laut.de-Kritik

German Gothic-Auferstehung nach 30 Jahren.

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Spontane Assoziationen weckt der Bandname Xmal Deutschland wohl bei den wenigsten. Nichteingeweihte rümpfen eher die Nase. Auch Sängerin Anja Huwe findet den Namen heute grenzwertig, aber als sie ihn auswählte, heißt der deutsche Bundeskanzler noch Helmut Schmidt und vom Punk begeisterte Jugendliche provozieren gerne mit Verweisen aufs eigene Land, etwa Deutsch-Amerikanische Freundschaft oder UK Decay. Die Wahl des Namens sollte den Hamburgern ironischerweise bald in die Hände spielen, als sie im Ausland Karriere machen, wo man damals aus allem Deutschen erstmal die Härte des Dritten Reichs herausliest, was wiederum eine gefährliche bis aufregende Exotik versprüht.

Spätere Generationen hatten wenig Chancen, die Musik von Xmal Deutschland kennen zu lernen, denn weder war sie auf Streamingdiensten gelistet, noch auf CD oder LP verfügbar - rund 30 Jahre lang. Nach einer "Early Singles"-Compilation auf Sacred Bones legt nun 4AD/Beggars nach, schließlich sind dort 1983 und 1984 die wichtigen, stilprägenden XD-Alben "Fetisch" und "Tocsin" erschienen. "Gift: The 4AD Years" beinhaltet diese in voller Länge samt fünf EP-Tracks und schließt so eine klaffende Lücke in vielen Wave- und Postpunk-Plattensammlungen.

Die ursprünglich nur aus Frauen bestehende Band überzeugt 1981 mit ihren Demos Alfred Hilsberg, den Hamburger Szene-Papst und Getriebenen der reinen Punkrock-Doktrin, der sie nach zwei Singles aber schon nach England ziehen lassen muss. Gerade rechtzeitig, denn während hierzulande Nena, Markus und Geier Sturzflug eine neue deutsche Frohsinnskultur etablieren, reüssieren Xmal Deutschland in Großbritannien zwischen Cocteau Twins und den eigenen Idolen Bauhaus. Gutes Timing.

Zwei Jahre bleiben sie der Heimat fern, mit Songzeilen wie "Deine Qual ist meine Lust", "Nachts wenn du schläfst bin ich lebendig" ("Qual") und "Umarme mich in der Dunkelheit" ("Mondlicht") sichert Huwe ihrer Band dennoch einen vorderen Platz in der um sich greifenden Gothic-Bewegung. Im Ausland versteht man davon eher wenig, vielmehr beeindruckt die Band mit ihrem musikalisch dichten Sound, der auf "Fetisch" noch ungestüm und roh daherkommt. Diese Wall Of Sound berührt nicht nur Menschen in Großbritannien und Spanien, sondern auch im fernen Japan.

Der Sound knallt auch heute noch ordentlich, was er wesentlich dem Remastering verdankt. Rita Simons Bass treibt "Young Man" und "Orient" voran, zwei in der Tracklist hintereinander platzierte Songs beginnen mit dem exakt gleichen gespenstischen Sound aus Fiona Sangsters Keyboard ("Hand In Hand", "Kämpfen"), wobei letzterer sowie "Boomerang" durchaus leichte Joy Divison-Vibes verströmen. Dass diese Songs damals vom Underground länderübergreifend mit offenen Armen empfangen wurden, ist leicht nachvollziehbar.

Doch ohne Anja Huwe wäre Xmal Deutschland knapp fünf Jahrzehnte nach der Bandgründung wahrscheinlich kein Thema mehr. Im Stile der einzigartigen Wesensverwandten Siouxsie Sioux kennzeichnet ihre durchdringende Stimme die vorliegenden Songs. In "Mondlicht" besteht die Hook praktisch nur aus Huwes ausgedehnter "Oh-oh-oh-oh-ooooh"-Silbendröhnung, "Augen-blick" ist der große Postpunk-Hit, der nie einer wurde, dafür aber "Incubus Succubus II", das deutsche "Temple Of Love" für die schwarzen Dancefloors, wo die Beschäftigung mit erotischen Nachtdämonen auf existenziellen Boden fiel.

"Und ich weiß, es ist nur ein Moment / Es ist nur ein Moment", singt Huwe in "Augen-blick" vom Album "Tocsin", ohne ansatzweise zu ahnen, wie lange dieser Moment letztlich vorhalten würde. "Das sind alles Lieder voller Sehnsucht und jugendlicher Passion, aus einem ganz bestimmten Zeitfenster", ist die 67-Jährige heute noch stolz auf ihr Frühwerk. Die Zeit der überteuerten Originalpressungen auf Ebay ist dank dieser Veröffentlichung vorbei. Huwe gibt heute sogar wieder Konzerte, auf denen sie nach langer Bühnenabstinenz neben ihren Solosongs auch XD-Klassiker singt.

Trackliste

Fetisch

  1. 1. Qual
  2. 2. Geheimnis
  3. 3. Young Man
  4. 4. In Der Nacht
  5. 5. Orient
  6. 6. Hand In Hand
  7. 7. Kämpfen
  8. 8. Danthem
  9. 9. Boomerang
  10. 10. Stummes Kind

Tocsin

  1. 1. Mondlicht
  2. 2. Eiland
  3. 3. Reigen
  4. 4. Tag für Tag
  5. 5. Augen-blick
  6. 6. Begrab Mein Herz
  7. 7. Nachtschatten
  8. 8. Xmas in Australia
  9. 9. Derwisch

EP-Bonustracks

  1. 1. Incubus Succubus II
  2. 2. Vito
  3. 3. Qual - 12" Remix
  4. 4. Zeit
  5. 5. Sehnsucht

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