21. Februar 2019
"Wir wollten an die Klassiker anknüpfen"
Interview geführt von Yan Vogel"Distance Over Time" ist ein klassisches Bandalbum, das in puncto Kompaktheit und Spielfreude überrascht. Schleppte sich das Quintett im Verlauf der theatralischen Wundertüte "The Astonishing" (2016) rührselig und verkrampft über zwei Stunden Spielzeit, kommt der neue Output einem Befreiungsschlag gleich.
Anstatt wie in der Vergangenheit klasisch ein Studio zu entern, quartierten sich Dream Theater auf einem Landgut, den Yonderbarn Studios in Monticello, New York, ein, verbrachten dort 24/7 und arbeiteten das gesamte Material in einer vergleichsweise kurzen Zeit von drei Wochen aus. Die Band verzichtet zwar nicht auf Soli und technische Kabinettstückchen, platziert diese jedoch geschickt und ziehen den Song nicht in die Länge. Herauskommt nach dem Debüt das zweit kürzeste Studioalbum der Bandgeschichte. Die entschlackte Herangehensweise wirkte sich auch auf die Chemie zwischen den einzelnen Mitgliedern aus. Speziell James LaBrie genießt die wiedergewonnene Möglichkeit, eigene Texte zu interpretieren. Vor allem steht seine Stimme wieder im Vordergrund. Diesen Vertrauensvorschuss zahlt er mit einer engagierten und variablen Gesangsleistung zurück. Entsprechend entspannt und selbstbewusst gibt sich der Kanadier beim abendlichen Skype-Plausch.
Bevor wir über euer neues Album "Distance Over Time" sprechen, kurz ein Schritt zurück: "The Astonishing" fiel regelrecht überbordend aus. Jetzt bewegt ihr euch wieder mehr zu euren Basics zurück. Wie siehst du das?
Die letze Platte war eine überlebensgroße, epische Rockoper mit einem riesen Anspruch. Wenn mir eine Band einfällt, die dieses Projekt stemmen konnte, dann Dream Theater. Wir verkörpern alle diese unterschiedlichen musikalischen Einflüsse, ob das jetzt die klassische Schiene, das Opernhafte, Jazz, Pop, die progressive Richtung oder die härtere Gangart ist. "The Astonishing" war ein großes Unterfangen und ein mutiger Schritt obendrein. Entsprechend hat es bei einigen Fans zu starken Polarisierungen geführt.
Wenn wir jetzt im Schnelldurchlauf auf "Distance Over Time" blicken, dann widmen wir uns wieder mehr den Dingen, die uns ausmachen und für die uns die Fans lieben, seit wir zum ersten Mal in der Szene aufgetaucht sind. Ich denke vor allem an "Images And Words", "Awake", "Scenes From A Memory" oder auch "Train Of Thought". Wir wollten an die Klassiker anknüpfen. Was sich als ein immens wichtiger Faktor für "DOT" herausgestellt hat, war, dass wir alle unter einem Dach zusammengelebt und jeden einzelnen Tag miteinander verbracht haben. Wir standen direkt in Kontakt und konnten die Energie jedes Einzelnen einfangen. Diese Tatsache ist sehr wichtig für den Entstehungs- und Entwicklungsprozess des neuen Albums.
Was denkst du über einige Aspekte aus den Arbeiten am Vorgänger, die ihr meines Erachtens in das Songwriting für die neue Platte mit reinbringt. Denn "DOT" fällt sehr Song orientiert und auf deine Stimme fokussiert aus. Was das angeht, sehe ich einige Parallelen zu "The Astonishing". Vocals und Lyrics stechen auf beiden Platten hervor.
Auf "DOT" steht jeder Song für sich selbst und verwendet seine eigene musikalische Sprache. Uns war es wichtig, am Ende zu sagen, dass dieser Weg genau der richtige war, und wir das umgesetzt haben, was wir wollten. Zuallererst fallen die Songs sehr druckvoll aus, das beschreibt sie schon sehr gut. Zweitens finde ich deine Anmerkungen sehr treffend. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit John (Petrucci, Gitarre) und Jordan (Rudess, Keyboards) zu Beginn der Konzeptionsphase zu "The Astonishing". So wie ich meine Soloalben mit Matt Guillory angehe und so viel Zeit für die Gesangsmelodien aufwende, sollten wir das umsetzen. Die Vocals sollen mitreißen. Wenn du dich näher mit meinen Soloalben befasst, dann hörst du das auch raus. Natürlich liegt auf der Stimme in meiner eigenen Band das Hauptaugenmerk.
