Der blonde Engel und der Pate mit Kajal: Fernando Frías inszeniert die Mexiko-Konzerte der Band als gigantische Trauermesse.
Konstanz (mis) - Manche Dinge sind bei Depeche Mode so sicher wie das Amen in der Kirche: Rekordmeldungen bezüglich ihrer Welttourneen und im Nachgang regelmäßige Dokumentationen auf Konserve. Seit 2001 wurde jede Tour auf audiovisuellen Speichermedien festgehalten oder gleich ins Kino bugsiert. "Everything counts in large amounts": Niemand denkt bei dieser Zeile heute noch an die einstige Kapitalismuskritik von vier jungen Synthie-Pop-Buben.
Sie ist vielmehr als mundgerecht portionierter Singalong unverzichtbarer Teil eines Depeche-Mode-Stadionerlebnisses. Die vergangene Weltreise zum Studioalbum "Memento Mori" fiel mit 112 Konzerten zwar etwas kürzer aus als die "Global Spirit"-Tour 2019. Dennoch erreichte die britische Band mit rund drei Millionen Fans einen neuen Zuschauerrekord. Natürlich gab es einen gravierenden Unterschied zu früher: Es war die erste Tournee ohne Gründungsmitglied Andy Fletcher, der 2022 starb.
Aus den jungen Buben der 80er Jahre sind mittlerweile Senioren geworden, Fletchers Tod reduzierte die aktuelle Bandbesetzung auf zwei. Dazu passend der schon während der Pandemie beschlossene Albumtitel "Memento Mori" und die Entscheidung, ohne Fletcher auf Tournee zu gehen und ihm zu gedenken, womöglich ein allerletztes Mal. Die Aufgabe für Filmemacher Fernando Frías war daher klar umrissen, sollte man denken. "Pain and suffering in various tempos", wie die Band ihren melancholischen Sound 2005 noch scherzend umschrieb, der Leitsatz fand sich nach Fletchers Tod in einem ganz neuen Setting wieder. Und wo, wenn nicht in Mexiko, ließe sich eine musikalische Messe zwischen Vergänglichkeit, Trauer und Lebensgenuss besser inszenieren?
Tod, Vergänglichkeit und Mexiko
Diese Frage hängt wie ein Damoklesschwert über der neuen Dokumentation "Depeche Mode: M", rauscht aber nie herunter.
Das neue DM-Album beschäftigt sich mit Sterblichkeit, die Kultur in Mexiko auch, näher kommen sich die beiden Pole in 100 Minuten leider nie. Der Film besteht aus zwei Ebenen: Zum einen zeigt er die Band bei ihren drei Sold-Out-Shows im Foro Sol, einem Baseballstadion in Mexiko-Stadt. Zum anderen beleuchtet Frías die mexikanische Kultur und ihre enge Verbindung mit den Themen Tod und Vergänglichkeit.
Dass man dabei nicht erfährt, wie Dave Gahan und Martin Gore zu diesen Themen stehen, zum ausgewählten Ort des Geschehens oder wenigstens zu eventuellen Merkmalen der dort ansässigen Fangemeinde, ist bedauerlich. Denn auch die kommt nicht zu Wort, das Konzert könnte auch in Berlin oder Paris aufgenommen worden sein, aber diese Filme existieren bereits.
Allerdings bekam der vielfach ausgezeichnete mexikanische Regisseur ("I'm No Longer Here") auch Daumenschrauben angelegt: Er sollte einen Film ohne Band-Interviews und Fan-Porträts konzipieren, denn auch dies existiert bereits. Überspitzt gesagt, blieb ihm da nicht mehr allzu viel übrig. In den Momenten abseits der Bühne geht es um Zustandsveränderungen, um Erwachen und Einschlafen, und wie man in Mexiko damit umgeht. Dabei schlägt Frías einen weiten Bogen, holt etwa die Sumerer und den aztekischen Gott des Todes in seine poetisch anmutende Erzählung.
Ein Anthropologe erklärt, dass der weltbekannte Tag der Toten zwar ein Feiertag, jedoch eigentlich weder ein mexikanisches noch ein katholisches Fest sei. Diesen Arte-Doku-Charakter wird der Film nicht mehr los, zumal die Protagonisten darin nie auftauchen. Wer der spanischen Sprache nicht mächtig ist, klebt obendrein viel zu sehr an den Untertiteln. Eine monothematische Geschichte also, der die Leichtigkeit fehlt, die ausgerechnet Fletchers altem Studio-Gag anhaftete: "Does every song have to be about death?" Die Antwort des Films: Gestorben wird immer - und damit zurück ins Stadion.
Einige Klassiker bleiben außen vor
Dort allerdings trumpft Frías auf. Erst jetzt wird deutlich, wie richtig die durchaus mutige Entscheidung war, dem seit 1993 sakrosankten Langzeit-Regisseur Anton Corbijn mal eine Pause zu verordnen. Die Bühnenaufnahmen inszeniert der 46-Jährige mit einem atemberaubenden Wirbel von Perspektiven und Schnitten. Der mexikanische Himmel muss während der drei Konzerte voller Kameradrohnen gewesen sein. Die eingefangenen Bilder jagt er durch Filter, setzt glasklaren Shots körnig-verwittertes Material gegenüber und kreiert so einen neuen Blick auf die mitreißende Energie zwischen Band und Publikum. Ein Musik-Blockbuster im IMAX-Format.
Dass Gahan einen Totenkopfring trägt oder Gore das Emblem an seinem Gitarrenrevers nimmt Frías selbstverständlich dankbar auf. Er zoomt die Musiker so nah heran, dass ihr sichtbarer Alterungsprozess die quer geschnittene Erzählung des Themas und die Lyrics aufgreift, etwa wenn Gore singt: "I'm ready for the final pages / kiss goodbye to all my earthly cages". "Soul With Me" bleibt der einzige Solo-Auftritt des Mannes "mit der engelsgleichen Stimme" (Gahan), das Konzert musste für die Kinoversion erheblich geschnitten werden.
Andy Fletchers Lieblingssong "World In My Eyes"
Dass auf "Just Can't Get Enough" verzichtet wurde, wundert angesichts des Themas wohl nicht, "Walking In My Shoes" und "I Feel You" hätte man indes eher erwartet als "Condemnation". "Ghosts Again" schaffte es gerade noch in den Abspann. Frías erklärt die Songauswahl mit dem Erzählfluss, und tatsächlich vermitteln aktuelle Albumtracks wie "Wagging Tongue" oder "Speak To Me" die Schwere des Sujets überzeugend. Genau wie Gahans über die Jahre angepassten Bühnen-Manierismen, die er auch Dance-Klassikern wie "Everything Counts oder "Enjoy The Silence" angedeihen lässt. Wie der Pate mit Kajal schreitet der 62-Jährige über die Bühne, nur gut gelaunt und beeindruckend agil.
Der Uptempo-Electro-Track "World In My Eyes" fällt dagegen mittlerweile aus der Reihe, da sich hier auch kein Gitarreneinsatz anbietet - aber es war nunmal Fletchers Lieblingssong, weshalb der Keyboarder in diesen fünf Minuten auf den Screens allgegenwärtig ist. Über eine Szene des Films hätte der Mann, der als Mediator zwischen den Egos Gahan und Gore agierte, sicher laut gelacht: Als Gahan den langen Steg ins Publikum geht, empfängt ihn am Ende eine riesige Deutschland-Flagge. Willkommen in Mexiko.
"Depeche Mode: M", von Fernando Frías, 2025, 100 Minuten, Kinostart: 28. Oktober 2025.
 
	














 
		 
		 
		 
		 
		 
		
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