laut.de-Kritik

Die Ehrenrunde der Synth-Survivors. Hoffentlich.

Review von

Ein letztes Mal Dave Gahans Aufforderung "Lemme see those hands", ein letztes Mal devote "Reach out and touch Dave"-Plakate in Reihe eins, ein letztes Mal das legendäre Windmühlenspiel bei "Never Let Me Down Again" mit Tausenden empor gereckten weißen Armen, was, wie die taz einmal treffend beobachtete, aus der Ferne aussieht wie ein gigantisches Einmachglas voller Maden? Vermutlich schon.

Abschied umweht die Veröffentlichung "Memento Mori: Mexico City", den Live-Mitschnitt von drei Mexiko-Konzerten der abgelaufenen Depeche Mode-Tournee 2023/24 gleich in mehrfacher Hinsicht: Explizit vom Tod handelten schon die Songs auf "Memento Mori", dann starb überraschend Keyboarder Andy Fletcher und nun könnten die verbliebenen Mitglieder Gahan und Martin Gore ihr Vermächtnis mit 63 und 64 Jahren tatsächlich als erfüllt betrachten. Denn, memento mori: Bedenke, dass du sterben musst.

Klar ist aber auch: An Livealben herrscht nun wirklich überhaupt kein Mangel in der Diskographie der Band, so dass der Mehrwert dieses Tonträgers von vornherein gegen Null tendiert. Ein Livealbum nach einer erfolgreichen Tournee gehört schlicht und ergreifend zum guten Ton im Multimillionenunternehmen Depeche Mode. Band-Manager Jonathan Kessler duldet da keine Widerworte und hat seit 1988 genau jenen Weg zurückgelegt, der ihm damals schon vorschwebte, als man den einfachen Buchhalter im "101"-Film angesichts explodierender T-Shirtverkäufe in die Kamera prusten sah: "We're getting a load of money, a lot of money, tons of money."

Kessler hatte wahrscheinlich auch die Idee, dem Konzert vier bislang unveröffentlichte Bonustracks aus den "Memento Mori"-Sessions anzuhängen, um die Aussicht auf Charterfolge anzukurbeln. Ein Konzept, das aufgehen dürfte, denn für die Vinylversion muss man astronomische 80 Euro berappen. Die Mexiko-Show an sich ist jahzehntelang eingeübter DM-Standard: Eine Setlist mit einigen neuen Stücken, zwei Gore-Auftritten ("Home", "Soul With Me") und einem Querschnitt von "The Singles 86-98", natürlich inklusive ihrer drei größten Streaming-Hits "Enjoy The Silence" (1), "Just Can't Get Enough" (2) und "Personal Jesus" (3).

Das Problem ist nur: Ungefähr 1998 haben Depeche Mode aufgehört, alternative Liveversionen als Service an den zahlenden Fan für notwendig zu erachten. Das hatte einerseits damit zu tun, dass Gore damals erstmals merkte, wie viel Arbeit man da zusätzlich reinstecken muss, weil Alan Wilder blöderweise ausgestiegen war. Und da Gore und Gahan wohl selbst wissen, dass man die großen Hits gar nicht besser arrangieren kann, spielen sie sie seither einfach 1:1 runter, nur in minimalen Variationen, die fast immer schlechter ausfallen als damals. Beispielhaft sind die lustlosen Nile Rodgers-Gedächtnisriffs, die Gore nach dem 12"-Part in "Enjoy The Silence" abspult. Absolut hanebüchen im Vergleich zu den großartigen Licks, die er für diesen Weltsong auf der "World Violation Tour" bzw. der "Devotional Tour" zauberte.

Dass DM-Livealben seit langem quasi unhörbar sind, liegt vor allem an Christian Eigner. Es ist schade, dass Gore und Gahan nicht verstehen, dass man Synth-Pop-Klassiker wie "Everything Counts", "Never Let Me Down Again" oder "Just Can't Get Enough" mit echten Drums verunstaltet. Es hatte gute Gründe, warum Wilder sich damals nur für Tracks von "Songs Of Faith And Devotion" ans Kit setzte. Das grässliche Muckertum, das Eigner etwa im Intro von "Everything Counts" zur Schau stellt, indem er stumpf die Bassdrum durchtritt und unnötige Percussion-Tricks aufführt, widerspricht allem, wofür diese Band einst stand. "World In My Eyes" ist ein weiteres trauriges Beispiel. Live im Konzert oder im Kinosaal ist das noch erträglich, auf Konserve bleibt "Memento Mori: Mexico City" nur das traurige Abbild einer Nostalgie-Jukebox.

