19. August 2021
"Ich gebe dir keinerlei verf***te Interviews!"
Interview geführt von Maximilian SchäfferShane MacGowan ist die Identifikationsfigur der irischen Musik, ein Heiliger aus Whiskey und Guinness. Als Sänger von The Pogues brachte er den Rotz des Punks in die Welt der traditionellen Folklore.
Heute hat der Mann mit den einst berühmten Stumpenzähnen ein künstliches Gebiss und sitzt die meiste Zeit im Rollstuhl. Julien Temple ist als Regisseur mindestens ebenso legendär. Zu seinen größten Werken zählt der erste Sex Pistols-Film "The Great Rock'n'Roll Swindle" sowie das Musical "Absolute Beginners" mit David Bowie. Für die Rolling Stones und Paul McCartney drehte er Musikvideos.
Nun hat Julien Temple mit "Shane" das erste Biopic über den The Pogues-Frontmann Shane MacGowan angefertigt, es kommt am 19.8.2021 in die deutschen Kinos. Im Interview spricht er über schwierige Dreharbeiten und charakterliche Herausforderungen durch seinen Protagonisten.
Mr. Temple, Sie und Shane MacGowan kannten sich aus der frühen Punk-Szene in London. Wie haben Sie sich nach all den Jahren wiedergetroffen?
Seltsamerweise hat er mich aus heiterem Himmel gefragt, ob ich einen Film über ihn machen möchte. Beziehungsweise hat er seinen Manager gefragt, mich zu fragen, der wiederum meinen Kameramann kennt, der sich im selben Pub wie Shane betrinkt. Ich war interessiert, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich es machen wollte oder konnte, weil ich gerade noch mit dem Fertigstellen eines anderen Films beschäftigt war. Außerdem ist er für jegliche Zusammenarbeit offensichtlich eine sehr schwierige Person und viele Leute warnten mich im Vorneherein vor ihm. Als aber Johnny Depp mit ins Spiel kam, der in Los Angeles der Babysitter meiner Tochter war und gleichzeitig ein Freund von Shane MacGowan ist, wurde ich etwas zuversichtlicher. Die beiden kannten sich wohl aus dem "Viper Room", Johnnys ehemaligem Nachtclub, wo die Pogues in den 90ern aufgetreten waren. Mir kam das wie ein gutes Gegengewicht vor. Das Erste, was Shane zu mir sagte, als ich ihn dann traf, war: Ich gebe dir keinerlei verfickte Interviews! Hau ab und mach du deinen eigenen Film! – richtiggehend aggressiv. Ich versuchte ihn zu überreden, aber keine Chance.
Das ist schon ziemlich großspurig, wenn man selbst um einen Film gebeten hat, nicht?
Wir fingen eben da an, wo wir vor vierzig Jahren aufgehört hatten. Ohne ein großes Interview machte es die Angelegenheit eines Biopics ziemlich schwer. Nicht, dass ich besonders gerne Interviews mit jemandem zeige, der in einem Rollstuhl sitzt und sich kaum bewegt. Die Selbstaussage gibt aber zumindest einen Rahmen, um den man den Film bauen kann. Was ich stattdessen getan habe, war jedes verfügbare Interview mit ihm, ob auf Super-8-Film oder Kassettenrekorder, aufzuspüren. Nach einer gewissen Zeit hatte ich aber immer noch das Gefühl, nicht mit dem Film voranzukommen, sondern in der Materialsammlung festzustecken. Ich überlegte mir, wie man ihn auf irgendeinem Wege austricksen könnte, um doch noch in eine Interviewsituation zu kommen. Also haute ich Shane an: "Ach, wieso trinkst du nicht einfach ein Bier mit Johnny?"
"Man erkennt das Kind in diesem menschlichen Wrack"
Ging ihr Plan auf?
Mehr oder weniger. Wir trafen uns in Johnny Depps Villa in Südfrankreich, gestalteten seine Hausbar zum Irish Pub um, stellten Kameras auf und richteten die Beleuchtung für die Dreharbeiten ein. Wir warteten den gesamten ersten Abend lang, bis Shane sich irgendwann blicken ließ, ungefähr bis 23:00 Uhr. Aber dann warteten wir weiter und bekamen Nachricht, dass Johnny an diesem Tag nicht mehr kommen würde – er war im Obergeschoss. Den nächsten Tag und den nächsten Abend lang warteten wir wieder, bis Johnny schließlich auftauchte, aber Shane eine Nachricht schrieb, dass er heute nicht kommen würde. Dann, in der dritten Nacht, bekamen wir sie schließlich beide im selben Raum vor die Kamera. Es war ungefähr Mitternacht und sie begannen zu trinken und zu plaudern und wir begannen zu filmen. Um acht Uhr morgens sagte meine Crew, dass sie nun schlafen gehen wollte – wir hatten also acht Stunden Material. Nachmittags um 16 Uhr saßen die beiden immer noch in der Bar und sprachen nur über Belanglosigkeiten, andere Musiker, Geschichte, usw ... Shane lenkte konsequent von allen persönlichen Fragen ab. Von den besagten acht Stunden Material sind im Film gerade einmal fünf Minuten verwendet. Ich kam mir ein bisschen vor wie der Dokumentarfilmer David Attenborough, der eine Woche lang auf den Bergtiger wartet und irgendwann läuft er an der Kamera vorbei.
Haben diese Mengen an Material zumindest Ihnen als Regisseur eine neue Perspektive auf MacGowan eröffnet?
Mein Kameramann hatte tatsächlich zwei Kameras auf Shane richten lassen und eine hervorragende Lichtsituation geschaffen. Ich hatte also 16 Stunden an Aufnahmen von Shanes Gesicht, wie er Johnny Depp beim Reden zuhört. Desto mehr ich in das Licht in seinen Augen starrte, desto mehr wurde mir seine Verletzlichkeit klar. Man erkennt das Kind in diesem menschlichen Wrack – im einen Moment sieht man ein Funkeln in diesem Blick, im anderen Moment schläft es plötzlich ein.
"Der Mann 'stirbt vielleicht bald' seit Jahrzehnten"
Er behauptet in Irland aufgewachsen zu sein, haben Sie dort auch gedreht?
Wir wollten ihn im Cottage seiner Großeltern filmen, nahe Tipperary, und wieder stellte sich die selbe Situation ein. Wir mussten täglich auf ihn warten, vier Tage lang hat er dieses Spiel mit uns gespielt. Jedes Mal wurde uns mitgeteilt, dass er, um vier Uhr nachmittags, gerade aufgestanden war. Einmal hieß es dann sogar, er wäre gerade auf dem Weg zum Auto. Am vierten Tag dann rief man uns an, er sei tatsächlich im Auto, und eine Stunde später nochmal, dass er nun im Pub der nächsten Stadt angehalten hätte, um seine alten Saufkumpanen zu treffen. Wir brachten die Kameras dorthin und als wir eintrafen, gab es bereits ein richtiges Gelage. Er knurrte nur: "Ich komme verficktnochmal nicht zum Cottage!" Ich sagte ihm, dass er es doch versprochen hätte, aber das war ihm egal. Auch seine Verwandten im Pub durfte ich nicht filmen.
Denken Sie, er hat Sie angerufen, weil er vielleicht bald stirbt?
Klar, darüber habe ich nachgedacht und das ist auch, was einer seiner engen Freunde vermutet. Aber der Mann 'stirbt vielleicht bald' seit Jahrzehnten, Shane ist unglaublich zäh. Nichtsdestotrotz hatte ich schon das Gefühl, dass ein Aspekt von Vermächtnis unabdingbarer Teil des Films ist.
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