laut.de-Kritik
Psychedelik-Motown unter der Discokugel.
Review von Kay SchierIn den vergangenen Jahren ist im R'n'B viel passiert. Seit dem modernen Meilenstein "Channel Orange" traut er sich aber wieder eine ganze Menge mehr, als nur Hooks in Rapsingles zuzuschmalzen. Dabei zeigte sich die ureigene Großartigkeit des Genres vor allem daran, dass man so ziemlich alles erfolgreich mit emotional ungebremst expressivem Gesang kombinieren kann, wenn man es denn nur genauso ehrlich meint: The Weeknd zieht ohne Angst vor Grandezza sein bombastisches Michael-Jackson-Superstarding durch, Abra schmachtet unterkühlt elektronisch, SZA vintagemäßig warm, und ein Blood Orange mixt die Zutaten wiederum ganz eigen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Das erste Album der Band 79.5 aus New York bereichert das Genre nun um weitere Nuancen, die man bisher nur deswegen nicht heftig vermisste, weil man nicht wusste, dass es sie gibt. Auf selbstbewusst kreative Weise wissen sie schon jetzt ganz genau, was ihnen gut steht: Ein unter der Discokugel schimmerndes Soundkleid mit ausgefallenen Pailletten, das nie overdressed wirkt. Das Cover wird dem Albumtitel "Predictions" gerecht, und sagt vorher, was drin ist: Motive des Soul und R'n'B, sympathisch psychedelisch interpretiert.
Man hört "Wavy" und möchte eine zweite Chance für den Sommer. Nochmal alles, aber diesmal bitte alles mit weniger Instagram-Faktor, sich einfach in den nächsten Park setzen, die Augen schließen und sich wavy fühlen. Eine waschechte Hitsingle, in schnörkellos zeitlos elegantem Gewand, wie dieses eine Outfit auf der Party, das in Summe keine 50 Kröten gekostet hat - und trotzdem drehen sich alle um. Das Schlagzeug klopft stoisch einen karibischen Beat der wie der stilbewusste Cousin von Afrotrap klingt, darüber gießen die drei Sängerinnen der Band ihren Soul aus. Ab der Hälfte spielt sich das Saxofon von allem Unbill frei, den ihm Popmusik von "Careless Whisper" bis müdem Kommerztechno angetan hat.
"Boy Don't Be Afraid" geht sofort in Beine und Hintern - wobei man sich fragt, was da eigentlich so süchtig macht? Ein paar Noten von Keyboard und Bass, sanft hingetupft, plus dieses arschtrockene und saucoole Getrommel zu diesem leicht entrückten Soulgesang, multipliziert mit Flöte. Seit "Mask Off" gehört die Renaissance dieses Instruments, ob in Block- oder Querformat, zu den lustigsten Plottwists aktueller Popmusik. Immer wieder taucht sie auf "Predictions" unvermittelt auf und verbreitet schelmischen Charme, der sich in den Kontext von Soul und R'n'B so nahtlos einfügt, als hätte er immer schon dazugehört.
Die Flöte trägt sehr zum einzigartigen Vibe dieser Platte bei, die das Bild einer New Yorker Greenwich-Village-Kommune heraufbeschwört, in der lange Hippiemähnen und Motown-Afros einvernehmlich im Takt nicken - erinnert ihr Klang doch öfters an die frühen King Crimson-Platten bzw. psychedelischen Folkbands. Am deutlichsten tritt das auf "Fireman" zu Tage, das zu Beginn klingt wie eine Schlangenbeschwörung, in die sich beiläufig eine wunderschöne Orgelmelodie einflechtet, um schließlich in einen hymnischen Gesang zu münden, zu dem man sich Tambourin und Blumen im Haar zwingend dazudenkt. Hallo, hallo, wir sind 79.5 und würden gern dein drittes Auge öffnen, aber vergiss dabei die guten Discoschuhe nicht. Ein bisschen erinnern sie in ihrem klar produzierten Vintagesound an "Lonerism"-Tame Impala, wobei sie die Hinwendung zur Disco auf "Currents" gleich miteinbeziehen.
Bei allem Eklektizismus klingt "Predictions" sehr homogen und in sich geschlossen. Zwar kommt jedes Element und Instrument zu seinem Recht, auf Slow Jams wie "I Stay, You Stay" oder "Fantasy" darf der weibliche Gesang auch mal soulig entrückt vor sich hinschmelzen, aber Bandgedanke und Song stehen immer an erster Stelle.
"Predictions" ist ein wunderschönes Debüt, weil 79.5 ihre musikalische Vision weit genug ausformulieren, um den Hörer mitzunehmen, gleichzeitig aber genug ungesagt lassen, um dessen Fantasie anzuregen. Das musikalische Handwerk klingt tadellos, immer cool und ausgefallen, aber nie strebermäßig und prätentiös. In dieser Nische ist noch viel möglich. Man kann soulige Zweisamkeit genau so gut genießen, wie mit Freunden die Nacht durchzumachen: Ab unter und durch die Decke damit, 79.5 möchten gehört und müssen gefeiert werden. Schwingt die Hüften, lasst euch erleuchten. Wer das nicht tut, hat's nicht verstanden!
1 Kommentar
Eine richtig mega geile Scheibe!!!
(Hey Parcels, so geht das)