Porträt

laut.de-Biographie

Lingua Ignota

Kristin Hayter hat die Hölle auf Erden erfahren. Mehrmals. Ihre christliche Erziehung predigte ihr schon früh, sich in Vergebung zu üben, doch Hayter muss das wie eine Farce vorkommen. Als Überlebende sexueller Gewalt und emotionalen Missbrauchs könnten ihr die devoten Ideale der Bibel nicht ferner liegen. Ihr Alias Lingua Ignota ist eine Rächerin, keine Heilige. Statt die andere Wange hinzuhalten, reißt sie ihren Peinigern das Herz heraus und verbannt sie ins Fegefeuer. "Da sind Wut und Verzweiflung, und wir sprechen gar nicht wirklich darüber", erzählt sie 2019 dem Guardian im Bezug auf ihre Rolle als Überlebende.

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Hayter, die in den späten 80ern in der südkalifornischen Kleinstadt Del Mar aufwächst, kehrt den katholischen Lehren ihrer Eltern schon früh den Rücken zu. Rückblickend hat sie allerdings der Kirche vielleicht sogar einen Teil ihrer Karriere zu verdanken. Nachdem Hayter im frühen Teenager-Alter erstmals ihre christliche Schule verlässt und in das öffentliche Schulsystem einsteigt, erkennt ein Lehrer ihr einzigartiges natürliches Vibrato und bewegt sie dazu, als Kantorin im Kirchenchor zu singen, wo sie mittels Gesangsunterricht lernt, den sakralen Einsatz ihrer Stimme zu perfektionieren. Ihr Interesse gilt besonders den vokalen Techniken aus Mittelalter, Renaissance und Barock.

Konträr dazu entwickelt Hayter in ihren Highschool-Jahren ein Interesse für extreme Musik. Mit Kurt Cobain als Vorbild und Einstiegsdroge verliebt sie sich in die Aggression von Grindcore, die Komplexität von Math-Rock und Free Jazz und in das absolute Chaos der Noise-Musik. Auch ihre ersten musikalischen Unterfangen abseits ihrer zunehmend Fahrt aufnehmenden Karriere in klassischer Musik finden im Metal statt.

Die daraus resultierende Dualität mutet in ihrer Widersprüchlichkeit fast schon komisch an. Am Wochenende tritt Hayter in hochtrabenden Opern-Produktionen auf, unter der Woche schreit sie sich In den Garagen von gleichgesinnten Outsidern die Seele aus dem Leib. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese zwei Welten miteinander kollidieren. So kommt es, dass Hayter in den kommenden Jahren damit beginnt, ihre fast schon antagonistischen musikalischen Vorlieben und Talente miteinander zu verweben. Das Resultat entpuppt sich zunehmend als Katalysator für ihre zahlreichen Traumata.

Die ersten Projekte dieser artistischen Melange entstehen im wissenschaftlichen Kontext während Hayters Kunst-Studiums an der School of the Art Institute in Chicago. Ihre Dissertation "Architect And Vapor" seziert und dekonstruiert Bachs "Das Wohltemperierte Klavier" und stellt Anorexie, eine Krankheit an der Hayter zu dieser Zeit schon lange leidet, in den lyrischen Mittelpunkt.

Für ihren Master bringt sie, befreit von einer fünfjährigen Beziehung voller Missbrauch und Gewalt, wenig später auch musikalische Elemente ein. "Burn Everything Trust No One Kill Yourself" ist ein 10.000 Seiten (ihr ungefähres Gewicht in Papier) langes Manuskript, das aus "Texten, Message Board-Postings und Liner-Notes aus diversen Subgenres, die Misogynie mythologisieren, besteht", so Hayter. Demgegenüber stellt die Sängerin eine musikalische Performance und reale Beweise ihres eigenes Missbrauchs. "Ich wollte etwas Ausuferndes, Unlesbares und Beängstigendes erschaffen", erzählt sie dem Village Voice-Magazin. Etwas, das ihr auch jenseits ihrer Universitäts-Karriere gelingt, als sie 2017 ihr erstes musikalisches Projekt unter dem Moniker Lingua Ignota veröffentlicht.

Ihr Künstlername lässt sich auf die deutsche christliche Mystikerin Hildegard von Bingen zurückführen, die im 12. Jahrhundert aus bis heute nicht erforschten Gründen eine Lingua Ignota, eine unbekannte Sprache, erfand, die sich sämtlicher existierender Grammatik wider- und deren Vokabular sich aus Latein und Mittelhochdeutsch zusammensetzte. Dieses mystische, sprachliche Enigma spiegelt die unorthodoxe Musik Hayters erstaunlich passend wider. Was sie mit ihren im Abstand von nur wenigen Monaten voneinander veröffentlichten Debüt-Alben "Let The Evil Of His Own Lips Cover Him" und "All Bitches Die" auf die Welt loslässt, widersetzt sich so gut wie jeder existierender Genre-Bezeichnung.

