24. Oktober 2018

"Kein Essen, kein Wasser, keine Menschen"

Interview geführt von

Für den Weltuntergang ziehen sich Atmosphere auf "Mi Vida Local" nach Hause zurück. Ob trotzdem Hoffnung besteht, verriet uns Rapper Slug im Interview.

2016 erschien mit "Fishing Blues" das letzte Atmosphere-Album. Zwei Jahre, in denen die Atomkriegsuhr von 11:57 Uhr auf 11:58 Uhr sprang. Doch auch wenn die Zeiten für die Menschheit schlechter werden, für Rapper Slug könnten sie nicht besser sein. Familie und Wohlstand geben ihm mittlerweile die Zufrieden- und Sicherheit, die er sich in früheren Texten wünschte.

Gut für ihn, dass die Sorgen dank Klimawandel und unberechenbarer Weltpolitik trotzdem nicht weniger werden. Zusammen mit Produzent Ant schuf er mit "Mi Vida Local" eines der eindringlichsten Alben seiner Karriere. An einem freien Tag zwischen zwei Tourstopps in Boston und Detroit nahm sich Slug die Zeit, um mit uns im Telefoninterview über Apokalypse, Hoffnungslosigkeit und die Rolle der Familie in diesen aufwühlenden Zeiten zu sprechen.

Ich möchte das Interview mit einem Zitat aus dem Song "Drove" beginnen: "I'm just trying to keep my head above the hopelessness". Wie schaffst du das?

Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, jeder hat seine eigene Herangehensweise, um das herauszufinden. Ich versuche mich mit Menschen zu umgeben, die ich mag. Statt in Bars zu gehen, konzentriere ich mich auf produktive Dinge, von denen ich etwas lernen kann. Nach wie vor besuche ich ab und an Konzerte, aber mit meinen Kindern den Zoo zu besuchen, macht mir eben mehr Spaß. Ich genieße es, nicht nur selbst etwas zu lernen, sondern auch ihnen etwas beizubringen.

Deine Familie ist ein großes Thema auf dem Album. Eine Familie zu gründen, ist gerade heutzutage mit großer Verantwortung verbunden. Dennoch scheinst du durch sie Sicherheit gewonnen zu haben. Wie passt das zusammen?

Die Familiengründung hat mich geerdet. Freude, Bestätigung, Inspiration – das sind alles Dinge, die ich daraus ziehe. Ich habe jahrelang versucht, diese Dinge durch andere Menschen zu bekommen, aber erst eine Familie machte mir das möglich. Ein ähnliches Gefühl von Freude empfinde ich nur, wenn ich rappe oder Texte schreibe.

Das klingt sehr positiv. Auf der anderen Seite rappst du in "Virgo" aber eine so pessimistische Zeile wie "I might be the last generation of grandparents".

Die Zeile beschreibt meine Sorgen darüber, in welche Richtung sich dieser Planet entwickelt. Die Welt könnte tatsächlich untergehen, wenn ich ein Großvater bin. Die Kinder meiner Kinder wären dann die letzten Menschen auf diesem Planeten. Ich möchte nicht völlig schwarzmalerisch klingen, aber diese Möglichkeit besteht. Diese Gedanken kommen mir, wenn ich im Bett liege und nicht schlafen kann.

Vor welchen Untergangsszenarien fürchtest du dich konkret?

Durch den Klimawandel und den daraus entstehenden Temperaturanstieg wird es Hungersnöte geben. Und das Ergebnis ist klar: Kein Essen, kein Wasser, keine Menschen.

Welche Rolle wird Musik in diesem Horrorszenario spielen?

Wenn die Welt an einem Punkt ist, an dem es kein Zurück mehr gibt, wird uns Musik Trost spenden. Über die letzten Jahre habe ich bereits erlebt, wie tröstend Musik sein kann. Viele Künstler konzentrieren sich jetzt schon auf Musik, die ablenkt, statt aufweckt. Vielleicht ist das eine erste Entwicklung in diese Richtung.

"Wir glauben, wir haben die Kontrolle über diese Simulation, die wir Leben nennen."

Was hältst du von Musik, die auf tiefgründige Inhalte verzichtet und stattdessen auf Eskapismus setzt?

