Man weiß gar nicht wohin mit seinen Gefühlen: Das erste Berlin-Konzert als überirdischer Ritt in die Vergangenheit.

Berlin (jas) - Der Hype um die Band aus Oxford ist riesig, auch ohne neues Album. Sieben Jahre nach ihrer letzten Tour und neun Jahre nach dem letzten Berlin-Gastspiel beim Lollapalooza stehen Radiohead an einem verregneten Montagabend auf der Bühne der Uber Arena für ihr erstes von vier restlos ausverkauften Konzerten.

Wie es heutzutage so ist, bekam man sämtliche Videoschnipsel und Setlisten bereits via Social Media um die Ohren gehauen, das war 2000 noch anders, als ich das Vergnügen hatte, sie im niederländischen Nijmegen mit Sigur Ros im großen Zirkuszelt live zu erleben. Seitdem ist viel Zeit vergangen, aber Radioheads Songs haben stetig die Herzen neuer Generationen erobert.

Haben Radiohead früher auf der Bühne gelacht?

Die Bühne ist in der Mitte des Innenraums aufgebaut und entfacht bereits 20 Minuten vor Beginn der Show Begeisterung im Publikum. Statt einer Vorband sehen wir eine Lichtinstallation in Form von Rechtecken, die rund um die Bühne abwechselnd aufleuchten und die Fans zum Jubeln herausfordern. Ein optisch und akustisch gelungenes Warm-up, bis es um 20:30 Uhr pünktlich losgeht - mit dem Indierock-Brecher "Planet Telex" vom Album "The Bends".

Zusätzlich zur Stammbesetzung aus Thom Yorke, Ed O'Brien, Colin und Johnny Greenwood sowie Phil Selway gesellt sich mit Chris Vatalaro ein weiterer Schlagzeuger, wodurch der Sound deutlich an Dynamik gewinnt. Sowieso herrscht viel Bewegung an diesem Abend auf der Bühne. Vom Oberrang aus ist sehr gut zu beobachten, wie die Musiker ihre Positionen nach jedem Song ändern.

Mal sitzt Johnny Greenwood am Klavier oder an zusätzlichen Percussiontrommeln, während O'Brien auch mal winkt und mit seiner Hand auf der linken Brust die aufrichtige Zuneigung zu den Fans bezeugt. Thom Yorke dreht ebenfalls seine Runden, tanzend und lächelnd zeigt er sich mit und ohne Gitarre von allen Seiten. Die Band ist in Topform und macht einen glücklichen Eindruck. Haben Radiohead früher auf der Bühne gelacht? Trotz schwerer Lyrik und Erinnerungen an unerwiderte Liebe überträgt sich die Freude direkt auf die begeisterten Fans.

Auf "Creep" wartet man vergeblich

Auf "Thinking About You" oder "Creep" wartet man vergeblich, nimmt es den Herren aber nicht übel. Mit dem Debüt "Pablo Honey" begann 1993 die Liebe zu dieser talentierten Band. Man teilte die Schwermut, die Ängste und die Verwirrungen mit den englischen Pop-Melancholikern und fühlte sich einfach verstanden. Live baut die Band immer noch eine direkte Beziehung zum Publikum auf. Da sind Ansagen zwischen den Songs kaum notwendig.

Die visuellen Projektionen, erste Gitarrenriffs und Klaviereinsätze reichen, um ein Feuer der Emotionen zu entfachen. Schließlich besteht ihr Oeuvre aus mindestens fünf genialen Platten. Die Über-Hymne "2+2=5" spielen sie natürlich. Der Song beginnt wie so oft bei Radiohead ruhig, bevor das Gitarrengewitter durchbricht.

Wohin nur mit den Gefühlen?

Yorkes Stimme, zum Glück wieder vollständig genesen, ist einfach nur überragend: Mühelos gelingt ihm der Übergang vom fragilen bis zum hymnischen Gesang. Das Wechselspiel zwischen Melancholie und euphorischem Wahnsinn ist das Herzstück der Formation. Man weiß gar nicht wohin mit seinen Gefühlen. Ein Konzert als überirdischer Ritt in die Vergangenheit. Zahlreiche Erinnerungen, die man schon verdrängt hatte, entfachen die Songs des Albums "Hail To The Thief" aus dem Jahr 2003.

