laut.de-Biographie
Injury Reserve
"That's what's special about being in hip-hop, especially in 2019 – there is room for artists like us.", erzählt Nathaniel Ritchie dem Musikmagazin Loud And Quiet kurze Zeit nach der Veröffentlichung von "Injury Reserve", dem Debütalbum der gleichnamigen Rapgruppe die er schon in Teenagerjahren mit seinen Freunden Jordan Groggs und Parker Corey ins Leben ruft. Bis dahin sei Musik vor allem Spaß und kreatives Ventil gemessen, ein Hobby. Erst als die drei über die Jahre realisieren, dass in ihrer Weirdo-Nische von experimentellen Hip Hop tatsächlich eine finanzielle Zukunft steckt, wird aus Leidenschaft Beruf. Das ändert jedoch nichts daran, wie das Trio an seine Musik herangeht.
Ritchie lernt Groggs 2013 in dem Foot Locker-Laden seiner Mutter kennen und merkt schnell, dass beide eine nerdige Begeisterung für Musik, insbesondere Hip Hop eint, die nur von ihrem gemeinsamen Freund Corey Parker in den Schatten gestellt wird. Er ist es auch, der für die ersten kreativen Impulse zuständig ist, und die beiden mit Einflüssen aus anderen, abwegigen Genres vertraut macht. Die drei treffen sich regelmäßig unter der drückenden Sommersonne Arizonas, die in ihrer Heimatstadt Flagstaff den Asphalt zum schmelzen bringt, um zusammen Musik zu hören, herumzuexperimentieren und beginnen fast beiläufig mit der Arbeit an ihrem ersten gemeinsamen Projekt.
Unter den Aliasen Ritchie with a T und Stepa J. Groggs rappen Nathaniel und Jordan 2013 auf "Depth Chart", dem ersten Mixtape, das die drei unter dem Namen Injury Reserve veröffentlichen, in nostalgischer De La Soul-Marnier über eingestaubte 80 BPM Jazz-Rap-Instrumentals. Rückblickend klingt das wie eine Aufwärmübung, denn was 2015 auf "Live From The Dentist Office" folgt, denkt diesen Sound nicht nur konsequent weiter, es reichert ihn auch erstmals mit obskureren Einschlägen aus Coreys Plattensammlung an. Rückblickend erzählt Ritchie dem Daily Texan, dass die offizielle Diskographie Injury Reserves mit diesem Mixtape beginne, da alles was sie zuvor veröffentlichten in ihren Augen wenig gelungenen Versuche waren, die Musik ihrer Lieblingskünstler zu reproduzieren. In seinen Worten: "Live from the Dentist was us finding our own sound"
Bevor es sich die drei in dieser Nische allerdings zu bequem machen, vollziehen sie mit der Lead-Single ihres nächstes Tapes eine unerwartete Kehrtwende. "This ain't jazz rap, this that spazz rap!", schreit Richtie auf "Oh Shit!!!" und leitet eine neue Ära für Injury Reserve ein, die sich auf "Floss" irgendwo zwischen Hardcore Hip Hop und experimentellen Trap einpendelt. Die Samples werden abstrakter, die Beats härter, die Melodien eingängiger und die Texte persönlicher und hoffnungsvoller. Inmitten dieses tonalen Wirrwarrs erkennen die drei, dass dieses Musik-Ding vielleicht wirklich eine Zukunft für sie bereit haben könnte. "I'm telling ya'll this is what victory sounds like" proklamieren sie am Ende feierlich.
Und als hätte sie es gewusst, folgt tatsächlich wenig später ein Deal mit Looma Vista Recordings (Universal). Der entscheidende Faktor für ihre Unterschrift sei vor allem Kyambo Joshua gewesen. Der frühere A&R Jay-Z', der unter anderem mitverantwortlich für Kanye Wests Singing zu Roc-A-Fella Records war, habe als einziger die artistische Vision der drei verstanden und unterstützt. Ritchie kommentierte die Zusammenarbeit auf Twitter mit den Worten: "No one else truly saw the lineage we are trying to follow and genuinely believed that we would. [...] So when the person who broke your biggest idol wants to take you down that path, you don't let that go to waste."
Das bedeutet konkret, dass Injury Reserve für ihr Debüt-Album keine Steine in den Weg gelegt bekommen, und das hört man dem fertigen Produkt an. Noch mehr als "Floss" oder die 2017 veröffentlichte "Drive It Like It's Stolen"-EP ist "Injury Reserve" die Kulmination all der Sounds und (Sub-)Genres die das Trio im Laufe ihrer Karriere erforschte. Jazz-Rap trifft auf hirnschmelzend-abstrakten Trap, melancholischen R'n'B und Songs wie "Jawbreaker" die mehr mit punkiger Spoken Word-Satire als mit Hip Hop gemein haben. 2019 findet man kein Album, dass den Mut hat, das Hip Hop-Genre so kreativ weiterzudenken, ohne in allzu experimentelle oder avantgardistische Gefilde abzudriften. Das ist nicht zuletzt auch den Features geschuldet, die erstmals die heimigen Underground-Sphären ihrer vorherigen Projekte verlassen und der Band helfen sollen im Mainstream Fuß zu fassen.
Mit Erfolg: Das Album schlägt für die Verhältnisse der fast unbekannten Band große Wellen und der kritische Konsens ist überwältigend positiv. Injury Reserves Debüt wird als großartiges und wagemutiges Hip Hop-Album gelobt, dessen dezent gesetzte Weirdo-Akzente ahnen lassen, wo es für die Gruppe auf zukünftigen Unterfangen hinführen könnte.
Doch dazu kommt es vorerst nicht. Nicht nur bremst die 2020 über die Welt hinweg rollende Pandemie den Schaffensprozess des Trios erheblich aus, am 29. Juni stirbt völlig überraschend Jordan 'Stepa J.' Groggs. Er hinterlässt seiner Frau vier gemeinsame Kinder. Die Todesursache ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Mit "When it rains it pours, and n*gga it's really pouring" wird Ritchie diese Zeit rückblickend ein Jahr später bezeichnen. Es ist ein Schock für die Welt des Hip Hop und alle Hinterbliebenen, der lange nachhallt. Ab diesem Tag herrscht auf allen Kanälen des Trios Funkstille. Das Projekt Injury Reserve scheint beendet zu sein,
Umso überraschender und aus dem Nichts folgt deshalb 2021 die Nachricht eines neuen Albums. Mit einem Statement auf ihrem Instagram-Kanal, teilt das verbliebene Duo die Hintergründe und Motivation hinter ihrer zweiten LP "By The Time I Get To Phoenix". Laut diesem Statement sei das Konzept des Albums 2019 während eines Live-Gigs in Stockholm entstanden, als die drei sich dazu entschlossen, statt einer traditionellen Live-Show ein Dj-Set mit unveröffentlichtem Material zu performen. Diesen Esprit, gepaart mit neu gefundener Inspirationen durch Freundschaften mit Bands wie Black Midi oder Black Country, New Road kanalisieren Injury Reserve in den nächsten Monaten in elf Tracks, die sie erst ein Jahr nach Groggs' Ableben fertig stellen. Das Album ist eine Hommage an Groggs und würde seinem beharrlichen Motto "make some weird shit" so treu bleiben, wie überhaupt möglich.
Zu beschreiben wie das klingt, gerät an die Grenzen dessen was Sprache überhaupt ausdrücken kann. "By The Time I Get To Phoenix" ist so anders als alles, was Injury Reserve bisher veröffentlichten, und darüber hinaus was dieses Genre jemals zu hören bekam, das man es einfach gehört haben muss, um es zu begreifen.
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