Die Britpop-Legende wühlt in Erinnerungen, analysiert Kaugummi-Streifen und taucht in 40 Jahre britische Popkultur ein.

Sheffield (rnk) - Der Dachboden. Ein gruseliger-spannender Ort, den man äußerst selten aufsucht. Meistens wird er er zum Umzug gefüllt und Jahre später erst wieder aufgesucht. Immer etwas düster, dreckig und von großen Spinnen bevölkert. Schon immer bot er genügend Stoff für Horrorfilme oder märchenhafte Geisterfilme. Doch um fiktionalen Stoff geht es nicht in dem Buch von Jarvis Cocker. Er geht dem großen Gewühl auf den Grund und arbeitet seine Fundstücke in "Good Pop, Bad Pop" ein. Der große Schlacks ist mittlerweile fast sechzig Jahre alt und hat in seinem Kopf und auf dem Dachboden eine Menge Erinnerungen verstaut. Darunter viele Dinge, die nicht mehr schön aussehen und eigentlich weg gehören. Pulp eben, zu Deutsch "Schund".

Mode und Masturbation

Pulp entstand aus dem Gedanken der Wegwerfkultur und existierte schon früh im Kopf des exzentrischen Songwriters. In alten Schulheften findet er auf dem Speicher eine Zeichnung. Schon als junger Schüler entwarf er seine eigene "Pulp"-Mode und hatte eine feste Vorstellung, wie diese aussieht. Spott oder Fremdscham hat der nun deutlich gealterte Jarvis für sein Alter Ego nicht übrig. Es ist eher eine detektivische Arbeit im Archiv, die der nerdige Kauz immer wieder mit Anekdoten füllt.

Hier sitzt er also, bestimmt unter einer dieser notdürftig installierten Dachboden-Lampen, und wühlt sein Leben auf. Vieles davon gar nicht nur den Britpop betreffend, eher entsteht aus den ganzen Fundstücken das Mosaikbild eines bleichen, unsicheren und etwas eigensinnigen Jünglings vor dem späteren Durchbruch. Die vielen Fotos aus der Jugend komplettieren dieses Bild. Da lächelt ein großer Schlacks mit großer Brille etwas leicht irre auf dem Schulfoto und sieht aus wie ein verschrobener Modestudent. Das unterstreicht, dass es eine Kunstfigur Cocker nicht gibt. Er ist genau dieser unbeholfene Jüngling, den wir schon aus seinen Lyrics wie "Do You Remember The First Time" kennen. Der spätere Dandy, der so androgyn plötzlich zu einem Frauenschwarm für Indie-Mädchen mutierte, fehlt noch. Er durchsucht lieber stundenlange Flohmärkte und nimmt den Nippes mit nach Hause, der auch noch Jahre später oben in Kisten lagert. Schmuddelhefe, deren schmutzige Witze er noch gar nicht versteht. So interpretiert er Masturbation als Akt der gewaltätigen Selbstbestrafung.

Gegen den Punk-Zeitgeist

Er gibt unspektakulären Dingen gern eine neue Bedeutung, so wie Mark E. Smith, der auf einem sehr frühen Bandfoto nicht die übliche Punk-Klamotten trug. Ein Karo-Pulli schafft den Kontrast zu den anderen Mitgliedern, die noch in Lederjacke den Viscious geben. Auch wenn Punk als sehr wichtig empfunden wird, kann Jarvis bald nicht mehr viel mit den neuen Szene-Dogmen anfangen. Einst Gegenbewegung, hat Punk mittlerweile eigene Dogmen erschaffen. Das visionäre Denken von Post-Punk und vor allem The Fall beeindruckt Jarvis mehr und hält auch bis heute an. Anbiedernd an den Zeitgeist war Cocker selten, auch zu Britpop-Zeiten trug und verkörperte er Dinge, die eben nicht angesagt waren. Den androgynen Nerd-Stil als Gegensatz zu der maskulinen Working Class-Attitüde etwa.

Eigentlich war er ja schon damals zu alt. Obwohl sie in den Neunzigern ihre größten Erfolge feierten, gibt es die Band schon seit Ende der Siebziger. Eine Eintrittskarte zu der Show von Radiolegende John Peel dokumentiert das. Hier melden sich ein paar Teenies aus Sheffield bei ihrem Idol, und der wahrscheinlich größte Musiknerd aller Zeiten verschafft ihn sogar einen Auftritt. Gar nicht mal zu Unrecht, denn für ihr sehr junges Alter klingen die frühen Pulp schon experimentell. Irgendwann muss er wochenlang in Kur und begreift, vielleicht auch in der Not der Einsamkeit: Alles kann Pop sein, wenn man in Nebensächlichkeiten plötzlich große Bedeutung sieht.

Ein Jeder wird wohl Dinge besitzen, die außerhalb des eigenes Kopfes wenig Wert besitzen. Nach "Good Pop, Bad Pop" lagern wir nun auch die Erinnerungen von Jarvis in unserem Oberstübchen. Nicht alles davon muss man davon wirklich lange behalten, aber diese Details aus seinem Leben gewähren uns tiefen Einblick. Ein unaufdringliches Buch von einem der besten Beobachter seiner Generation, weit weg von Eitelkeit, Provokation und Zynismus.

Herausgeber ‏ : ‎ Kiepenheuer&Witsch; 1. Edition (6. Oktober 2022)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 400 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3462003844
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3462003840
Originaltitel ‏ : ‎ Good Pop, Bad Pop
Abmessungen ‏ : ‎ 15 x 3.1 x 22 cm

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The Fall und Jarvis Cocker

The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © LAUT AG (Fotograf: Martin Mengele) The Fall und Jarvis Cocker,  | © laut.de (Fotograf: Benjamin Dahl) The Fall und Jarvis Cocker,  | © laut.de (Fotograf: Benjamin Dahl) The Fall und Jarvis Cocker,  | © laut.de (Fotograf: Benjamin Dahl) The Fall und Jarvis Cocker,  | © laut.de (Fotograf: Benjamin Dahl) The Fall und Jarvis Cocker,  | © laut.de (Fotograf: Benjamin Dahl)

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1 Kommentar

  • Vor 2 Jahren

    Das Buch ist sehr unterhaltsam, kurzweilig geschrieben und grafisch toll gestaltet. Das Konzept, sich nicht stumpf chronologisch sondern inspiriert von irgendelchem Kram durch die Vergangenheit zu bewegen, finde ich ausgesprochen originell. Jarvis halt.

    Wer sich auch nur ein klein wenig für Pulp interessiert, dem sei die Lektüre uneingeschränkt empfohlen.

    Da es im Text zahlreiche Anspielungen auf Pulp Lyrics gibt, würde ich die englische Fassung bevorzugen (keine Ahnung, wie der Übersetzer dieses Problem gelöst hat).

    Man erfährt viel über die Denkweise und das Innenleben von JC, der sonst übliche Gossip bleibt, was andere Prominente betrifft, außen vor und auch über die anderen (zahlreichen) Pulp Mitglieder liest man wenig.

    Im Focus steht zudem die Pulp Frühzeit und die Entwicklung der Band in dieser Phase, die "erfolgreichen Jahre" werden nur am Rande erwähnt.