Gahans Stimme ist selbstverständlich nicht frei von altersbedingter Abnutzung, zumal er live im Gegensatz zu Kollegen wie Robert Smith nicht 100 Minuten auf einer Stelle stehen bleibt. In vielen Songs klingt er mittlerweile aber regelrecht erschöpft, was der erwähnte Film "M" von Fernando Frías unterstreicht, wo man aus nächster Nähe sieht, wie der Sänger für seine Fans on stage "arbeitet". Folgerichtig liegen ihm die ruhigen Nummern mittlerweile am besten: "Sister Of Night" oder vor allem "Speak To Me" bleiben wunderschöne Songs, mit denen allein man aber eben keine 50.000 Menschen in ein Stadion bekommt.

Zu schöneren Dingen, den Bonustracks. Das bereits aus dem Film bekannte "In The End" lief so gut wie jedem Fan sofort rein, Trademark-Sounds des aktuellen Albums plus bezauberndes Gahan-Crooning, sichere Bank. Es klingt jedoch am ehesten noch wie ein Album-Outtake und erfüllt den Zweck einer klassischen B-Seite, da die Key-Line "We'll be dust again in the end" wohl doch zu nah an "Ghosts Again" lag, das musikalisch klar der stärkere Track ist.

Noch besser zur Geltung kommt Gahan bekanntlich, wenn sich Gores Sounds zurücknehmen und genau dies vollbringt das stolze "Give Yourself To Me". Beginnt zwar mit einem handelsüblichen Beat-Pattern aus Gores seit "Delta Machine" angesammelter Soundbank, die Melodieführung über den zähen Akkordwechseln übernimmt Gahan mit dem Selbstbewusstsein von 40 Jahren Studioarbeit, bevor er im aufblühenden Refrain die Stimmbänder anschwillen lässt, um den Song gemeinsam mit Gore nach Hause zu bringen. Die Nummer hätten sie gerne statt "Never Let Me Go" aufs Album nehmen können.

Vor allem ist man aber die ganze Zeit über gottfroh, dass sich Depeche Mode kurz vor dem Ende ihrer sagenhaften Karriere vom unsäglichen Blues-Gebimmel der vorangegangenen drei Alben zugunsten der von ihnen mitgeprägten Synthie-Pop-Eleganz verabschiedet haben. Beide Songs komponierte Gore übrigens mit Richard Butler von den Psychedelic Furs.

Das leichte, federnde "Life 2.0" verantwortet der Chef-Songwriter alleine und überrascht in den Strophen mit einer verfremdeten Gesangsline, auf die Gahan mit Echo-Gesang antwortet. Auch "Survive" klingt zunächst wie alles seit 2013, hier gehen Atmosphäre und Gahans wehmütiger Schmelz aber mal wieder perfekt zusammen. Dies ist dann auch das Happy End (dieser Veröffentlichung): Gahan und Gore sind als Team nach Fletchers Tod zusammengewachsen. Einen Song mit dem Titel "Survive" gemeinsam zu komponieren ist nichts weniger als ein Statement.

War es das nun wirklich? Es ist dem Duo zu wünschen, denn "Memento Mori" ist auf sämtlichen Ebenen ein gelungenes Schlusswort. Für Belege ihrer Live-Qualitäten sei weiterhin auf das fast 40 Jahre alte Doppelalbum "101" verwiesen.

Trackliste

Memento Mori: Mexico City

  1. 1. Intro
  2. 2. My Cosmos Is Mine
  3. 3. Wagging Tongue
  4. 4. Walking In My Shoes
  5. 5. It's No Good
  6. 6. Sister Of Night
  7. 7. In Your Room
  8. 8. Everything Counts
  9. 9. Precious
  10. 10. Speak To Me
  11. 11. Home
  12. 12. Soul With Me
  13. 13. Ghosts Again
  14. 14. I Feel You
  15. 15. A Pain That I'm Used To
  16. 16. World In My Eyes
  17. 17. Wrong
  18. 18. Stripped
  19. 19. John The Revelator
  20. 20. Enjoy The Silence
  21. 21. Waiting For The Night
  22. 22. Just Can't Get Enough
  23. 23. Never Let Me Down Again
  24. 24. Personal Jesus

Bonustracks

  1. 1. Survive
  2. 2. Life 2.0
  3. 3. Give Yourself To Me
  4. 4. In The End

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen – Depeche Mode - Memento Mori: Mexico City €18,98 €3,00 €21,99
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Depeche Mode – Memento Mori: Mexico City [Vinyl LP] €68,63 Frei €71,63

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Depeche Mode

"To go from nothing to that in seven years was amazing". Bis heute denkt Labelboss Daniel Miller gerne an den Tag zurück, an dem Depeche Mode, die er …

1 Kommentar