laut.de-Biographie
Årabrot
Årabrot entziehen sich eindeutigen Kategorisierungen. Ein stabiles Bandgefüge existiert bei den Skandinaviern nicht, nur eine einzige Konstante: der norwegische Sänger, Texter und Gitarrist Kjetil Nernes. Auch passt die Musik nicht in ein festgelegtes Schema. Sie verbindet raue Noise-Rock und Post-Punk-Sounds mit vielen weiteren Elementen aus Avantgarde, Art-Rock, Elektronik, Gothic und Metal zu einer eigenständigen Melange, die ihre Faszination aus dem Gegensätzlichen und Unvereinbaren speist.
Zur Welt kommt Kjetil Nernes am 12. Oktober 1979 in der kleinen Handelsstadt Haugesund, die knapp 38.000 Einwohner zählt. Schon als Kind beginnt er zu malen und zu zeichnen. Mit Rockmusik kommt er erst viel später in Berührung. Während er sich als Teenager auf Partys betrinkt, läuft im Hintergrund Nirvana, die sein Leben ein für alle Mal verändern. Nachdem er mehrere Wochenenden hintereinander über die Stränge schlägt, bekommt er ein halbes Jahr Hausarrest.
Kjetil macht aus der Not eine Tugend: Er bringt sich in seinem Zimmer Gitarrespielen bei und schreibt erste Songs. Nach einem Jahr hat er sogar genug Material für ein komplettes Album aufzuweisen. Eine feste Musikszene gibt es im harten Arbeitermilieu seiner Gegend allerdings nicht. Und mit dem trüben, regnerischen Wetter geht ein Gefühl der Perspektivlosigkeit einher.
Mit 18 verlässt Nernes sein Elternhaus Richtung Oslo, wo er sein erstes Konzert besucht. Gemeinsam mit dem Drummer und Perkussionisten Vidar Evensen, ebenfalls aus seiner Heimatstadt, und dem Bassisten, Gitarristen und Keyboarder Jon Øvstedal ruft er 2001 Årabrot ins Leben. Der Name verweist auf eine Mülldeponie in Haugesund.
Demzufolge durchziehen die ersten drei Longplayer des Trios für Norway Rat Records, "Proposing A Pact with Jesus" (2005), "Rep.Rep" (2006) und "The Brother Seed" (2009), größtenteils dreckige Noise-Rock- und Post-Hardcore-Klänge im Stile von Today Is The Day. Für die letztgenannte Platte arbeitet es erstmalig mit der Produzentenlegende Steve Albini zusammen. Weiterhin nehmen die Norweger sie in Chicago auf.
Im Anschluss entsteht mit dem Noise-Tüftler Stian Skagen alias Concept.virus die EP "Absolute Negativism", die noch 2009 erscheint. Ihr haftet insgesamt ein deutlich konzeptionellerer Charakter an als den Studioalben. Eine zweite, unveröffentlichte Version dieses Kurzformats führen Årabrot in Galerien und Kunstzentren auf. Etwa zur selben Zeit kommt es zur Gründung des Nebenprojektes Nernes/Skagen, das bis 2011 zwei LPs herausbringt.
Mit dem Wechsel zum Osloer Label Fysisk Format wachsen die musikalischen und thematischen Einflüsse Årabrots erstaunlich in die Breite. Darüber hinaus gesellen sich noch zusätzliche Musiker zur Formation dazu, etwa Gitarrist Emil Nikolaisen. Auf "Revenge" (2010) erweitert sie ihr Soundspektrum um Sludge-, Industrial- und Blues-Einflüsse. Für das wuchtige Klangbild auf der Scheibe, die sie in Oslo einspielt, zeichnet sich Billy Anderson hinter den Reglern aus. Danach steigt Jon Øvstedal aus der Band aus.
Für "Solar Anus" (2011) verschlägt es die Formation ein zweites Mal nach Chicago zu Steve Albini. Sie brütet ohne Emil Nikolaisen im Schlepptau, der sich allerdings an manchen Nachfolgern beteiligt, ein kompromissloses Biest aus, das man bei den norwegischen Grammys im darauffolgenden Jahr als bestes Metalalbum auszeichnet. Zugleich ecken sie mit ihren expliziten Texten an. In der Folge dürfen die Skandinavier in Boston und Leipzig nicht mehr auftreten. Dass ihren von Erotik, Romantik und Mystik inspirierten Lyrics geradezu ein grotesker, schwarzer Humor anhaftet, übersehen indes die Konzertveranstalter.
Zunehmend knüpft die Band weitreichende Kontakte zu kreativen Musikern aus der schwedischen Gemeinde Djura, etwa die Electro-Pop-Sängerin und Pianistin Karin Park. Die gehört seit 2012 öffentlich zur Formation. Aus Årabrot bildet sich allmählich eine musikalische Community heraus.
Auch Park scheut nicht das Spiel mit dem Feuer. So covert sie auf der Nachfolge-EP "Mæsscr" (2012) die umstrittene Neo-Folk-Formationen Death In June. Des Weiteren beauftragt sie das Henie Onstad Kunstsenter in Bærum für Arbeiten.
