15. April 2025

"In den 80ern durfte man nicht zimperlich sein"

Interview geführt von

Xmal Deutschland zählen zu den wichtigsten deutschen Bands der Postpunk- und New-Wave-Ära. 35 Jahre lang war es still um die Hamburger - bis jetzt.

Es klingt wie ein Traum: Xmal Deutschland wurden Anfang der 80er Jahre direkt vom angesagten britischen Indie-Label 4AD (u.a. Bauhaus, Birthday Party) unter die Fittiche genommen. Bis 1989 veröffentlichte die Band vier Alben. Nach der Trennung wendete sich Sängerin Anja Huwe der Kunst zu und schwor der Musik völlig ab. Umso überraschender, als letztes Jahr ihr Solodebüt "Codes" erschienen ist, neben einer Compilation sehr früher Xmal-Deutschland-Songs.

Am 9. Mai folgt mit "Gift: The 4AD Years" eine Zusammenstellung der ersten beiden Studioalben dieser einflussreichen Band: "Fetisch", "Tocsin" sowie einige EP-Tracks. Mit dabei: der Gothic-Klassiker "Incubus Succubus II". Die Doppel-CD sowie das 3LP-Boxset (in farbigem Vinyl) ist bereits hier vorbestellbar. Anja Huwe ist entsprechend gut gelaunt, als wir sie zum Zoom-Interview antreffen. Mit diesem Happy End hätte die 67-Jährige selbst am wenigsten gerechnet.

Anja, du hast letztes Jahr nach 30 Jahren deine Rückkehr ins Musikgeschäft gefeiert. Wie blickst du mit dem Abstand von einem Jahr auf diesen Einschnitt? Bist du mit der Resonanz auf dein Album "Codes" zufrieden?

Ich bin sehr zufrieden, weil ich nichts erwartet hatte. Wenn ich Projekte angehe, dann mache ich sie einfach. Ich hege da keine Erwartungen. Der kreative Prozess ist für mich der wichtigste. Es war natürlich clever von dem Label, mein Album und den Re-Release von Xmal Deutschland aufeinander folgen zu lassen. Ich bekam positive Besprechungen und musste sehr viele Interviews geben. Das war schon toll.

Du hast daran mit Mona Mur eineinhalb Jahre lang gearbeitet. Ohne zu wissen wie viel Zeit du in deine Kunst mitunter steckst: Kann man die Zufriedenheit nach Fertigstellung der Platte mit der eines Bildes vergleichen?

Ja, auch wenn es eine andere Form der Arbeit ist, ein anderer Prozess. Ich hatte mir die Kunst irgendwann ausgesucht, weil ich da alleine arbeite. Natürlich kenne ich Mona schon viele Jahre oder auch Manuela, mit der ich schon bei Xmal gearbeitet habe. Für mich war es nach der langen Zeit einfach wieder interessant, auf andere Menschen zuzugehen. Das hatte ich ja ewig nicht gemacht.

Trotz des Soloalbums wolltest du eigentlich nicht live auftreten, aber dann standest du beim holländischen Grauzone Festival eine Stunde lang wieder vor Publikum. Wie wars?

Während das Album entstanden ist, habe ich immer gesagt: Okay Leute, ich gehe aber nicht auf die Bühne. Ich weiß ja wie das ist und was es mit dir machen kann. Die Anfragen waren dann aber so enorm, dass ich irgendwann dachte: Wie wäre es denn, wenn man noch einen Schlagzeuger hätte? Und wie klingt wohl dieser alte Xmal Deutschland-Song, wenn man ihn ein wenig pimpt? Das machte plötzlich echt Spaß. Und so stand ich dann da in Den Haag vor ziemlich vielen Leuten, ohne Soundcheck.

Das war eine krasse Erfahrung. Irre. Und damit meine ich vor allem auch die Reaktionen. Die Leute waren euphorisch. Manche standen da und haben geweint. Ich habe auch fast geweint. Ich konnte das gar nicht fassen. Früher in den 80ern stand das Publikum regungslos vor dir und hat dich angeguggt. Man bewegte sich nicht. Jetzt waren die Leute total dankbar und euphorisiert. Ich war wirklich perplex und musste das erstmal verarbeiten. Auch als ich mir danach die Fotos angeschaut habe. Denn der Abend war für mich schwierig, es war saukalt und ich war total erkältet.

Wie harmonieren die alten Xmal-Songs mit deinen neuen? "Rabenschwarz" und "Living In The Forest" von "Codes" haben auf jeden Fall ein ähnliches Energielevel.

