Vom Kampf gegen den Brustkrebs: ein alptraumhafter, aber auch hoffnungsvoll stimmender Blick in die Mühlen des Gesundheitssystems.

Hamburg (dani) - Machen wir uns nix vor: Der Name Reyhan Şahin dürfte den allerwenigsten Menschen auf Anhieb vertraut vorkommen. Die (inzwischen doch sehr viel) Älteren unter uns erinnern sich aber vielleicht noch an ihren Künstlerinnennamen: Als Lady Bitch Ray machte Şahin Mitte der 2000er immerhin ein bisschen Welle. Dafür, dass sie in einer österreichischen Talk-Show ein Wasserglas über Ulf Poschardt ausgoss und selbigen so aus dem Fernsehstudio vergraulte, möchte man ihr noch heute die Hände küssen.

Der Vorfall zeigt es aber schon: Diese Frau war keine, mit der entspannten Umgang zu pflegen leicht fiel. Ich erinnere mich zum Beispiel gut an eine Veranstaltung, bei der Lady Bitch Ray neben Melbeatz auf dem Podium saß, das Gespräch an sich riss, nur um die Produzentin unentwegt relativ anlasslos, dafür um so aggressiver von der Seite anzupampen. Eine konstruktive Diskussion (oder überhaupt eine) hatte Şahin damals sehr erfolgreich gekillt.

Man konnte sich des Eindrucks schwer erwehren, dass es vielleicht doch nicht, wie Lady Bitch Ray unentwegt jammerte, an ihren höchst expliziten Texten lag, daran, dass sie eine Frau ist, oder an ihrer Migrationsbiografie, dass niemand mit ihr arbeiten wollte und sie ergo als Rapperin kaum etwas gerissen hat. Viel wahrscheinlicher schien, dass einfach niemand mehr als unbedingt nötig mit ihr zu schaffen haben wollte, weil sie eine saumäßig anstrengende Person mit unangenehmen Umgangsformen war. Sie mag ihrer Zeit mit ihren Lyrics weit voraus gewesen sein. Dass Lady Bitch Ray aber, wie sie zuweilen tut, Feminismus, Pornorap, Sexpositivity und weibliche Selbstermächtigung im Alleingang erfunden hätte ... weiß ich nich', Digger.

Intimer gehts kaum

So oder so: Aus der großen Rapkarriere wurde zwar nichts, aus Şahin dagegen sehr wohl: eine Wissenschaftlerin nämlich, promovierte Linguistin und Autorin mehrerer Bücher. Jetzt hat sie wieder eins geschrieben, und das Thema könnte persönlicher und intimer kaum ausfallen. Der Untertitel verrät, was sie in "Amazonenbrüste" (Tropen, 240 Seiten, Klappenbroschur, 18 Euro) erzählt: "Wie ich den Brustkrebs bekämpfte".

Wer jetzt, mit der öffentlichen Figur Lady Bitch Ray im Hinterkopf, ein lautes, marktschreierisches, seinem plakativen Titel entsprechend mords-kämpferisches Manifest erwartet: nee. Viel mehr zeigt sich Reyhan Şahin ungewohnt verletzlich, weswegen ihr diesmal wirklich ein starkes Statement gelingt. Statt ihrem Gegenüber ihre Botschaft aus nächster Nähe ins Gesicht zu schreien, lässt sie sich hier einfach über die Schulter und bei ihrem Struggle zuschauen.

Die Erzählung beginnt in einer gynäkologischen Praxis. Şahin sucht sie auf, nachdem sie einen Knoten in ihrer Brust ertastet hatte. Es läuft von Beginn an unrund: Ihre Ärztin weilt in Elternzeit, die Vertretung übernimmt ein ihr unbekannter, zudem recht unsensibler Kollege. Was man sich schon unter normalen Umständen nicht wünscht, nimmt in einer angstbehafteten Situation doppelt und dreifach mit. Die Furcht stellt sich als berechtigt heraus, die Geschwulst als bösartiger Tumor von der Größe einer Kastanie, und wir sind unmittelbar dabei, mittendrin im emotionalen Chaos, in das die Diagnose Reyhan Şahin von einem Moment auf den anderen stürzt.

Die Bezeichnung "Krebspatientin" fühlt sich noch ungewohnt an, der Rattenschwanz an Hässlichkeiten dagegen ist schlagartig sehr real. "Amazonenbrüste" reißt ohne Vorwarnung mit in den Strudel des deutschen Gesundheitssystems, das Şahin zwar schonungslos, aber auch nicht frei von Dankbarkeit beschreibt. Sehr eindringlich und nachvollziehbar schildert sie die Ochsentour von Untersuchung zu Untersuchung, von Arzt zu Ärztin, von Zuständigkeit zu Zuständigkeit. Gynäkologie, Radiologie, Onkologie. Biopsie, Clipeinlage, Operation, Chemotherapie, wieder und wieder. Dazwischen Formulare, Anträge, Termine. All das würde schon reichen, um einen Menschen unter sich zu begraben, auch ohne die allgegenwärtige Todesangst, die Betroffene ja zusätzlich umtreibt.

