laut.de-Biographie
Jean Michel Jarre
Wenn Kraftwerk die Könige des minimalistischen Elekro-Sounds sind, dann ist Jean Michel Jarre der Herrscher über den bombastischen Synthie-Pomp. Beiden - den deutschen wie dem Franzosen - kommt die Ehre zuteil, elektronisch generierte Klänge in der Popmusik verankert zu haben. Die Melodien und Kompositionen Jarres sind ebenso wenig aus der Musiklandschaft weg zu denken wie der Kling Klang aus Düsseldorf.
Am 24. August 1948 kommt Jean Michel Jarre als Sohn des Musikers Maurice Jarre und der ehemaligen Résistance-Kämpferin France Péjot in Lyon zur Welt. Von seinem Vater, der später einmal ein bekannter Soundtrack-Komponist werden sollte (unter anderem "Lawrence Von Arabien", "Dr. Schiwago" und "Ghost") hat er eventuell die Gene in die Wiege gelegt bekommen, beeinflusst hat er den Filius jedoch nicht besonders, denn die Eltern lassen sich scheiden als Jean Michel drei Jahre alt ist. Vater Maurice geht nach Hollywood, der Sohnemann bleibt mit der Mutter in Frankreich.
Im Alter von fünf Jahren erhält Jarre klassischen Klavierunterricht. Diesen lässt er sausen, als ihn Mutter France an seinem zehnten Geburtstag mit dem Besuch eines Jazz-Konzertes beschenkt, bei dem kein Geringerer als Trompeten-Legende Chet Baker ihm ein Ständchen zu seinem Ehrentage spielt. Fortan gehört seine Liebe dem Jazz, ehe er in den Sechzigern die Formationen The Dustbins und Mystère IV aus der Taufe hebt. Als Gitarrist wohlgemerkt. Mit den Dustbins hat er 1967 sogar einen Kurzauftritt in einem Film "Des Garcons Et Des Filles" des französischen Regisseurs Etienne Perier. Nach diesem Ausflug in rockigere Gefilde wendet sich Jarre einem komplett anderen musikalischen Feld zu. Mit seinem Eintritt in die Groupe De Recherches Musicales, 1958 von Pierre Schaeffer gegründet, nimmt er indirekt an der Entwicklung der Sampletechnik teil, die die Mitglieder der Gruppe unter dem Namen 'Musique Concrete' austüfteln.
In diesem kreativen Umfeld beginnt er zum ersten Mal mit elektronischen Klängen zu experimentieren. Das erste zählbare Resultat aus dieser Schaffensphase ist die 1969 erscheinende Single "La Cage", von denen er jedoch nur ein paar hundert Exemplare absetzen kann. 1971 verlässt er die Groupe wieder und komponiert im selben Jahr für das Ballett AOR der Pariser Oper elektroakustische Musik - übrigens als jüngster Komponist überhaupt, der für die Oper schreiben durfte.
Sein nächstes Projekt, die Filmmusik zum Streifen "Die Löwin Und Ihr Jäger" ("Les Granges Brulées") mit Alain Delon in der Hauptrolle ist mit verschroben noch recht schmeichelhaft umschreiben und auch für große Jarre-Fans nicht das Gelbe vom Ei. Auf gerade einmal 28 Minuten erklingen Sounds, die zumindest gewöhnungsbedürftig klingen und nicht jedermanns Geschmack treffen. Trotzdem finden sich bereits auf diesem Frühwerk Harmonien und Versatzstücke wieder, mit denen Jean Michel später große Erfolge feiert.
Bis 1976 beschäftigt sich Jarre hauptsächlich mit Arbeiten für Werbejingles, Radio- und Fernsehproduktionen, sowie Kompositionen für andere Künstler; unter anderem Francoise Hardy. Im Stillen tüftelt Jarre derweil an seiner Version elektronischer Klänge. Im Gegnsatz zu anderen Musikern, die synthetische Klänge in ihr Konzept integrieren, hat der Franzose von Anbeginn eine eher orchestralere Schlagseite, die mit einer guten Portion Pomp einher geht. Diese lebt er auf seinem dritten Werk lebhaft aus. "Oxygene" heißt das Album, mit dem er von wenig mehr als null auf hundert schießt. Innerhalb kürzester Zeit verkauft sich die Scheibe über acht Millionen Mal und macht ihn zum gefeierten Popstar. Die Trackliste liest sich mit "Oxygene (Part 1)" bis "Oxygene (Part 6)" recht einfach. Jarre kreiert mit dem vierten Teil den Prototyp dessen, was heute auf unzähligen Samplern unter Space-Sounds firmiert. Es vergeht wohl kaum ein Tag auf dieser Welt, an dem dieses zentrale Stück nicht irgendwo als Begleitmusik im Fernsehen herhalten muss.
