Seine Geschichte reicht von Ton Steine Scherben bis Adele. Er traktierte einen Tisch mit einer Axt und gründete den Indie-Vertrieb Indigo.
Bremen (dani) - Es gibt, gerade unter den Jüngeren, wenige Menschen, bei denen der Name Nikel Pallat spontan die allerlauteste Glocke klingeln lässt. Mit ein bisschen Nachhilfe erinnern sich dann aber doch die meisten an diesen Typen, der in einer TV-Talkrunde das Fernsehen als "Unterdrückungsinstrument der Massengesellschaft" geißelte und, "deswegen mach' ich jetzt diesen Tisch hier mal kaputt", hernach mit einer Axt auf das Möbelstück eindrosch. Vor laufenden Kameras. Im Fernsehen. Zu Beginn der piefigen Siebziger. Legendär:
Das, meine Damen und Herren, ist Nikel Pallat, ausgebildeter Steuerinspektor, zeitweise Mitglied, Gelegenheitssänger, Texter, Manager und Cheflogistiker von Ton Steine Scherben gewesen, Mitbewohner, Freund und Kollege von Rio Reiser, Vorgänger von Claudia Roth und ganz nebenbei der Mann, der das deutsche Independent-Vertriebswesen erfunden hat. Allein diese Aufzählung lässt schon ahnen: Es steckt so einiges an Geschichte und Geschichten in seiner Biografie. Gut, dass er es zusammen mit seinem Co-Autor Christof Dörr aufgeschrieben hat, "Das schillernde Leben des Nikel Pallat - von Ton Steine Scherben bis Adele" (Hannibal Verlag, 240 Seiten, Taschenbuch, 20 Euro).
Ein stetig sprudelnder Anekdotenquell
Eigentlich erstaunlich, dass es den beiden Autoren gelungen ist, die Flut von Anekdoten, die das Pallatsche Leben zu bieten hat, auf handliche 240 Seiten einzudampfen. Der Mann kennt gefühlt alles und jede*n, die*der im deutschen Musikgeschäft und darüber hinaus irgendetwas gewagt hat. Seine Erinnerungen: ein stetig sprudelnder Quell von Anekdoten, die er offenbar gerne mit der Welt teilt.
Anders als bei manch anderem Lautsprecher kommt das aber nie wie großspuriges "Seht her, wen ich alles kenne und was ich alles gerissen habe"-Geprotze rüber. Der Mann wirkt bei aller seiner unbestrittenen Freakyness so bodenständig und geerdet, organisiert und bienenfleißig, wie alle allüberall erzählen, dass er sei - ein irre sympathischer Charakter.
In der im Grunde biederen Erzählstruktur spiegelt sich der Buchhalter: Pallat serviert seine Erinnerungen im wesentlichen chronologisch. Er setzt mit seiner Geburt ein, skizziert dann kurz die Geschichte seiner Eltern und Großeltern, auch um zu erklären, warum er vom jüdischen Teil seines Erbes erst mit zwölf oder dreizehn Jahren erfuhr. Über die Stationen Waldorfschule, Abitur, Ausbildung beim Finanzamt begleiten wir einen kunstinteressierten Jüngling zu seinem Erweckungserlebnis: Beim Fehmarn Festival hört er im Jahr 1970 eine junge deutsche Band:
"Keiner kannte die vier jungen Männer, die plötzlich auf der Bühne standen. Es muss zirka um 17 Uhr gewesen sein, die Stimmung war bei den meisten verbliebenen Zuschauern mittlerweile im Keller, viele waren nach dem Auftritt von Hendrix auch schon gegangen, was sollte noch groß passieren? Ich stand mit meinen Kumpels etwas abseits, die Luft war auch bei uns ziemlich raus, und eigentlich waren wir schon bereit, nach Hause zu fahren. Dann fingen die vier auf der Bühne an zu spielen, der erste Song hieß 'Macht kaputt, was euch kaputt macht'. Das war schon mal untypisch, denn die wenigsten Rockbands sangen damals auf Deutsch. Ich merkte sofort, dass ein Funke übersprang. Die da oben auf der Bühne waren völlig aufgeladen, voll präsent. Es war eben nicht der 50. Auftritt einer routinierten Combo, sondern etwas ganz Neues."
Das Neue umarmen
Diese Faszination für das Neue, Ungewohnte zieht sich durch Pallats ganzes Leben. Sein unbändiger Wille, das Unbekannte aufzuspüren und zu umarmen, geht Hand in Hand mit der Fähigkeit, in unvertrautem Terrain Chancen zu erkennen. Außerdem verfügt er über das nötige Organisationstalent und die Disziplin, um aus diesen Chancen dann auch etwas zu machen. Um Ruhm oder, noch schnöder, Geld ging und geht es Pallat dabei nie, diesen Eindruck vermittelt er überaus glaubwürdig. Seine Motivation war immer die Sache - und die Selbstermächtigung.