Die Angst vor dem Rückfall

Reyhan Şahin ist als Depressionspatientin mit Panikattacken doppelt betroffen: Zur Angst um Leib und Leben gesellt sich die vor einem Rückfall in mentale Abgründe. On top kommt noch die Existenzangst der prekär Beschäftigten: Als freischaffende Selbständige mit (vermutlich) doch eher übersichtlichem Einkommen fehlen die Rücklagen, um sich Zuzahlungen, nötige Anschaffungen und vor allem drohende wochen- und monatelange Ausfälle im Job ohne Weiteres leisten zu können. Wie viel zusätzliche Kraft es kostet, nicht nur die Symptome der Krankheit und die Wirkungen und Nebenwirkungen der Behandlung zu ertragen, sondern nebenbei auch noch funktionieren zu müssen, zu arbeiten und dabei den eigenen Zustand vor einer neugierigen Öffentlichkeit zu verschleiern: Die Lektüre von "Amazonenbrüste" vermittelt immerhin eine vage Vorstellung davon.

Ihr Hadern mit ihrer Situation und ihr Ringen um ihr psychisches Gleichgewicht beschreibt Şahin ausgesprochen nachvollziehbar. Sie wirkt - eine Beschreibung, die mir angesichts ihres früheren öffentlichen Auftretens nie in den Sinn gekommen wäre - nahbar, was diesem Buch nahezu unschätzbaren Wert verleiht. Indem sie an ihrer Geschichte teilhaben lässt, vermittelt sie Betroffenen das Gefühl, nicht der einzige Mensch zu sein, der je in eine solche Situation geraten ist. Sie gibt Einblick in Mechanismen und Abläufe, schildert und benennt ungeschönt, was scheiße läuft, würdigt aber auch positive Erfahrungen auf ihrem Weg. Die kompetente, gut organisierte und obendrein menschlich zugewandte Betreuung im Brustkrebszentrum, etwa.

Echt jetzt?

Dass Reyhan Şahin ihr Buch auch als Plattform für Aktionismus, als Vehikel für feministische, politische Inhalte benutzt, um auf die Situation von Frauen im Allgemeinen, von PoC und Migrantinnen im Besonderen hinzuweisen: nur legitim. "Amazonenbrüste" wäre allerdings ein noch besseres, weil absolut aufrichtiges Buch geworden, hätte sie sich (und ihrer Leser*innenschaft) so lächerlich unglaubwürdige Kapitel erspart wie das, in dem sie eine Begegnung mit einem Krankenpfleger wiedergibt: "Ey, so-fort hab' ich dich erkannt!! Schon als ich dich gesehen hab, wusste ich's! Aber ich wollt nix sagen vor den anderen. LADY BITCH RAY!!! Man, Legende bist du, man!!"

Sicher. Sicherlich. Man müsste schon extrem leichtgläubig sein, um sich diesen überdimensionalen Bären aufbinden zu lassen. Wie viele junge Jockel gibt es wohl, die in einer frisch operierten und entsprechend lädierten Patientin eine vor x Jahren einmal allenfalls medioker erfolgreiche Rapperin erkennen könnten, und wie hoch mag die Wahrscheinlichkeit sein, dass der eine, der das kann, zufällig das Bett aus dem OP schiebt und auch noch ein Fan ist? So wahnsinnig viele Männer haben Lady Bitch Ray seinerzeit ja nicht gefeiert.

Sehr durchsichtig, dient dieses Märchen als der nötige Aufhänger, um wieder einmal das altbekannte Lamento vom Stapel lassen zu können. Im anschließenden "Gespräch" mit diesem Pfleger tritt Şahin nämlich erneut breit, warum ihr ihrer Meinung nach der Durchbruch zu Hip Hop-Superstardom verwehrt geblieben ist und was im Rap-Zirkus alles falsch läuft. Siehe oben. Offenbar kann Lady Bitch Ray einfach doch nicht ganz aus ihrer Haut.

Ende gut!

Immer dann, wenn die Autorin aber nicht mit maßloser Selbstüberschätzung über Deutschrap, ihren Beitrag dazu und ihre Rolle darin schreibt (was glücklicherweise nur selten passiert), ist "Amazonenbrüste" ein ehrliches, berührendes, hilfreiches, tröstliches und deswegen immens wichtiges Buch. Nicht zuletzt, weil der positive Ausgang ihrer Story Betroffenen Mut macht.

Zwar begegnet man darin durchaus auch Menschen, die weniger Glück hatten. In Reyhan Şahins Fall haben die kräftezehrenden Chemotherapien aber angeschlagen. Der Krebs hat sich zurückgebildet, die Patientin ist keine mehr. Sie ist nun eine Überlebende, ihr Körper frei von Tumoren und Metastasen. Seht also her: Auch Leidensgeschichten können gut ausgehen. Inmitten der viel zu vielen Horrormeldungen, die eine*n unentwegt umschwirren, ist das doch genau, was man lesen möchte. Ich freu' mich und wünsche von Herzen alles Glück der Welt für eine hoffentlich noch lange, gesunde Zukunft.

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Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray - "Amazonenbrüste"*

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3 Kommentare

  • Vor 6 Stunden

    Die war neben Kollegah für mich der Inbegriff dieser unsäglichen "Das muss künstlerisch hochwertig sein, denn die rappt, hat aber auch studiert"-Haltung, die das deutsche Feuilleton damals hatte.
    Aber Ulf Poschardt ne ungewollte Dusche zu verpassen ist in meiner Welt Verdienstkreuz würdig.

  • Vor 3 Stunden

    Ungefähr genauso brauchbar wie "Ehrlich" von Mark Medlock. Mein Beileid an alle, die für so einen Schund Geld ausgeben XD

  • Vor 2 Stunden

    der titel ist gold. treffer und versenkt fr dr phil. ob das außerhalb des germanisten/philologenzirkel jmd checkt?

    auch wenn ich nahezu keine gemeinsame schnittmenge oder ähnliche ansichten habe, krebs ist scheiße, möge fr dr Şahin ewig leben!