Den Mechanismen des Musikbusiness entzieht sich Jarre trotz Megaerfolg recht geschickt. "Konzerte als notwendige Konsequenz einer Schallplatte" sind nicht sein Ding. Eher schon die geschickte Inszenierung seiner Musik im großen Rahmen. Und groß heißt bei Jean Michel Jarre im wahrsten Sinne des Wortes groß. 1978 erscheint sein zweiter großer Streich namens "Equinoxe". Das Album erzählt musikalisch die Geschichte eines ganzen Tages und hält mit "Equinoxe Part V" abermals einen Ohrwurm parat, den heute jedes Kind kennt - bevor die Platte erscheint liegen bereits über 1,5 Millionen Vorbestellungen vor. Hat Jarre bislang erfolgreich den Konzertverweigerer gemimt, geht er jetzt in die Vollen. Am 14. Juli 1979 steigt auf dem Pariser Place De La Concorde das erste Open Air-Konzert seiner Karriere und bringt ihm auf Anhieb einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde ein; über eine Millionen Menschen verfolgen das Spektakel.
Beim folgenden "Magnetic Fields" begnügt er sich nicht mehr nur damit, Klänge synthetisch zu erzeugen, er experimentiert vielmehr mit Alltagsgeräuschen, die er so umformt, dass sie in sein Konzept passen. So moduliert er zum Beispiel aus den Klängen eines Druckerkopfes das Geräusch eines fahrenden Zuges. Hier verwendet er zum ersten Mal einen Fairlight CMI, einen Synthesizer mit Sample-Technologie. Von der künstlerischen Seite betrachtet, kann das Werk jedoch nicht an seine zwei vorangegangenen Großtaten anknüpfen. Der chinesischen Regierung ist das jedoch egal, denn die lädt ihn als ersten westlichen Musiker der Post Mao-Ära ins Reich der Mitte ein, um dort aufzutreten. Mit einem gewaltigen Menge an Equipment im Gepäck begibt sich Jean Michel in den fernen Osten. Unter dem Namen "The Concerts In China" erscheinen die Live-Aufnahmen 1982 als Doppel-LP.
1983 markiert die Veröffentlichung des seltensten Albums der Jarre-Geschichte. "Music For Supermarkets" wird genau einmal auf Vinyl gepresst. Ein Sammler ersteigert die Platte für 69.000 Francs. Jarre setzt mit dieser Aktion ein Statement gegen die zunehmende Kommerzialisierung der Musik und spendet das Geld für eine Organisation zugunsten junger Künstler. Die Mastertapes des Albums wurden nach der Auktion vernichtet und liefen nur einmal auf Radio Luxemburg. Fans schnitten die Aufführung mit, weshalb heute im Internet MP3s der Stücke existieren. So ganz in die Tonne gekloppt hat er die Melodien jedoch nicht, denn auf späteren Veröffentlichungen ("Rendez-Vous", "Zoolook") finden sich vereinzelt Elemente dieses Albums wieder.
Mit "Zoolook" von 1984 verlässt er die sichere Seite und beginnt zu experimentieren. Er sampelt Sprachfetzen und fügt sie in Klangkollagen zu Songs zusammen. Ein weiteres Novum sind die diversen Gastmusiker. Bass-Virtuose Marcus Miller, Yogi Horton, Adrian Belew (King Crimson), Live-Drummer Frederick Rousseau, sowie die Performance-Künstlerin Laurie Anderson ("Diva") wirken am Album mit.
1986 soll Jarre zum 150. Geburtstag der Stadt Houston und zum 25. der Raumfahrtbehörde ein Konzert geben. Der geplante Höhepunkt soll das auf dem Saxophon gespielte Stück des Astronauten Ronald McNair sein, der aus dem Weltall an Bord der Challenger am Konzert teilnehmen sollte. Die Katastrophe, bei der die Raumfähre explodiert, macht dem jedoch einen Strich durch die Rechnung; das Konzert findet dennoch statt, umgedeutet in ein Gedenk-Event an die toten Astronauten. Das eigens für diesen Auftritt produzierte "Rendez-Vous" erscheint kurz danach. Im selben Jahr beehrt der Papst Jarres Heimatstadt Lyon. Nachdem der Pontifex die Stadt segnet legt der Elektroniker los und performt in der Altstadt. Aufnahmen aus Houston und Lyon verschmelzen zur Live-Scheibe "Cities In Concert/Houston-Lyon".
Mit "Revolutions" verabschiedet sich Jean Michel von Experimenten. Deutlich pop-orientierter als zuvor präsentiert er sich in den ausgehenden Achtzigern. Nicht wenige eingefleischte Fans können diese Wendung nicht nachvollziehen und sind verärgert. Nicht viel anders ist das mit "Waiting For Cousteau" und "Chronologie", die mit großflächigen Keyboard-Sounds aufwarten, uninspiriert vor sich hin blubbern und hauptsächlich mit New Age-Sounds aufwarten. 1990 kassiert er seinen zweiten Eintrag ins Guinness Buch mit einem Auftritt im architektonischen High Tech-Distrikt La Defense, bei dem sage und schreibe 2,5 Millionen Zuschauer anwesend sind. In den Jahren '94 und '95 erscheinen gleich drei Live-Alben, die den Verdacht wecken, Jarre habe musikalisch nichts mehr zu sagen. All zu viel Neues will ihm auch nach vier Jahren ohne neuen Studio-Tonträger nicht mehr einfallen, denn "Oxygene 7-13" schreibt lediglich das Konzept seines Überhits aus den Siebzigern fort. Gefällig zwar, aber kreativ ist anders.
