"Ich falle nicht um, ich verpuffe", stellte Lemmy einst klar. Unser Autor Giuliano Benassi hat den Motörhead-Chef einmal getroffen.

Konstanz (giu) - Auf Motörhead war so viel Verlass wie auf das Christkind. Möglicherweise, weil Frontmann Ian Kilmister, allgemein bekannt als Lemmy, und der Heiland nur um einen Tag versetzt auf die Welt gekommen sind. Wenn auch mit 1945 Jahren Unterschied. Jedenfalls standen Lemmy und seine Band Jahr für Jahr irgendwann zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember in deutschsprachigen Gefilden auf der Bühne.

Markus Kavka, ehemaliger MTV-Moderator, meinte einst, dass man von der Anzahl der Motörhead-Besucher die aktuelle Beliebtheit von Rock-Musik ableiten könne. Er hatte Recht. Doch die Band schien das nicht zu kümmern. Sie war da, um zu rocken. Ob halb leer oder brechend voll, ob in der Provinz oder in der Großstadt, ob im Club oder in der Sporthalle, die Show war immer dieselbe: ein paar Lieder von der aktuellen Platte (alle zwei Jahre gab es eine neue), vor allem aber Klassiker, die meisten vom Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Als Zugaben meist das obligatorische "Ace Of Spades" und "Overkill", bei besonderen Anlässen wie im Londoner Hammersmith oder in Wacken, "Bomber". 90 Minuten Vollgas, ohne Schnickschnack. "We are Motörhead. We play Rock'n'Roll", wie Lemmy zu Beginn der Konzerte zu sagen pflegte.

Die Welt retten? Nicht mit Lemmy!

Das Publikum war meist eher von der rauen Sorte, doch herrschte eine erstaunlich heimelige Atmosphäre. Unvergessen der Auftritt im November 2013 im Münchener Zenith. Die Schlange vor dem Tor in der eisigen Nacht war ewig lang, die Stimmung innen um so aufgeheizter. Vor dem Bierausschank flogen plötzlich die Fäuste, zwei Streithähne hatten sich gesucht und gefunden. Noch in der Aufwärmphase setzte plötzlich ein penetrantes Fahrradklingeln ein. "Weg da! Lasst mich durch! Ich will in den Graben!" schrie eine Frau um die 70 (hätte aber auch erst 40 sein können), mit langen, ungepflegten grauen Haaren, die einen Rollator vor sich her schob. Ungläubig öffnete sich eine Gasse. "Muss ein altes Groupie von Lemmy sein", sagte jemand, alle lachten. Die Streithähne reihten sich wieder friedlich in die Bierschlange ein.

Auch als Interviewpartner war Lemmy begehrt, denn er war einer der ganz wenigen Rockstars, die etwas zu sagen hatten, ohne Botschaften zu vermitteln oder die Welt retten zu wollen. Selbst dem neunten oder zehnten Interviewer bot er erst mal eine Marlboro an und schenkte Whiskey-Cola ein, bevor er sich selbst großzügig bediente. Er ging auf die Fragen ein, selbst wenn er sie sich zum 1000. Mal anhören musste. Fand sich ein gemeinsamer Nenner (Stichworte: Erster oder Zweiter Weltkrieg), ließ er sich mit Begeisterung darauf ein. Natürlich hatte er seine Kanten. Acht von zehn Menschen, die ihn umgäben, seien Idioten, erklärte er 2008 im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Besonders angewidert war er von Politikern und Menschen mit Macht – wegen dem, was sie mit ihr anstellten. "Just 'cos you got the power / that don't mean you got the right ", stellt er in einem seiner besseren Texte klar.

