laut.de-Kritik
Was für ein Tsunami!
Review von Ulf Kubanke"Es gibt insgesamt viel zu wenig von Rio Reiser!" Dieser Klageruf ist einer der meist gehörten Sätze im Lager der Rio-Fans. Leider stimmte das bislang auffallend. Ein paar Scherben-Scheiben, wenige Soloplatten und eine winzige Handvoll Live-Perlen waren im wesentlichen alles, woran sich der geneigte Reiser-Freund halten konnte. Diese Zeiten sind nun vorbei! Die "Blackbox Rio Reiser" kommt mit nahezu 400 unveröffentlichten Tracks samt Buchbeigabe aus der Deckung. Was für ein Tsunami!
16 randgefüllte CDs voller Demos, Projekte, Outtakes, Kollabos usw. bilden einen Fundus, der - zusammen mit den regulären Veröffentlichungen - eine nahezu lückenlose Biografie ergibt. Dazu das schöne Booklet, das Zusammenhänge erklärt und als echte Sekundärliteratur fungiert. Das klingt phänomenal und ist es teilweise auch. Dennoch bleibt so manch aufgeworfenes Fragezeichen samt Irritation übrig.
Als Gesamtpaket erweist sich die postmortale Box nämlich als durchaus zweischneidiges Schwert. Betrachtet man die Box aus rein musikhistorischer Sicht und vertritt dabei den Standpunkt, dass jede Note, jede Silbe im Interesse der Nachwelt dokumentiert gehöre, so müsste man allein schon wegen Detailgenauigkeit und Quantität die Höchstwertung zücken. Denn hiernach kann nichts mehr kommen. Der Gipfel ist nunmehr erreicht. Alle Karten liegen restlos auf dem Tisch. Unter anderem finden sich hier die tatsächlich allerersten Gehversuche sowie jene Theatervertonungen, die Reiser ab dem Alter von 13 (!) Jahren als offizieller Hauskomponist für Hoffmanns Comic Theater verfasste.
Doch dieser Mond hat eine dunkle Seite. Losgelöst vom Kontext jener Zeit, in der nicht nur Rio sondern auch die deutsche Rock-/Popkultur noch in den Kinderschuhen steckte, funktioniert vieles nicht. So zeitgebunden erweist sich manches vermeintliche Nugget bei mehrmaligem Hören als skizzenhaftes Katzengold. Der Weg des musikalischen Ausnahmekriegers ist erkennbar, das Ziel in Sicht, indes längst nicht erreicht. Dies gilt ebenso für etliche Nummern aus Reisers 70er Theaterphase, die ohne direkten Zusammenhang zum Schauspielstück längst nicht so unabhängig klingen wie zB seine regulär veröffentlichten Soundtracks für die beiden Tatorte.
Das qualitative Auf und Ab gestaltet die Spurensuche samt Skiptaste für den Hörer zunächst recht interessant. Sehr schnell jedoch mischt sich in die pralle Frucht ein schaler Beigeschmack. Es drängt sich der Eindruck auf, Rio hatte sehr gute Gründe, zu Lebzeiten eben nicht alles zu veröffentlichen, was Speicher und Schubladen hergeben. Nicht einmal in den Zeiten finanzieller Not zog er den Release aller Auftragsarbeiten in Betracht. So bleibt schlussendlich die Frage, ob Reisers Nachlassverwalter hier wirklich im Interesse seines mutmaßlichen Willens handeln. Wohnt wirklich jedem hier gebotenen Song ein künstlerischer Erkenntnisgewinn inne? Man darf geteilter Meinung sein.
Gleichwohl findet sich neben dem Flitter auch so manches Juwel, für das man den Erben Reisers auf Knien danken möchte. Die Stücke die er etwa für und mit Freunden oder Kollegen (u.a. Gitte Haenning oder Ulla Meinecke) schrieb sind die Entdeckung allemal wert. Besonders jedoch die späten Solo-, Film- und Musical-Nummern (zwischen 1989 bis 1995) verschaffen so gut wie jedem Rio-Freund ein weihnachtliches Gefühl. Hier bekommt ein jeder genau jenen musikalischen Präsentkorb, den man sich seit dem viel zu frühen Dahinscheiden von Rio Grande stets wünscht.
So kommt niemand hierbei umhin, sich sein eigenes Gesamturteil zu bilden. Aber vielleicht ist genau das auf lange Sicht der philosophische Clou dieses Pakets. Am Ende bleibt zumindest eine Erkenntnis: "Lass uns 'n Wunder sein!" Rio Reiser war eines!
1 Kommentar mit 2 Antworten
ich "Kenne" ihn eigentlich nur wegen dem sehr sehr geilen "einspruch! rio reiser diskutiert mit störkraft" was ich mir hauptsächlich wegen ihm und thorsten lemmer immer noch oft und gerne ansehe. anschließend wird natürlich "dreckig kahl und hundsgemein" gehört. da hört es dann auf
Fand es da Schade das diese Störkrafttypen sich nicht besser informiert hatten. Eine Diskussion über Ton Steine Scherben hätte witzig werden können.
ja! aber so sehr ich sie auch mag ♥, es war schon schön, dass sie wenigstens etwas informiert waren wirklich was auf dem kasten hatte da nur der lemmer. und eben rio. aber ich schaus trotzdem immer wieder gern.
schade, dass reiser und störkraft nicht mehr existieren! ich hätte gerne diese diskussion 2016 gesehen, also aktuell.
es ist nämlich paradox eigentlich.
die flüchtlingsheime, die in den 90er gebrannt haben, konte man an einer hand abzählen. dafür gabs tatsächlich eine gewaltbereite skindhead-szene und wirklich viele bundesdeutsche (skinhead) Bands, die sehr sehr sehr primitiv gehasst haben.
aber als damals diese vier oder fünf flüchtlingsheime brannten, gab es instant lichterketten. proteste, schreie nach liebe, aufstände der aufrechten usw.
heute (2015/16) gibt es keinen primitiven gewaltverherrlichen skinhead rock aus der brd. klar, es gibt noch "rechtsrock" und damit wird zum teil dick kohle gemacht. aber das ist entweder so pseudo-intellektuell wie stahlgewitter oder so debil-klamaukig wie die stadtmusikanten. oder so heimlichschwule balladenscheisse wie sturmwehr. So wirklich primitiv gehasst und gehetzt wird von der BRD aus schon lang nicht mehr.
ich meine, gut, dank thomas kuban kennen jetzt auch 97+x geborene den blut muss fließen evergreen. aber die expliziten lieder, die er gefilmt hat, stammen alle von früher.
ich sehe auch kaum noch gewalttätige skindheads. vllt im osten noch ein paar. also wirklich so klischeekraken. bomberjacken und co. solche jacken und springer sind ja seit einigen jahren bei npd demos verboten
Dafür, auf der anderen seite, brennt nahezu jede nacht eine flüchtlingsunterkunft und die gewalt nimmt zu. aber wirklich stören tut das niemand, ich meine, klar, auf bento, vice, spiegel, zeitonline und so, wird in einer tour gejammert und gewarnt. aber den durchschnittsdeutschen tangiert das nicht