Deswegen ja auch die Aktion mit dem Tisch, von der mindestens jede*r zweite der zitierten Weggefährt*innen erzählt. Ihre Erinnerungen unterbrechen Pallats (und Dörrs) stringente Erzählung immer wieder und ergänzen sie um weitere Perspektiven. Ehemalige Bandkollegen von Ton Steine Scherben kommen in diesen Intermezzi zu Wort, Mitglieder von Slime (an deren Einstieg in die Charts mit "Schweineherbst" Pallat wesentlichen, vielleicht nicht hundertprozentig formal korrekten Anteil hatte), Pallats langjährige Lebensgefährtin und noch immer Ehefrau Marie Sublet, Claudia Roth, Fettes Brot, und, und, und. Die Liste ist lang, und alle bestätigen sie, was man schon ahnte: Dieser Nikel Pallat muss die Personifizierung der Maxime "Einfach machen" sein. Oder, wie er selbst es formuliert: "Nicht alles totlabern - einfach mal ausprobieren."
Ihn fasziniert eine neue, unbekannte Band? Pallat latscht hin und singt ihnen seine selbstgeschriebenen Texte vor. Er ist fortan loses Mitglied einer Combo, in der niemand ein Händchen für oder irgendein Interesse an Organisation und finanziellen Fragen hat? Pallat, ja schließlich vom Fach, übernimmt das Kaufmännische. Kein Geld für eine Plattenproduktion da? Pallat nimmt mit der "Scherben-Aktie" quasi das Crowdfunding vorweg. Platten wurden gepresst, in Eigenregie eingetütet und müssen jetzt in die Läden? Pallat fährt sie hin.
Die Not zum Unternehmen gemacht
Aus der schieren Notwendigkeit heraus, die Ton Steine Scherben-Werke unter die Leute zu bringen, gepaart mit der festen Überzeugung, dass man sich keineswegs an "das System" verhökern will, gründet Pallat erst ein Label, dann unabhängige Vertriebsstrukturen. Was als Eigenvertrieb - Musik im Vertrieb der Musiker - begann, entwickelt sich zu Schneeball Records, daraus erwächst wiederum der Indie-Vertrieb EfA, Energie für Alle.
Der operierte höchst erfolgreich, selbst noch, als interne Zerwürfnisse eine weitere Zusammenarbeit für Pallat unmöglich machten. Er stieg aus und gründete mit Indigo ein Konkurrenzunternehmen, das (im Gegensatz zum längst pleite gegangenen EfA) heute noch eine feste Größe im hiesigen Musikgeschäft ist. Zu den Verkaufsschlagern im Sortiment zählen (natürlich) Ton Steine Scherben, aber auch die Einstürzenden Neubauten, Fettes Brot - oder eben Adele, deren Durchstarten Pallat ebenfalls begleitete.
Nikel Pallat wohnte, erst in einer WG in Berlin, dann in einer Bauernhofkommune in Fresenhagen, mit Rio Reiser und den anderen Scherben zusammen. Heute lebt er mit seiner Frau in einem Haus in Bremen, "etwas langweilig geworden", wie sie findet, sie denken aber schon wieder über gemeinschaftliche Wohnprojekte fürs Alter nach.
Vergnügliches Fazit
Alles ist wunderbar unaufgeregt und amüsant erzählt. Die Storys an sich sind schon so unterhaltsam, dass sich mit geschraubten Formulierungen wirklich niemand aufhalten muss. Das Allerschönste an diesem wahrhaft vergnüglichen Buch, finde ich, ist Nikel Pallats gut gelauntes Fazit: Seinen Überzeugungen treu bleiben und Kompromissbereitschaft müssen keine Gegensätze sein. "Kompromissbereit durch die Welt zu gehen, finde ich einfach konstruktiver, und ebenso wichtig ist es mir, nicht immer permanent meine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen, sondern mich in den Rahmen der Gesamtgegebenheiten einzuordnen. Mit dieser Lebenseinstellung habe ich es insgesamt zu einem wunderbaren und mehr als erfüllten Leben gebracht. Es kann also nicht alles falsch gewesen sein."
Wer hätte gedacht, dass das beste denkbare Vorbild, dem nachzueifern sich wirklich, wirklich lohnt, ausgerechnet ein Freak mit einer Axt ist? Aber, Leute: isso. Seine Aktion im Fernsehstudio kommentiert Nikel Pallat rückblickend übrigens so: "Selbstverständlich würde ich das wieder so machen." Keine Reue? Wohl! "Ich habe mich nur geärgert, dass der Tisch nicht kaputt gegangen ist, weil er so bescheuert geleimt war."
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2 Kommentare
Ich erinnere mich immer wieder gerne daran zurück, wie ich Nikel Pallat im Sommer 2009 bei einem Festival getroffen hatte und wir zusammen ein Bier getrunken und uns super gut unterhalten hatten. Er erzählte von alten Zeiten, von Rio und den 70ern in Berlin. Spannender und sympathischer Mensch einfach!
Das der Tisch damals strukturell intakt blieb ist übrigens die schönste und traurigste Metapher der Bundesdeutschen (Fernseh-)Geschichte.