Und dann sind da natürlich noch die Klassiker der Alben "Kid A" und "OK Computer": Sie gesellen sich zur nostalgischen Euphorie und katapultieren einen zurück in die Zeiten zwischen Tränen- und Wutausbruch. Im legendären Cartoon-Video von "Paranoid Android" wusch sich der Junge unter der Dusche mit der lila Radiohead-Mütze die Augen mit Shampoo aus: Mental Health und die Veränderung der Lebensumstände durch technischen Fortschritt waren schon vor drei Jahrzehnten Thema der Band.

Das immer noch herzzerreißende "All I Need" von 2007 zählt für mich mit dem anschließenden "Let Down" zu den Highlights des Abends. Das Potpourri aus Rock, Pop, breitem Synthie-Sound und jazzigen Elementen kommt auf Platte verschachtelt daher, vielleicht auch ein wenig verkopft, aber findet live immer harmonisch und melodisch zueinander. Ein avantgardistisch-kreatives Gesamtwerk. Yorke und O'Brian harmonieren auch gesanglich bestens miteinander, etwa auf dem bereits erwähnten "Let Down" von "OK Computer".

"Bodysnatchers" von "In Rainbows" beendet den eineinhalbstündigen Part mit neuerlichem Gitarrenkrach, bevor die nächste Herzschmerz-Nummer mit "Fake Plastic Trees" das Finale einläutet. Nach diesen zwei Stunden geht man rundum beseelt nach Hause. Ich verzeihe sogar meinem ehemaligen Mitbewohner, der mich damals jeden Abend mit "Karma Police" gequält hat. Monatelang übte er den Song auf der Gitarre. 25 Jahre später kann ich ihn wieder hören und schließe diese Band komplett ins Herz.

Text: Jasmin Lütz. Fotos: Alexander Lake.

Setlist Berlin 8.12.2025:

Planet Telex
2 + 2 = 5
Sit Down. Stand Up.
Lucky
15 Step
The Gloaming
Kid A
No Surprises
Videotape
Weird Fishes/Arpeggi
Idioteque
Everything in Its Right Place
Bloom
The National Anthem
Daydreaming
All I Need
Let Down
Bodysnatchers

Zugaben:

Fake Plastic Trees
Jigsaw Falling Into Place
Paranoid Android
A Wolf At The Door
You And Whose Army?
Just
Karma Police

Fotos

Radiohead

Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Radiohead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig)

Weiterlesen

laut.de-Porträt Radiohead

Ob es ein Freitag war, an dem sich Thom Yorke, Ed O'Brien, Phil Selway, Colin Greenwood und dessen Bruder Jonny zusammenfanden, um an der Abingdon Public …

2 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 9 Stunden

    Heute ist ein weiteres Einhorn geboren, da bürg' ich für! ♥️

  • Vor 8 Stunden

    Tolle Hommage an Pur mit der Bühne in der Mitte.

    • Vor 8 Stunden

      Kann man verstehen, beide Bands sind Legenden und seit Dekaden stilistisch und freundschaftlich eng verbunden. Freilich gab es aber hin und wieder Zerwürfnisse, etwa das Thom seinen Song True Love Waits nannte und Hartmuts Vorschlag, I Love you (no matter how it sounds), zurückwies.

    • Vor 6 Stunden

      Vielleicht vertue ich mich da, aber ich meine gelesen zu haben, dass beide Frontmänner Schwierigkeiten damit hatten, bei der gemeinsamen Headliner-Tour 2003 die gleichen Duschkabinen nutzen zu müssen. Das hat glaube ich so geendet, dass sich Hartmut Engler nur noch die Zähne geputzt und Tom Yorke die Hände nur mit Wasser ohne Seife gewaschen hat.

    • Vor 3 Stunden

      Ich wollte erst schreiben, dass das mit Hartmut Engler nix zu tun hat, vielmehr Yorke sich die Hände nicht mehr mit Seife wäscht, seitdem er beim Händewaschen versehentlich Seife ins Auge bekommen hat, mit den bekannten Folgen. Dann habe ich "Thom Yorke Auge" gegoogelt und erfahren, dass sein Auge seit Geburt gelähmt ist und er deswegen diverse Operationen über sich hat ergehen lassen müssen, mit den bekannten Folgen. Jetzt fühle ich mich, obwohl ich es echt nicht bös gemeint habe, irgendwie wie ein Creep. True story.

    • Vor einer Stunde

      Was machst du hier überhaupt? Du gehörst hier nicht hin!