Die alten Songs haben wir vor allem elektronisch umgearbeitet. Da habe ich überhaupt erst gemerkt, wie gut die Xmal-Deutschland-Songs sind. Das ist von der Struktur her ja total simpel, damit kannst du richtig viel anfangen. Überhaupt habe ich nie verstanden, warum so viele Leute uns so gut finden. Erst jetzt nach Jahrzehnten merke ich, was diese komplett monotone, durchstrukturierte und teilweise sehr schräge Musik bewirkt. Von außen betrachtet hat das schon seinen Charme. Früher habe ich das selbst blockiert. Meine Vergangenheit hat mich einfach nicht mehr interessiert. Das ist eben mein Prinzip, ich schaue immer nach vorne.

Warst du jetzt auch in den Remastering-Prozess der alten Songs eingebunden?

Das Lustige war: Leute aus den Abbey Road Studios haben mich privat angeschrieben und meinten, sie seien totale Fans und wie gut das alles klingen würde. Dann habe ich mir das zum ersten Mal angehört und war überwältigt. Die haben auch unsere vier John-Peel-Sessions und eine Janice-Long-Session, die wir damals gespielt haben, remastert. Das wird hoffentlich in einem zweiten Schritt wiederveröffentlicht. Wenn man das hört, traut man seinen Ohren nicht: Das ist ein wahnsinniger Unterschied. Ich wusste bisher nicht, was Remastering alles ausmachen kann.

Nochmal kurz zu deinem Soloalbum: Da war auch Jon Caffery involviert, der schon mit Joy Division und später mit den Toten Hosen im Studio war. Seit wann kennt ihr euch und wie kam es zur Entscheidung für ihn?

Ich habe Jon schon vor vielen Jahren in Hamburg kennen gelernt. Als Die Toten Hosen angefangen haben, haben die in Hamburg immer bei uns in der WG gewohnt. Ich sitze hier ja auch gerade beim Freibank Musikverlag von Mark Chung von Einstürzende Neubauten, wir sind alle miteinander vernetzt. Mona kennt Jon natürlich auch. Er ist einfach irre gut und geht auch mit uns auf Tour.

"Die Tour-Crews haben uns nicht ernst genommen"

Zeitgleich mit "Codes" erschien letztes Jahr die "Early Singles"-Compilation von Xmal Deutschland, allerdings kamen beide Scheiben auf dem Label Sacred Bones raus. Warum nicht auch auf 4AD/Beggars?

Ach, die 4AD-Box-Idee existierte schon vor Corona. Unsere Musik war seit 30 Jahren nicht mehr auf dem Markt. Wir haben daran also die ganze Zeit nichts verdient. Irgendwann habe ich das Thema bei 4AD dann angestoßen, denn unser ganzes Material liegt bei denen ja in den Archiven herum. Die fanden die Idee zwar auch gut, aber es dauerte einfach alles ewig. In New York habe ich Caleb von Sacred Bones kennen gelernt, der auch Fan von meiner Kunst ist. Der hatte großes Interesse, Xmal Deutschland über sein Label laufen zu lassen. Also meinte ich zu Fiona (Keyboards bei Xmal Deutschland, Anm. d. Red.): Komm, das Label ist gut, die sind angesagt und haben Bock. Lass uns die frühen Singles jetzt bei Sacred Bones machen, damit was auf den Markt kommt. 4AD haben dann ihr Ding gemacht. Aber es wird ja noch mehr rauskommen, ein Mashup eines Xmal-Deutschland-Tracks und eines "Codes"-Tracks und die zwei anderen Alben von Xmal Deutschland.

Zum Bandnamen: Ich habe gelesen, er ist dem Buchtitel von Rudolf Walter Leonhardt entlehnt, dem Feuilleton-Chef der Zeit der frühen 70er Jahre. Eine Hommage an dessen Buch?

Nein, keine Hommage. Damals gab es halt viele Bands mit so kuriosen Namen wie Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Modern English und UK Decay. Fiona, die jüngste in der Band, kam damals ja aus Schottland mit ihrer Mutter nach Deutschland und sie hatte dann dieses Buch im Schrank stehen. Das klang für uns nach einem guten Bandnamen. Heute finde ich es ein bisschen grenzwertig.

Dass ihr zu Beginn eine Frauenband wart, war ja reiner Zufall. Dennoch: Wie hart war es für euch in in den frühen 80er Jahren in einem männerdominierten Business?

