laut.de-Kritik
Das lyrisch größte deutschsprachige Album der 90er.
Review von Stefan Johannesberg"Wir haben uns entschieden / So wie die meisten / Fürs Rattenrennen / Und fürs Eigenheim leisten / Du blickst herab / Mit diesem Wissen was los ist." Liedermacher Niels Frevert sitzt 2008 im Rotwein-getränkten Kettcar-Track "Am Tisch" in einer schicken Altbauwohnung und schaut zu seinem Freund Marcus Wiebusch hinüber, dem kauzig-arroganten grumpy old leftie, der seit jeher alles besser wusste. Doch Wiebusch hadert Sekunden später mit sich: "Ein Toast / Auf das Leben / Das Glück / Nur ich, ich komm' nicht mehr mit / Mit dem Leben / Dem Glück." Die Klarheit der Jugend, hinfortgerissen im Taumel der Tagesroutinen. Nicht nur Niels, auch Marcus ist jetzt Teil jener Kraft, die stets Gutes will, aber oft gar nix schafft: den Linksliberalen.
13 Jahre vor dem "Disch" sind die Fronten wesentlich klarer: "Die Feigheit hat einen Namen, linksliberal", rotzt der Hamburger Wiebusch mit seiner ersten echten Band But Alive auf "Natalie" vom zweiten Album "Nicht Zynisch Werden" seine Wut in die Welt, und er hat in den 90ern eine Menge davon. Bereits beim Opener "Nennt es wie ihr wollt" widmet sich der stets latent sprechsingende Marcus dem Ausverkauf der eigenen (Punk-)Szene. Einem Ausverkauf, der eben im Alter doch zum Eigenheim führt. Als Fundament dient ihm der wie aus einem Guss gespielte Mix aus melodischen Punkrock-Refrains und tempi-wechselnden Metal-Attacken, der But Alive so unverkennbar machte.
Ähnlich wild fliegt "Aus und vorbei" vorbei. Loriot-Zitat, Ska-Off-Beats, brutale Riffs und das nötige Pathos im Refrain - "Ein Hype, ein Star, ein Schuss und dann C&A und Schluss" - reichen Wiebusch für seine Abrechnung mit dem Generation X-Framing durch die Mehrheitsgesellschaft. Wie ein Chirurg zerlegt er den aufgedrückten Brand in der ersten Strophe: "Zuerst war alles nur ein Buch ('Generation X' von Douglas Coupland der Verfasser) / Und jeder wusste, wer wir sind / Nur wir leider nicht." Er steht damit im Geiste der Boxhamsters, die sich vier Jahre zuvor auf "Zu Klein" ebenfalls gegen die Ausweglosigkeit wehren: "Wir hatten nie no Future und glaubten an die Zeit."
Wiebusch hadert in jenen jungen Jahren – im Gegensatz zum späteren Weintasting im Eigenheim - nicht mich sich, sondern nimmt es mit der Szene, der Gesellschaft, Freunden wie Feinden zeitgleich auf. Immer in der Überzeugung, zu wissen, was los ist. Auf dem 93er-Debüt "Für Uns Nicht" schlägt er lyrisch noch ungestüm und wild um sich. Der obligatorische Anti-Nazi-Song, "Nur Idioten brauchen Führer" sorgt im Kampf der 90er gegen die rechten Glatzen für Zusammenhalt bei bedrohten Konzerten, "16" interpretiert Peter Maffays "Ich möchte nie erwachsen sein" und Alphavilles "Forever Young" auf Punkig-Hanseatisch, und in "Ohnmacht" sprengt er 1991 als Terrorist Bayer und Hoechst in die Luft.
Schaut man sich den Text von "Ohnmacht" noch einmal genauer an, wandert man schnell in Gedanken über die Brücke ins Camp der Letzten Generation und fragt sich als Generationskollege, warum wir nicht mehr getan haben: "Oh, seht uns an, wir stehen vor den Trümmern dieser Zivilisation / Ein paar clevere Affen erfanden das Rad / Hier kommt die letzte Generation / Die noch ein bisschen menschenwürdig leben kann / Die Gräber stehen bereit", und später: "Erzählt mir nichts von Recht und Ordnung / Wenn irgendeiner hier Amok läuft / Wenn morgen Regionen zu Wüsten werden und halb Indien ersäuft."
Marcus sieht jedoch die Machtlosigkeit solcher Parolen-getriebener Musik und distanziert sich schon zu But Alive-Zeiten von jener naiv-zornigen Anfangsphase: "Ich habe Musik mit 16, 17, 18 tatsächlich als Waffe gesehen (...) Wenn ich singe: 'Ohnmacht, ich spreng euch alle weg', dann ist das meine Meinung, und ich will, dass das alle anderen auch so sehen (...) Einen Song wie 'Ohnmacht' wird es von mir nie wieder geben!"