Unterschiedliche Musiker wie der ehemalige Madrugada-Drummer Erlend Dahlen oder Jazzer Lasse Marhaug bitten Nernes und Co. für ihr nächstes, selbstbetiteltes Album von 2013 weiterhin ins Studio. Demgegenüber wirft Gründungsmitglied Vidar Evensen noch vor den Aufnahmen zu der Platte das Handtuch. Sie klingt letztlich um ein Vielfaches rockiger und kompakter als "Solar Anus" und wartet mit einem Gastauftritt von Kylesa-Sängerin Laura Pleasants auf.
Ein Jahr später diagnostiziert man bei Nernes während der Europa-Tournee eine böswillige Form von Kehlkopfkrebs. Bevor er sich behandeln lässt, beendet er die noch verbleibenden Shows. Im Zuge seiner Genesung kehrt er Oslo den Rücken und lebt fortan mit Karin Park in einer ehemalige Kirche in den Wäldern von Dalarna in der Nähe von Djura, die er "Church Of Årabrot" tauft. Dort errichtet er sich ein eigenes Tonstudio und heiratet sie. Gleichzeitig befasst er sich, angeregt durch seine Ehefrau, die aus einer christlichen Familie aufwuchs, mit biblischen Inhalten.
Insgesamt beeinflusst die spezielle Atmosphäre seines neuen Zuhauses sein Songwriting und seine Kreativität enorm. Er scharrt für "The Gospel" von 2016 zahlreiche Musiker wie Stephen O'Malley von Sunn O))) und Erlend Hjelvik von Kvelertak um sich. Am Ende fördert dieses ergiebige Teamwork ein unbequemes, sperriges Biest aus Noise-Rock, Post-Punk, Gothic, Avantgarde und Art-Rock zu Tage, geprägt von Herzblut und Lebensdrang. Das Online-Magazin The Quietus wählt es zum Album des Jahres.
So verändert sich für die Nordlichter vieles zum Positiven. Für den Nachfolger "Who Do You Love" wechseln sie zum Berliner Label Pelagic Records, das Bands wie The Ocean und Cult Of Luna eine Heimat bietet. Der Name des Werkes stellt eine Anspielung auf das gleichnamige Stück von Bo Diddley dar. Oberhaupt Kjetil Nernes, der mittlerweile den Krebs besiegt hat, versteht es als Hommage an seine Rock'n'Roll-Vorbilder. Dazu kreist dieses befremdliche Konzeptalbum, das im Herbst 2018 in die Läden kommt, um die Liebe.
Es enthält nicht wenige literarische Bezüge, zum Beispiel zu Comte de Lautréamonts "Die Gesänge des Maldoror", und greift klanglich auf vielfältige popkulturelle Referenzen von Tom Waits über Nick Cave bis hin zu Nina Simone und Led Zeppelin zurück. Auf der Scheibe hört man zudem eine Vielzahl an Musikern wie Joakim Johansen am Schlagzeug und Alex Macarte (Gnod) am Bass. Obendrein trägt Karin Parks ausdrucksstarke Stimme sehr viel zur Erhabenheit der Platte bei.
2019 veröffentlichen Årabrot "Die Nibelungen", das mit zwei gut zwanzigminütigen Stücken aufwartet, die sie in Tromsø bei einer Aufführung von Fritz Langs knapp fünfstündigen Stummfilm gleichen Namens am 3. September 2016 unter Livebedingungen eingespielt haben. Musikalisch verbinden sie Industrial und doomige Riffs mit Drone- und Dark Ambient-Flächen.
Anfang 2021 folgt die EP "The World Must Be Destroyed", die Songs enthält, die sie noch zu "Who Do You Love"-Zeiten geschrieben haben. Die besitzen deutliche Bezüge zu Antonin Artauds Buch über den Herrscher Heliogabalus.
Nur wenige Monate später kommt mit "Norwegian Gothic" das neunte Studioalbum der Nordlichter auf den Markt. Das erachtet Kjetil Nernes als Zusammenfassung der letzten zehn Jahre Årabrots und als musikalischen Ausblick auf die Zukunft zugleich. Insgesamt wirkt die Scheibe aufgeräumter und zugänglicher als die Vorgänger, aber nicht weniger kratzbürstig. Zudem drücken Gastmusiker wie die beiden Drummer Tomas Järmyr (Motorpsycho) und Anders Møller (Ex-Gluecifer), Multiinstrumentalist Lars Horntveth (Jaga Jazzist), Bassist Massimo Pupillo (Zu) und Cellistin Jo Quail der Platte ihren eigenen Stempel auf. Järmyr ist auch 2023 auf "Of Darkness And Light", dem bis dato zugänglichsten Album der Skandinavier, mit von der Partei.
Im Großen und Ganzen bleibt Kjetil Nernes' Herangehensweise an jedes Årabrot-Werk die gleiche, ein möglichst offener Zugang zu Rockmusik", wie er es in einem Interview für Pretty in Noise betont. Im Laufe seiner Karriere treibt er die Entwicklung seines Sounds so organisch voran, dass er sich inzwischen als Songwriter und Texter hinter seinen großen Vorbildern alles andere als zu verstecken braucht.
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