Wir bewegten uns in einer Blase an Freunden, die dieselben Bands, dieselben Klamotten und dieselben Clubs gemocht haben. Die meisten spielten auch selbst in Bands. Wir waren daher sehr autark. Es gab rückblickend sicher hier und da krasse Sprüche, die wir aber immer versucht haben auszuhebeln. Als wir zum Beispiel mit den Stranglers diese fette Tour gespielt haben, wo wir auch in Wembley aufgetreten sind, da wurde man von der Crew als Mädchen nicht ernst genommen. Ich habe aber sehr schnell deren Sprache gelernt und viel verstanden. Dann bin ich gerne zu Manu gegangen, unserer Gitarristin, und meinte: Komm, die blasen wir jetzt mal richtig weg. Daraufhin hat sie ihre zwei Amps aufgedreht und wir haben losgelegt. Danach haben die gemerkt, dass wir was können und haben uns akzeptiert. Aber man durfte damals nicht zimperlich sein. Wir waren eher maskuline Mädchen, auch wenn wir nicht so aussahen.

Ihr hattet im Ausland schnell mehr Erfolg als in Deutschland. War es für euch nicht seltsam, wenn in Madrid mehr Leute in euer Konzert kamen als in München?

Doch, das war es. Hier lief es zwar auch gut, aber im Ausland reagierte man auf uns euphorischer, obwohl natürlich fast niemand deutsch sprach. Es gab ja auch keine Übersetzungstools, das musste man ja noch alles mit Büchern übersetzen. Das war schon süß. Viele haben Xmal Deutschland auch nie als deutschsprachige Musik gesehen, eher als Wall Of Sound. So wie ich mich nie als Kopf oder Sängerin der Band verstanden habe, sondern als Teil einer Gruppe. Den Gesang wollte ich daher immer in den Sound integrieren, das merke ich auch heute zum Teil noch, wenn ich die alten Sachen singen muss. Das ist auf einem Level wie eine zweite Gitarre, immer weit oben, immer phrasiert, das ist schon heftig. Ich kann das noch, aber es ist anstrengend.

Mit den Punks damals war ja angeblich nicht zu spaßen. Zuschauer sollen mitunter auf die Barrikaden gegangen sein, wenn ihnen die Spielzeit der Band als zu kurz erschienen ist. Welche kuriosen Erfahrungen habt ihr damals gemacht?

Meistens hatten die Leute Respekt vor uns, es gab aber auch eine gewisse Zeit, da kamen vor allem im Norden Englands gerne Skinheads zu den Konzerten. Und die hatten diesen Habitus, die Leute auf der Bühne anzuspucken. Das fand ich nicht lustig.

Ihr seid schon 1981 mit DAF und den Krupps in England aufgetreten. Gab es da so eine gemeinsame Aufbruchsstimmung?

DAF haben sich nie wirklich für uns interessiert, muss man sagen. Die Krupps waren da nochmal ein anderer Fall, aber weil ich mit Frank Z. und Mufti (FM Einheit, Anm. d. Red.) und diesen Leuten in einer WG wohnte, war ich immer mehr Berlin-orientiert, zu Neubauten und Malaria! und so. Es gab aber schon eine leichte Competition, wer wo zuerst ist.

"Depeche Mode fanden wir blöd"

Wann ging dieser Erfolg im Ausland los und konnte ein kleines Indielabel wie ZickZack diese Nachfrage adäquat stillen?

Auf ZickZack kamen nur unsere ersten beiden Singles raus. In dieser WG, von der ich eben sprach, wohnte ja auch Alexander Borsig von den Neubauten (Alexander Hacke, Anm. d. Red.), der war 14 und gerade von zuhause abgehauen. Und der meinte eines Abends: "Eure Musik klingt so englisch, wieso geht ihr nicht direkt nach England? Da gibts das Label
4AD, auf dem auch Bauhaus sind." Dann haben wir denen unsere "Incubus Succubus"-Single geschickt und eine Geschichte in schlechtem Englisch dazugelegt, die meines Wissens auch im Booklet der Neuauflage drin ist. Und 4AD haben wirklich geantwortet und uns nach England eingeladen. Dort standen wir dann im Büro von Ivo (Gründer Ivo Watts-Russell, Anm. d. Red.) und konnten es nicht fassen, als er meinte, wir sollen dort ein Album aufnehmen. Wir also alle in unseren VW-Bully, hoch nach England und ab in die Blackwing Studios von Yazoo. Dort gab es viele Proberäume und es war immer was los. Wir konnten es gar nicht richtig begreifen, nebenan probten Yazoo, Blancmange, Depeche Mode und wie sie alle hießen. Und es ging alles extrem schnell: Wir hatten sofort diesen Gig mit den Cocteau Twins. Das war sicher ungewöhnlich, aber so war es.

Yazoo und Depeche Mode, fröhlicher Synthiepop, war aber wahrscheinlich damals nicht so euer Geschmack, oder?