Mit "The Astonishing", und das wollte ich John und Jordan sagen, war es unerlässlich, sich auf die Melodien und die Stimme zu konzentrieren. Auf einem opernhaften und theatralischen Album muss die Stimme sehr präsent und prägnant sein, was wir auch beherzigt haben. Als es nun um die Konzeption von "DOT" ging, war uns klar, dass wir den Fokus, den wir auf die Stimme und die Melodien gelegt haben, in jedem Fall beibehalten wollen. Mit John und Jordan habe ich viel Zeit in die Ausarbeitung der Melodien gesteckt, damit sie wirklich druckvoll ausfallen und eine Vorlage liefern oder noch besser eine Plattform erschaffen, die es mir erlaubt, meine Stimme ins richtige Licht zu setzen.
"Viper King" ist unsere Antwort auf "Highway Star".
Beim letzten Mal schrieb John die Lyrics komplett. Mit Ausnahme von Jordan drückt sich hier wieder jedes Bandmitglied in den Texten aus. Wie stellt ihr die Themen für die Texte zusammen? Stoßt ihr beim Lesen eines Buches oder eines Artikels auf etwas, das euch entflammt, oder greift ihr auf biografische Elemente und somit eigene Erfahrungen zurück?
Da sprichst du schon einiges an. Ich persönlich lese unheimlich viel, das hat natürlich seinen Einfluss. Letztendlich hängt es vom Moment ab und wie der Song mich berührt. Dann setze ich mich hin und schreibe einen Text dazu. Als ich die Lyrics für "Viper King" geschrieben habe, faszinierte mich daran, einfach mal die Sau raus zu lassen und ein bisschen Spaß zu haben. Natürlich sollte der Text aufregend sein, aber nicht zu ernsthaft. Es geht ausschließlich um einen Adrenalinkick. "Viper King" ist unsere Antwort auf "Highway Star" (Deep Purple, "Machine Head") und "Red Barchetta" (Rush, "Moving Pictures").
Dagegen steht der Songwriting-Prozess zu "At Wit's End", der sehr von der heutigen Frauenrechtsbewegung inspiriert ist, die ja mit #MeToo ein Sprachrohr gefunden hat. Die Lyrics basieren auf einer Dokumentation über die Nachwirkungen nach einem unvorstellbar grausamen Ereignis wie das ein Missbrauch ist, die viele Paare spüren und sie daran hindern, sich weiterzuentwickeln und die Beziehung auf Dauer zu stellen. In diesem Fall hat mich eine Dokumentation in visueller Hinsicht stark beeinflusst.
"Out Of Reach" behandelt hingegen eine imaginäre Story über eine Frau, die eine sehr nahe stehende Person verloren hat und ihren Versuch, dies wieder aufleben zu lassen oder einen Weg zu finden, wieder so etwas wie Liebe zu empfinden und sich wieder einer Beziehung öffnen zu können.
In der Vergangenheit habe ich beispielsweise die Lyrics zu "Destined To Burn" ("Impermanent Resonance") auf Basis eines Buches von Lawrence Hill geschrieben, das "The Book Of Negroes" heißt. Das Buch hat mich so unmittelbar gepackt und mitgerissen, dass ich unbedingt darüber schreiben wollte. Jeder in der Band handhabt das sicher unterschiedlich. Das kann etwas sein, dass jemanden persönlich berührt. Vielleicht fühlt sich jemand in sozialer oder politischer Hinsicht von einem Thema herausgefordert oder man zieht Inspiration aus einem Buch oder einem Film. Es gibt viele Wege, die zu einem Text führen, und diese unterscheiden sich für jeden von uns.
Du hast gerade "At Wit's End" angesprochen, ein starker Song mit fantastischen Vocals und Lyrics. Die zweite Hälfte fällt sehr episch aus und endet mit einem der längsten Fade-Outs, die ich jemals gehört habe (James lacht). Wenn du meinst, der Song sei vorbei, fadet ihr noch mal einen Jam-Part ein. Kannst du uns hierzu einen Einblick in den Entstehungsprozess geben?
Was du hörst, wenn der Fade wieder zurückkommt, und die Band in einem sehr rohen und akustischen Soundgewand erklingt, dann sind die Jungs tatsächlich in einem spontanen Moment eingefangen, während wir an dem Stück arbeiteten und die Idee aufnahmen. Am Anfang von "Pale Blue Dot" hörst du etwas Vergleichbares. Das ist unsere Art, den eingefleischten Dream Theater-Fans ein Bonbon zu geben.
