich auch nicht fehlen, und so fragt man sich die ganze Zeit, ob er angetrunken ist, oder dies Teil der Show ist. Nach dem Flachmann findet sich eine Flasche Rotwein, die ihn von nun an begleitet. Wie auch immer, die Band liefert begeisternd ab, die Briten kommen besonders bei den Jüngeren gut an.

Mit QOTSA auf der Zielgeraden

Nun aber langsam auf die Zielgerade: Queens Of The Stone Age machen den Anfang vom Ende: Brachialer Stoner-Rock auf der großen Bühne. Josh Homme und seine Jungs starten voll durch. Circle-Pits bilden sich und Staubsäulen stehen über dem Publikum. Kaum ist der letzte Akkord verklungen, stehen Placebo schon nebenan auf der Bühne, und Brian Malko stellt klar: "Don't believe the Brexit bullshit, we are a European Band!" Routiniert und tragend spielen sie sich durch ihre Diskographie, bevor das Kate Bush-Cover "Running Up That Hill" zum Schluss fast zu Tränen rührt.

"Wir wären sonst nicht aufgetreten"

Weniger rührselig gerät dann das Finale mit Die Ärzte. Als der große Vorhang fällt, der die Bühne verhüllt, ertönt "Westerland" aus den großen Boxentürmen: Irgendwie ist der Ärzte-Hit zu einer norddeutschen Hymne geworden, auch für diejenigen, die noch nie auf Sylt waren. Wie gewohnt palavern Bela und Farin zwischen den Songs jede Menge Blödsinn, der heute richtig unterhaltsam kommt.

Nachdem sich Bela bei einem Security vor der Bühne mit Handschlag für seine gute Arbeit bedankt hat, ruft Farin zum Crowdsurfen auf. Das ist seit einigen Jahren aus Sicherheitsgründen beim Hurricane verboten, aber Farin stellt klar: "Wir wären sonst nicht aufgetreten." Ob Spaß oder Ernst, man weiß es bei den Ärzten nie so recht. Eine tolle Live-Band bleiben sie nach all den Jahren so oder so. Und so senkt sich langsam die Sonne über dem Eichenring, und wir treten langsam aber sicher die Heimreise an.

Text und Fotos Björn Buddenbohm.