In der Folge ist Jarre vor allem damit beschäftigt, sich mit den neuesten technischen Gimmicks vertraut zu machen und weiter Konzerte im großen Rahmen zu geben. Ein Highlight ist dabei das Millenniums-Konzert vor den Pyramiden von Gizeh. "Metamorphoses" (2000) floppt zwar kommerziell, doch die Kompositionen, die wieder etwas eingängiger ausfallen, können durchaus überzeugen. "Sessions 2000", das mit Jazz-Klängen kokettiert, fällt zurecht unter den Tisch. Man munkelt, dass Jarre dieses Album nur aufnimmt, damit er seinen Vertrag mit Sony erfüllen kann, da er mit der Arbeit des Musikriesen alles andere als konform geht. Den nächsten großen Hammer packt Jean Michel Jarre bei seinen Konzerten in China anno 2004 aus. Er lässt den Gig mit allem technischen Schnickschnack filmen und veröffentlicht das ganze als Doppel-DVD mit atemberaubenden Sound und Bild im Juni 2005.
Kurz darauf, am 26. August 2005 bestreitet er wiederum einen großen Auftritt. Diesmal an einem geschichtsträchtigen Ort in Polen, und zwar der Danziger Werft, wo 1980 die Arbeiter die erste freie Gewerkschaft des Ostblocks gründen. Jarre spart bei diesem Auftritt vor 170.000 Zuschauern nicht mit pathetischen Worten und widmet sogar dem kurz zuvor gestorbenen Papst zwei Songs. Abermals laufen die Kameras mit, denn großangelegte Konzerte wie 2004 in China, 2005 in Polen oder 2006 in der marokkanischen Wüste (als Botschafter für das UN-Programm "Water for Life") nutzt der engagierte Musiker gerne, um unter den Augen der Weltöffentlichkeit, gesellschaftliche Themen ins Rampenlicht zu rücken. Das polnische Ergebnis steht ab Februar 2006 unter dem Namen "Solidarnosc Live" als DVD mit Bonus Audio-CD in den Läden.
2007 überrascht Jarre die Musikgemeinde mit einem modernen Märchen. "Téo & Téa" erzählt vom Auf und Ab des Lebens zweier seelenverwandter Kids, die sich auf dem Dancefloor kennen lernen. Für die einen klingt die Erzählung frisch und nach einem bisher unbekannten Jarre, der sich, vor Spaß tänzelnd, neuen musikalischen Strukturen öffnet. Einige behaupten gar, "Téo & Téa" komme in seiner Intensität an Jarres Meisterwerk "Zoolook" heran. Ganz so weit muss man sich nicht aus dem Fenster lehnen, denn es gibt auch Stimmen, die behaupten, er schaffe es nicht (mehr), zu verzaubern. Sicher ist indes, dass er nach wie vor gekonnt an seinen Synthesizern rumfrickelt und dabei nicht stehen bleibt.
Einen Blick zurück riskiert Jarre 2007, als sich das Datum zum 30. Mal jährt, an dem das Meisterwerk "Oxygène" weltweit veröffentlicht wurde. Im November erscheint die Aufzeichnung einer Performance des Albums, die in seinem Studio über die Bühne ging und bei dem er das Original-Equipment benutzt, das er schon in den 70ern bei den Aufnahmen verwendete.
2015 erscheint mit dem "Electronica"-Projekt zum ersten Mal seit acht Jahren wieder originär neues Material. Auf zwei Alben ("The Time Machine" und "The Heart Of Noise") verteilt befiinden sich Kollaborationen mit sehr unterschiedlichen Künstlern. Von den Pet Shop Boys und Yello bis hin zu Julia Holter, John Carpenter und Pete Townswend bietet Jarre einen ganzen Strauß unterschiedlicher Songs. Mit gehörigem Mediengetöse katapultiert sich der Franzose wieder zurück ins Rampenlicht. Als Nachschlag dazu geht er auf ausgedehnte Tour durch die großen Hallen, wo er sein Publikum mit einem bunten Gemisch aus altem und Neuem und den dazugehörigen 3D-Visuals verzaubert.
Rechtzeitig zum 40. Geburtstag seines Erfolgsalbums "Oxygene" folgt gerade einmal ein Jahr nach "Eectronica 1" der dritte und letzte Teil der "Oxygene"-Reihe. Und der Man hat immer noch nicht genug ...
Zwei Jahre später widmet er sich seinem 1977er-Album "Equinoxe". Für seine 2018er-Vision zieht er das Artwork des ursprünglichen Albums heran und spinnt musikalisch den Faden mit "Equinoxe Infinity" weiter, indem er sich die Frage stellt, was die 'Watscher' auf dem Cover die ganze Zeit so getrieben haben.
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