Vor allem zeigt es auch, dass ihr es mit eurem Ansatz ernst meint, in einem Raum zu stehen, zu jammen und gemeinsam musikalische Ideen auszuprobieren.
Genau.
Du hast ja gerade "Viper King" angesprochen, der diesen starken Purple-Bezug hat und auf den Hardrock-Boom der Siebziger zurückgeht. Gehen wir einfach noch ein Jahrzehnt weiter zurück in die Sechziger. Im Song "Room 137" singst du die Lyrics "Take me to the other side" im John Lennon-Style mit viel Hall und Phaser unterlegt. Hat sich das ergeben oder greift ihr bewusst auf die Fab Four zurück?
Wenn wir zusammen sitzen und die Melodien ausarbeiten, dann entstehen diese automatisch und stehen für sich. Wenn du dir den Groove anhörst, der sehr straight ist (James singt den stampfenden Viertel-Beat) und dann nimmst du diese Textzeile (Er singt "Take me to the other side"), dann hängt das erst einmal für sich zusammen. Zunächst dachten wir, oh Mann, das ist ja ein Kinderspiel. Wenn das am Ende die Melodie ist, dann ergibt das keinen Sinn. Aber es stimmt, dieser Part besitzt in jedem Fall diesen Beatlesken Touch in der Melodieführung, aber es fühlte sich natürlich an im Entstehungsprozess.
Mike Mangini wartet ja ebenfalls mit einem Beitrag zu den Texten auf. "Room 137" ist sein erster für Dream Theater insgesamt. Weißt du, was sich hinter dieser Tür mit der ominösen Ziffer verbirgt?
Das geht auf den Physiker Wolfgang Pauli zurück, der in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts lebte und wirkte. Er strebte geradezu obsessiv danach, die definitive Zahl zu finden. Hinter der Nummer 137 verbirgt sich ein mathematischer Zusammenhang. Diese Nummer beschreibt die Dimensionen unseres Universums, die Proportionen unseres Planeten und viele Aspekte der Natur. Auch den Menschen berührt sie. All das enthält diese mysteriöse Zahl. Bis zu einem bestimmten Grad ergibt das eine unerklärliche und unergründliche Zahl, der die gesamte Physik-Gemeinde geradezu aufgesessen ist. Warum beschreibt diese Nummer dimensionsgerecht so viele Aspekte unseres Erlebens?
Pauli war besessen davon, diese Zusammenhänge zu verstehen und in Formeln zu beschreiben und so der Nachwelt begreiflich zu machen. Aber er hat es nie bis dahin geschafft. Als er dann mit Verdacht auf Bauspeicheldrüsenkrebs ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bekam er ein Zimmer mit der Nummer 137 zugewiesen. Er bezeichnete diese Zahl häufig als die göttliche Zahl, die Nummer Gottes. Er wunderte sich über diese Fügung mit dem Raum 137. Es mutet in der Tat ziemlich verrückt an, dass dieser Mann, der versuchte, die Hintergründe dieser Zahl, die so viel von uns und um uns beschreibt, in einem physikalischen, materialistischen Sinne zu ergründen, schließlich in diesem Raum starb.
Mike kam eines Tages an und meinte flapsig, er habe ein paar Lyrics zusammengeschrieben. Und wir waren alle von seiner Idee begeistert und fanden diese ziemlich cool. Nebenbei liegt das Tempo dieses Songs - du wirst es nicht glauben - bei 137 BPM.
"Haben wir die Grenze überschritten oder sind wir noch in Balance?"
"DOT" basiert nicht auf einem Konzept, jeder Song steht gewissermaßen für sich selbst. Das hast du bereits angesprochen. Gibt es möglicherweise einen roten Faden im Sinne der Verwendung der modernen Technologien, gerade auch in Bezug auf das Artwork und vor allem wie die Technik sich bereits massiv auf die menschliche Psyche auswirkt?
Das ist in der Tat der große Zusammenhang und das betrifft jeden Text auf eine bestimmte Art und Weise. Wenn du an "Signal To Noise" denkst, geht es darum, nicht unser menschliches Empfinden zu verlieren und sich nicht in der technologischen Realität zu verlieren, in der wir nunmehr leben. Die allgegenwärtige Digitalisierung nimmt immer mehr Einfluss auf uns je weiter die Zeit voran schreitet.
Wenn du dir das Artwork anschaust, dann siehst du dich mit dem menschlichen Schädel konfrontiert, den der Arm des Roboters in der Hand hält. Du stellst dir bereits aufgrund dieses visuellen Elements die Frage, ob die Technologie uns kontrolliert oder ob das menschliche Empfinden noch intakt ist. Haben wir die Grenze bereits überschritten oder befinden wir uns noch in Balance?