"Ich bin nur ein Kerl, der Glück gehabt hat" (Lemmy)

Aufgrund seiner felsenfesten Überzeugungen verehrte man den Briten in der Rock- und Metal-Gemeinde lange vor der würdigen DVD-Hommage "Lemmy" von 2011 als Idol und Role Model, ja als Gott. Ein Vergleich, den Lemmy im Interview mit uns im Jahr 2005 gewohnt launig von sich wies: "Nein, ich hab ihn [Gott] neulich getroffen, er ist 'n Stück größer. Ein ganz schönes Stück größer. Ich bin nur ein Kerl, der Glück gehabt hat und mehr oder minder berühmt geworden ist. Ich hab einfach das getan, was ich wollte, und bin damit berühmt geworden, das war's. Alles, was wir mit Motörhead gemacht haben, haben wir getan, weil es uns so gefallen hat. Wenn andere das auch noch mögen, ist das ein Bonus."

40 Jahre Sex'n'Drugs'n'Rock'n'Roll

Musikalisch war Lemmy kein Revolutionär, doch er spielte seinen Bass wie eine Gitarre und prägte mit seinen harten Akkorden und seiner heiseren Stimme am Rande des Überschlags den Sound der Band, der er 40 Jahre lang vorsaß und mit der er alle Höhen (wenige) und Tiefen (viele) des Showgeschäfts erlebte. Wie kaum ein anderer verkörperte er die Ideale Sex (ausschweifend), Drugs (ebenso, aber niemals Heroin, das er verdammte) und Rock'n'Roll (klar). Zeitweise muss er einen beachtlichen Teil der Jahresproduktion von Jack Daniel's weggekippt haben - ohne Sponsorenvertrag, wie er mit seinem typischen trockenen Humor erklärte.

Trotz der Lautstärke und seiner nicht gerade Vertrauen erweckenden Erscheinung hatte Lemmy auch seine einfühlsamen Seiten. Auf "1916" kam er ausnahmsweise ohne Bass aus und ließ sich von Orgel und Streichern begleiten, um das tragische Schicksal zweier Jugendlicher in einem Schützengraben des Ersten Weltkriegs zu schildern. Eine Kurzform von Erich Maria Remarques "Im Westen Nichts Neues", das seine Abscheu vor Krieg und Gewalt zusammenfasste. Das Thema beschäftigte ihn sein Leben lang. Dennoch sammelte er eifrig Nazi-Uniformen, die er auch gerne trug, auf seinem Bass prangte ein Eisernes Kreuz. Den Grund dafür dürfte nur er selbst gekannt haben.

Letztes Motörhead-Konzert in Berlin

Spätestens, als Lemmy 2013 einen Defibrillator eingesetzt bekam, weil seine Pumpe nicht mehr so richtig wollte, war es vorbei mit den kleinen Hallen. Schnell Motörhead sehen, so lange es noch geht, schien das Motto vieler Zuschauer zu lauten. Die Band zog weiterhin ihr Ding durch, behielt den Zweijahresrhythmus der Studioalben bei wie auch den randvollen Tourkalender. Der eine oder andere Auftritt musste ausfallen oder abgebrochen werden, doch Lemmy rappelte sich immer wieder auf.

"I was born to lose / And gambling is for fools / But that's the way I like it / I don't wanna live forever" sang er im bekanntesten Lied von Motörhead, "Ace Of Spades", ursprünglich gefolgt von "And don't forget the joker". "But apparently I am", hatte er in den letzten Jahren daraus gemacht.

Letztlich war selbst Lemmy nicht unsterblich. Er ist nicht auf der Bühne von uns gegangen, sondern zuhause in Los Angeles, bei seinem Lieblings-Videospiel, wie seine Bandkollegen Phil Campbell (Gitarre) und Mikkey Dee (Schlagzeug) auf der Bandwebseite am 28. Dezember 2015 verkündet haben, vier Tage nach seinem 70. Geburtstag.

Ein schönes, friedliches Bild. Das zum Glück trügt. Ihr letztes Konzert haben Motörhead am 11. Dezember in der Max-Schmeling-Halle in Berlin gegeben, das nächste hätte am 23. Januar im englischen Newcastle stattfinden sollen. Also doch Vollgas bis zum Ende, genauso wie Lemmy es in einem seiner besten Lieder beschrieben hat: "The only time I'm easy's when I'm / Killed by death, killed by death, killed by death".

Fotos

Motörhead

Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Motörhead,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig)

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