Musikalisch jedoch überzeugen die 1991 gegründeten But Alive von Anfang an und finden eine komplett eigene Nische zwischen Hafenstraße und Hamburger Schule. Hardcore-Punk, Rap, Ska, Metal und Indie Rock, forming like Voltron. Hagen van de Viven zelebriert an der Leadgitarre, Marcus als James Hetfield sorgt an der zweiten Klampfe für eine Punk-untypische, mächtige Soundwand. Schlagzeuger Frank Tirado-Rosales baut immer wieder Breaks und Grooves ein, die den Kopf zwischen Headbangen, Nicken und Schütteln ganz wuschig werden lassen. Nur am Bass wechseln sich, ebenfalls schön Metallica-like, die Bandkollegen häufig ab. Es gibt und gab keine andere Punkrock-Band, die so klang wie But Alive, und kein zweites Album fasst das Leben der 90er so prägnant und nachhaltig in Worte wie "Nicht Zynisch Werden?!"
Marcus kanalisiert seinen Hunger, der Welt zu erzählen, was los ist, ohne ihr zu sagen, was sie tun soll. Er findet seinen Stil aus Punchlines und Poesie, aus Parole und Meta-Ebene. In den Zwei-bis-drei-Minuten-Songs verdichtet er seine Gedanken so stark, dass ihm meist nur eine Zeile langt, um eine ganze Generation – dieses Mal würdig - zu beschreiben.
"Wer gebraucht wird, ist nicht frei. Wer braucht, wird niemals frei sein" und "ganz egal, welchen Weg wir wählen, nur die Momente sind es, die zählen." Im Herzen sitzt bei Marcus ein Rapper wie Nas, kluge Punchlines mit diversen Layern und Ebenen in wenigen Zeilen harmonieren auf "Weisst nur, was Du nicht willst" hervorragend mit den melodischen Leads und dicken Midtempo-Grooves. Weitere Beispiele gefällig? "Und zwischen den Verträgen / Sucht jeder das Leben" ("Überall") oder "Nichts ist brutaler als Moral / Die nur sich selbst genügt" ("Lasst es ihre Entscheidung sein"). Marcus verkopft (noch) nicht, "holt sich auf seinen Wortschatz keinen runter", sondern bleibt mit beiden Füßen auf der Straße.
Für die 80ies Babies, die vom Gartenzaun die Welt verändern wollen, ist das Mitte der 90er die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit. Eine Stimme, der im AJZ alle folgen konnten, die den ganzen rechtskonservativen, heute AFD-nahen CDU-Dreck der 90er genauso ablehnten wie den dogmatischen DDR-Schwachsinn der KPD-Deppen und die abgrenzenden Political Correctness-Pamphleten der Autonomen. Denn "nichts ist schwarz-weiß" und wenn du vergisst, wo du herkommst, wirst du dich selbst verlieren. Marcus wusste das und setzt seine Kraft auf die Liebe. "Es kommt nur auf dich und mich an, und dann ist der Rest der Welt dran" ("1 + 1= 3") und ganz besonders im schönsten Refrain des Albums: "Mich interessiert nicht, was du weißt / sondern nur, woran du glaubst / Mich interessiert nicht was du hast / Sondern nur, was du brauchst" ("Keine Gegensätze").
"Nicht zynisch werden" ist mit seiner Kompaktheit und dem Pop-Appeal das lyrisch größte deutschsprachige Album der 90er, vibrierend zwischen dem naiven Hunger der Jugend und der wachsenden Selbsterkenntnis eines Dichters und Denkers. In jenen Zeiten profitieren neben But Alive auch die Ska-Kollegen von Rantanplan und Slime für ihr Opus Magnum "Schweineherbst" von Wiebuschs Einfluss.
Doch die Weiterentwicklung, oder besser: das Erwachsenwerden ist lyrisch und musikalisch nicht aufzuhalten. Bereits beim dritten But Alive-Album "Bis Jetzt Ging Alles Gut" schleichen sich Indie-Rock-Anleihen zwischen die immer kryptischeren und verschnörkelteren Zeilen und bilden beim vierten und finalen Werk "Hallo Endophin" bereits des Rudels Kern. Der Weg für Kettcar, der Weg in die Linksliberalität, die Altbauwohnungen und ins Glück waren frei.
"Wenn es noch so bitter ist: Was bleibt, ist die Erkenntnis. / Im Falschen nichts richtig, ob im Nehmen oder Geben, / Dass wir alle nur eine Lüge leben / und es muss mehr als das hier geben." ("Natalie")
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit 3 Antworten
"Ich-Maschine" und "L'etat et moi" finde ich lyrisch besser.
Ja, ich würde hier auch zwischen Aussage und Lyrik unterscheiden. Blumfeld ist sicher lyrischer.
Ich stimme c452h da tatsächlich zu! Mir ist gerade schwindlig, erst mal Cro hören gehen.
Mhhh, wirklich gute Platte, aber die "Hallo Endorphin" hat mich langanhaltender begleitet.
Die funktioniert auch heute noch sehr gut.