Sie selbst hat auf die Frage was für Musik sie eigentlich mache, keine passende Antwort. "Ich weiß nicht, wie ich mein Genre bezeichnen würde. Ich weiß nicht, wie ich mich selbst bezeichnen würde, wenn ich Dinge tue", erzählt sie VICE wenige Tage nach dem Release von "All Bitches Die". Es ist eine höllische Fusion aus klassischer Musik, Industrial, Power Electronics, Black Metal und Noise, die einem beim Hören alles abverlangt.

Lingua Ignota - Sinner Get Ready Aktuelles Album
Lingua Ignota Sinner Get Ready
Die Abgründe, die in der Stille lauern.

"You can't run, I'll find you, I'll bind your feet to hell and drag you down", schreit sie. Man fühlt die Angst, die Verzweiflung, die Wut, den Hass, die aus Hayters Lyrik sprudeln. Das Wechselspiel aus engelsgleichem Gesang und dämonischem Gebrüll fungiert als eine Art Rollenspiel zwischen Täter und Opfer, mittels dessen Hayter ihre Dämonen exorziert. Sie nennt ihre Songs "Survivor-Anthems". Ihre Live-Shows sind Messen für die Geschädigten und Gepeinigten. Performance Art wie eine offene Wunde. Ein Ventil für einen Überfluss an Gefühlen, die sich einer rationalen Beschreibung widersetzen. "Andere Überlebende kommen auf mich zu und sagen mir, dass mein Werk sie irgendwie berührt oder zu ihnen spricht. Und sie sind es auch, für die ich das mache", erzählt Hayter in einem Interview.

Die Resonanz fällt überwältigend aus. Viele Publikationen ziehen schnell den Vergleich zu einer anderen blühenden weiblichen Figur der experimentellen Noise-Musik, Diamanda Galás. Ein Vergleich, der Hayter zwar schmeichelt, aber den sie für nicht angemessen hält. Galás sei eine Gottheit für sie, und selbst, wenn sie es versuchen würde, könne sie niemals das reproduzieren, was Galás tue.

Das hält sie jedoch nicht davon ab, mit ihrem nächsten Album noch radikaler in die von ihr etablierten apokalyptischen Soundlandschaften abzutauchen. "Caligula" macht von der Aufmerksamkeit, die ihr "All Bitches Die" bescherte, Gebrauch und holt neu gefundene Freunde aus der Szene ins Boot. Drummer Lee Bouford (The Body), Sänger Dylan Walker (Full Of Hell) und Mike Berdan (Uniform) arbeiten zusammen mit Hayter, die erstmals in einem Studio aufnimmt, an einer noch weitläufigeren Abarbeitung der Motive ihres Debüts.

Das Album, das erneut einen Zyklus des Missbrauchs beschreibt, gerät gleichermaßen wunderschön wie apokalyptisch. In einem Gespräch mit The Guardian beschreibt sie den heilenden, kathartischen Effekt ihrer Musik: "Weil ich beschlossen habe, meine Peiniger nicht mit Gewalt zu bekämpfen oder sie zu ermorden, mache ich stattdessen Musik. Und das ist eine fantastische Rache. Wenn morgen alles vorbei wäre, hätte ich schon gewonnen."

Diese Befriedigung führt dazu, dass Hayter sich während der Corona-Pandemie ein wenig neu orientiert. Für ihre vierte LP reist sie nach Pennsylvania, wo sie über ihre schwierige Beziehung zu der ihr in die Wiege gelegte Religion reflektiert. Im Titel von "Sinner Get Ready" hallen zwar immer noch die verheißungsvollen Lyrics ihres Stücks "All Bitches Die Here" nach, aber die Wut und der Hass weichen zunehmend einer Ratlosigkeit und einer vernichtenden Ohnmacht.

"Sinner Get Ready" klingt nach der Musik eines christlichen Kultes, der geschützt von der Geographie des Hinterlandes den Zorn Gottes heraufbeschwört. Es ist eine Klageschrift an alle, die ihr jemals Leid zufügten, und an alle, die es jemals werden. All das mündet in einer befreienden, aber niederschlagenden Erkenntnis: "No longer shall I wander, ugliness is my home."

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