laut.de-Biographie
Mundartisten
Mit dem Irrglauben, wer Hip Hop macht könne mit "richtigen Instrumenten" nichts anfangen, sollte eigentlich spätestens seit In-Erscheinung-Treten der Roots Schluss sein. Tatsächlich begegnet man dieser Fehleinschätzung immer und immer wieder - niemals jedoch bei den Glücklichen, die die Mundartisten live und in Aktion erleben durften: Selten hat Schweizer Rap derber gerockt.
Die Anfänge der siebenköpfigen Crew aus Langenthal im Kanton Bern reichen bis um den Jahrtausendwechsel zurück. Wir befinden uns auf einem Flachdach in Wangen an der Aare. Hier verbringen David Kohler, besser als Knackeboul bekannt, und sein Kumpel MC Equadrat, Sven Günther, weite Teile ihrer Pubertät mit ersten Rap-Versuchen.
Mit Hänsu 'Chocolococolo' Mülethaler schließen sich die beiden 2001 zu den Mundartisten zusammen. Der Name lässt es ahnen: "Wir haben schon immer viel mit dem Mund gemacht", so Knackeboul. Beatboxing bildet von Anfang an ein wichtiges Standbein der Crew.
Richtig ins Rollen kommt der Stein, als Jonas 'Jönu' Leuenberger, auch unter dem Namen Kwest aktiv, auf den Plan tritt. Der nämlich führt nicht nur ein Schlagzeug im Gepäck, sondern organisiert den Jungs auch gleich einen geeigneten Übungsraum. Knackeboul erinnert sich: "Als ich diesen riesigen Raum gesehen habe - das war die Initialzündung."
Die beatboxenden und rappenden Kollegen bekommen rasch Gesellschaft. Gitarre und Bass sind gar nicht zwingend böse; keinesfalls jedoch, wenn sie von Chocolococolo und Fabio 'Fabiohead' Bardelli gehandhabt werden. An den Keyboards sitzt Dimitri 'Klon' Hefermehl. Turntablistenhandwerk steuert Mattia Mordasini, DJ Matrat, bei. Mit den Wurzeln tief im Hip Hop haben die Herren keine Berührungsängste mit Elektronik oder drastischen Gitarrenriffs.
Gemeinsamen Proben folgt bald der erste Auftritt, dem wiederum viele, viele weitere. Die Mundartisten spielen sich quer durch die Schweiz und den süddeutschen Raum. Die Start-Auflage des im Dezember 2002 erschienenen Debüt-Albums "Gift" ist im Rahmen der Shows ruckzuck restlos ausverkauft. Die Mundartisten gehen 2003 als Zweite aus dem Phondue-Newcomer-Abend hervor.
Im Frühjahr 2004 legen sie "Burebuebe" samt zugehörigem Video nach. Wer jetzt nörgelt: "Nur eine EP!", sei getröstet. Im gleichen Jahr folgen die DVD "Tractus Opticus" sowie ein weiterer Clip zu "Wiich", der mehrere Monate lang im schweizerischen Musikfernsehen rotiert. Die Stadt Langenthal ehrt ihre rappenden und abrockenden Söhne mit dem Kulturförderpreis.
Die gestatten sich neben der Arbeit mit der Band ihre diversen Alleingänge und Seitenprojekte. Knackeboul gewinnt als Solo-Künstler unter zweierlei Namen gleich zweimal den m4music Award. Er und seine Mikrofonkollegen sind zudem in den Reihen der 'motherfuckin hardcore Boygroup' Suiceside aktiv. Zudem erteilen die Herren Workshops an Schulen, vertonen Filme und spielen in den unterschiedlichsten Formationen.
Die gemeinsame Arbeit kommt trotzdem voran. Von Mai bis Dezember touren die Mundartisten gemeinsam mit der AIDS-Hilfe Bern durch Oberschulen. Bein national ausgeschriebenen Break Out-Contest räumen sie ab und spielen anschließend im Rahmen des Imagine-Festivals vor 4000 Zuschauern auf dem Basler Barfüsserplatz. Terre des Hommes Schweiz würdigt ihre Nummer "Antira" als besten Song gegen Rassismus. Die Aufnahmen zum nächsten Album schreiten voran: "Blauäugig" erscheint Ende Januar 2006.
Parallel dazu spielt sich ein trauriges Schicksal ab: Bei Christian 'Chrigu' Ziörjen, gutem Freund und WG-Genossen der Truppe, wird ein bösartiger Tumor im Nacken diagnostiziert. "Chrigu kam irgendwann und hat uns gefilmt", erinnert sich Knackeboul gegenüber heute-online.ch an das Kennenlernen. "Dann zog er mit unserem Bassisten und dem Gitarristen in eine WG. Seitdem gehörte er dazu." Fabio ergänzt: "Er hat immer knallhart seine Meinung gesagt, zu neuen Songs."
Chrigu, der die Band als Kameramann begleitet und auch deren Video-Clips gedreht hat, beschließt, sein Schicksal im Rahmen eines Dokumentarfilms festzuhalten. Unter dem Motto "Lass uns einen Film zusammen machen, ich steig' dann irgendwann aus" entsteht "Chrigu". Die Fertigstellung obliegt Chrigus Freund Jan Gassmann. Chrigu erlebt diese ebenso wenig wie die Vorstellung des Films bei der Berlinale 2007. Er erliegt im November 2005 im Alter von 23 Jahren seiner Krankheit.
Auf Chrigus ausdrücklichen Wunsch hin kümmern sich die Freunde um den Soundtrack. "Das war nicht einfach nur ein neues Mundartisten-Album", berichtet Klon der Berner Zeitung Emmental. "Der Film steht hier im Vordergrund. Wir haben bei diesen Aufnahmen ein ganz neues Schaffen kennen gelernt, bei dem jeder auch seine eigenen Ideen und Gefühle eingebracht hat."
"Er wollte diesen Film unbedingt machen. Und er wollte uns helfen, das Ganze zu verkraften. Darum haben wir alles gegeben, um den Film und den Soundtrack zu verwirklichen", erklärt DJ Matrat. "Ich bin stolz, dass wir das geschafft haben. Wir waren es ihm schuldig." Die Mundartisten touren mit ihrem fertigen Soundtrack durch Clubs und Kinos.
Den viel strapazierten Schuh, man habe das Schicksal des Freundes ausgeschlachtet, mag man sich nicht anziehen. "Ich hab' nicht das Gefühl, dass wir auf ein Boot aufgesprungen sind, von dem wir jetzt profitieren können", so Knackeboul. "Es ist mehr so, dass wir bereits in dem Boot saßen und es nun in den Hafen fahren." (heute-online.ch) Für die Mundartisten steht weniger die Trauer im Vordergrund, eher ein Leben, das in der Erinnerung weitergeht: "Mir näh di mit uf üse Wäg."
"Chrigu" gerät zum Überraschungserfolg der Berlinale, wird mit dem Anerkennungspreis der Berner Filmförderung ausgezeichnet und erscheint im März 2008 im DVD-Format. Die Mundartisten rocken indes weiter die Bühnen der Eidgenossenschaft: Sie starten als Teil der Swiss Groove Tour ins Jahr 2008 und gründen wenig später ihr eigenes Label Mundartisten Records. Der Machtübernahme steht nichts mehr im Weg.
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