Nein, wir haben ja dunklere Musik gehört und fanden eher Psychedelic Furs und Bauhaus super. Lustig war: Als wir "Fetisch" aufnahmen, gab es noch so ne andere Band, die auch nachts aufnahm. Und der Sänger hat immer so Kisten vor diese Fenster gestellt, weil er nicht wollte, dass man ihn beim Singen beobachtet. Und das war Dave Gahan. Depeche Mode waren damals halt eine Teenieband. Wir fanden die blöd und haben auch nicht mit denen geredet.

Wo wir schon bei Depeche Mode sind: Ihr habt 1986 auch mit dem Fotografen Anton Corbijn gearbeitet. Seid ihr auf ihn zugegangen?

Ja, wir haben ihn gefragt. Das war eine schöne Arbeit. Ich habe Anton später mal in London getroffen, als er wie Manuela in Camden lebte. Ich fand den Satz schön, den er mal über uns gesagt hat: Er habe uns damals sehr gerne fotografiert, nicht nur wegen Anja. Das fand ich toll, offensichtlich mochte er die Band.

Die Neue Deutsche Welle war ab 1982 eine Art Todesstoß für deutschsprachige Bands wie euch, Palais Schaumburg oder andere ZickZack-Bands, für die "Kommerz" ein Schimpfwort war. Wie hast du diese Zeit empfunden und wie veränderte sich dadurch eure Punk-Szene, etwa in Läden wie dem Ripoff?

Es war schon mit ein Grund, warum wir den Schritt nach England gegangen sind, denn uns war klar: Wenn wir hierbleiben, landen wir noch in der Bravo als diese Mädchen mit den bunten Haaren.

Ihr wart dann aber eher in der Spex als in der Bravo, oder hat man euch auch mal zu Alfred Biolek ins TV eingeladen?

Nee, in der Spex waren wir. Aber naja: Der Redakteur saß dann mit diesen vier Mädchen in irgendeinem Hotelzimmer, hat auf den Boden geschaut und versucht mit uns zu reden, dabei konnte er mit uns nix anfangen. Er musste das halt machen. Diese Skepsis kannten wir schon, seit wir aus England zurückgekommen sind.

Du hast mit Alfred Hilsberg von ZickZack und John Peel zwei Persönlichkeiten kennen gelernt, die große Dienste um die Verbreitung von alternativem Sound in Deutschland und England erworben haben. Wie waren deine Erfahrungen mit beiden?

Bei Alfred sind wir ganz am Anfang zu fünft in sein Wohnzimmer gelaufen und haben ihm gesagt, dass wir auch eine Platte bei ihm machen wollen. Er meinte nur: Okay. Alfred war sehr großzügig. Er lebte nur für die Kunst und die Musik. Zu John Peel ist zu sagen: Er hat es in der Regel vermieden, Bands kennen zu lernen, die er mochte. Wir haben ihn nie kennen gelernt. Wir wollten das gerne, aber er hat es nicht gemacht.

Die Fotos von Corbijn waren für euer 1987er Album "Viva".

Ja, das war das dritte Album und ist bei einem Majorlabel erschienen. Da herrschten natürlich ganz andere Erwartungshaltungen, was uns betrifft. Dazu kam, dass wir damals seit sechs Jahren zusammen waren. Der Druck steigt, weil jeder weiß, dass bei der Sache irgendwann etwas bei rumkommen muss - also der Klassiker. Mir wurde vom Label auch nahegelegt, mir Gedanken um eine Solokarriere zu machen, dabei war das fern meiner Vorstellungskraft.

Eure Musik klingt heute immer noch frisch und aufregend und übt mit dieser melancholischen Post-Punk-Färbung sicher eine ähnliche Faszination auf junge Generationen aus wie die frühen 80er-Jahre-Platten von The Cure oder Siouxsie. Wenn du dir heute eure frühen Songs der neuen "Gift"-Compilation anhörst, wie klingen die für dich und wie fühlt sich das generell an nach so einer langen Zeit?

Ich kann mich schon in viele der alten Lieder noch hineinversetzen, etwa in "Geheimnis" oder "Boomerang". Ich habe immer Metaphern benutzt, auch als Abgrenzung von all den Neue-Deutsche-Welle-Bands. Ich mochte deren Wortwahl nicht. Manche Sachen finde ich heute natürlich nicht mehr so geil, aber das kam damals halt alles aus dem Bauch. "Incubus Succubus", was soll ich dazu sagen? (lacht)

Das sind alles Lieder voller Sehnsucht und jugendlicher Passion, aus einem ganz bestimmten Zeitfenster. Ich kann das alles singen, aber ich trenne mich inhaltlich davon. Sonst ginge das gar nicht. Ich bin eigentlich ja wie gesagt gar nicht der Retro-Typ, deshalb ist es auch so irre, dass das hier gerade passiert.

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