Nimm "Pale Blue Dot". Wir leben auf diesem wundervollen Planeten, und das ist das Einzige, was wir haben, denn es gibt nichts um uns herum in etlichen Lichtjahren Entfernung. Natürlich entdecken wir auch Planeten, auf denen Leben möglich wäre. Mithilfe der Technologie entdecken wir natürlich auch immer mehr was uns umgibt. "Pale Blue Dot" dreht sich darum, aufeinander aufzupassen, und das was uns gegeben ist, als nicht selbstverständlich anzusehen, sondern als das fragile Gebilde, das es ist. Trotz oder auch wegen des Fortschritts sind wir in der Lage eine richtige Perspektive einzunehmen, um das Ganze in Balance zu halten.
Vor zwanzig Jahren kaufte ich im Plattenladen meines Vertrauens "Scenes From A Memory". Dieses Werk veränderte meinen Blick darauf, was Musik ist und vor allem was Musik für einen Menschen bedeuten kann. Nun führt ihr das Konzeptalbum in Gänze auf. Was können eure Fans erwarten, wenn ihr dies live aufführt?
Es wird natürlich wieder viele Visuals geben, die in überarbeiteter Form das Konzept des Albums stützen, von der Dreiecksbeziehung angefangen bis hin zum Thema Reinkarnation. Ich glaube, die Fans werden Nacht für Nacht fasziniert von der Umsetzung auf der Bühne sein. Wir werden auf jeden Fall zwei Sets spielen. Das erste Set enthält vornehmlich Songs der neuen Platte. Natürlich decken wir auch die anderen Veröffentlichungen ab, allerdings legen wir dort eher das Augenmerk auf Stücke, die wir länger nicht gespielt haben. Das zweite Set stellt dann "Scenes From A Memory" in Gänze dar. Das wird eine unglaubliche Show. Wir sind schon sehr aufgeregt und fiebern auf die Shows hin. Jeder von uns kann es kaum erwarten, raus zu gehen und loszulegen.
Du hast einige Male mit Arjen Lucassen für sein Ayreon-Projekt gearbeitet. Sind weitere Kollaborationen geplant oder liebäugelst du sogar mit einer Soloveröffentlichung?
Ich liebe den Typ total, er ist unglaublich talentiert, und es macht super viel Spaß, ihn zu supporten, aber derzeit ist nichts in der Mache. Wir stehen aber weiterhin in Kontakt. Die Art wie wir zusammenkommen, ist, dass ich eine Email aus dem Blauen heraus erhalte, in der Arjen von Songs für sein neues Soloalbum erzählt und anfragt, ob ich einen kleinen Teil dafür übernehmen könne. Das ist normalerweise der Dienstweg.
Die Soloaktivitäten stehen und fallen mit Matt Guillory und meiner Wenigkeit. Wir müssen den richtigen Moment abpassen, um uns zusammenzusetzen. Er ist sehr eingespannt, was in gleichem Maße für mich gilt. Aber an einem bestimmten Punkt in der Zukunft wird es auch ein weiteres Soloalbum von mir geben.
Die abschließende Frage dreht sich um unterschiedliche Philosophien, Musik zu kreieren. Steven Wilson ist ein Vertreter eines soziokulturellen Ansatzes und sagt: Was du hörst, ist, was du spielst. Auf der anderen Seite sagt Neal Morse, das es die ewige Stimme Gottes ist, die zu ihm spricht und inspiriert. Wie positionierst du dich in dieser Diskussion?
Für mich stellt Musik eine sehr persönliche und introspektive Erfahrung dar. Wenn du Steven Wilson hörst, der sagt, was du hörst, ist was du spielst, dann ist das die Art wie sein Herz, seine Seele und sein Geist funktionieren und zusammenkommen, in dem was er komponiert. Neal Morse sagt, dass es etwas ist, das von außerhalb zu ihm herangetragen wird von Gott oder Jesus Christus. Das ist einfach eine weitere Erfahrungsebene. Ich fühle mich eher mit der Denkrichtung von Steven Wilson verbunden. Musik ist der kreative Ausdruck dessen, was dich bewegt und was schlicht dein Leben darstellt. Jeder Tag wartet mit neuen Aufgaben und Perspektiven auf dich. Grundlegend drückt sich das, was durch uns durchrauscht und hängen bleibt, früher oder später in Musik aus. Es ist die Art und Weise, wie wir durch unsere Erfahrungen bewegt werden.
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