Ich denke, es gibt einen Platz dafür. Es ist nicht die Kunst, die sich ein Publikum sucht, sondern andersherum. Wenn ich Musik hören kann, die mir eine Möglichkeit gibt, der Welt für einen Moment zu entfliehen, muss ich nicht etwas anderes dafür nutzen. Wenn ich mir anderseits Musik anhöre, die die die Menschen mit schlechten Dingen konfrontiert, fühle ich mich häufig entmutigt. Wir glauben, wir haben die Kontrolle über diese Simulation, die wir Leben nennen. Wir sind aber nicht verantwortlich für die Gedanken und Entscheidungen anderer Menschen. Trotzdem hängt alles miteinander zusammen und hat einen Einfluss auf unser Leben. Wir sind letztendlich nur durch die Freude und den Schmerz verbunden. Musik, die ich mache, ist häufig dystopisch, doch das kommt ganz natürlich aus mir heraus. Das ist das Gefühl, das mir die Welt gibt. So wird es anderen Künstlern, die Eskapismus oder Aufklärung betreiben, ebenfalls gehen. Ein Künstler muss sich auch nicht auf eine Sache festlegen. Am Ende entscheiden die Hörer, was ihnen wichtiger ist.

Auf der anderen Seite klingt ein Song wie "Mijo", in dem du von der Geburt deines Sohnes erzählst, sehr positiv.

Ich habe kein Problem damit, Musik aufzunehmen, die Schnappschüsse eines bestimmten Lebensabschnitts sind. "Mi Vida Local" kann man als Fotoalbum verstehen, das die verschiedenen Seiten meiner Persönlichkeit widerspiegelt. Ein Teil von mir ist hoffnungsvoll, ein anderer Teil denkt negativ. Ich kann ängstlich, aber auch selbstbewusst sein. All das wird mit so einem Projekt eingefangen. Alle meine Alben zeigen dir, wer ich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war. Für manche Hörer klingen die Inhalte mit jedem Release gleich. Andere erkennen eine Weiterentwicklung von Platte zu Platte. Ich habe keinen Einfluss darauf, wie meine Musik interpretiert wird. Für dich klingt "Mijo" positiv. Für mich ist der Song möglicherweise eine versteckte Botschaft an meine Kinder, falls ich morgen in einem Flugzeugabsturz sterbe. Ich verbinde mit dem Lied also Verzweiflung, da alles auf einen Schlag vorbei sein könnte.

Machst du dir Sorgen darüber, wie deine Kinder deine Songs interpretieren könnten?

Ich denke, dass ihnen die Musik einen Einblick darüber gibt, wer ihr Vater wirklich ist. Der Vater, den sie kennen, ist der, der sie tagtäglich umgibt. Aber ich bin auch unterwegs, mache Musik, werde interviewt, bin in den Instagram-Storys anderer Menschen. Wenn ich morgen sterben würde, gäbe es sehr viel Material über mich, das meine Kinder entdecken könnten. Ich finde das großartig. Ich bin mir sicher, dass es Rapper gibt, die sich bei dem Gedanken, dass ihre Kinder ihre Musik hören, unwohl fühlen. Ich bin von meiner Musik überzeugt und stehe dazu. Egal, ob vor meinen Kindern, den Fans oder meiner Mutter.

Deine Heimatstadt hat "Mi Vida Local" stark beeinflusst. Wie wichtig ist es für dich, einen Rückzugsort wie Minneapolis zu haben?

Rückzugsort? Ich sehe Minneapolis nicht als einen Rückzugsort. Ich befinde mich momentan auf Tour. Das ist ein Rückzugsort. Ich kann endlich mal wieder durchschlafen, weil ich keine Kinder um mich habe. Hier kann ich alles in meiner Geschwindigkeit und nach meinen Vorstellungen machen. Vater zu sein, ist der härteste Job, den ich jemals hatte. Es erfüllt mich, aber es ist nicht leicht. Heute haben wir einen freien Tour-Tag, den ich nutzen kann, um in Plattenläden zu gehen und "A Star Is Born" im Kino zu sehen. Das könnte ich zuhause nicht ohne weiteres.

Gibt es denn einen Ort, an dem du dir ein besseres Leben als in Minneapolis vorstellen kannst?

Nein. Es gibt Orte, die ich gerne besuche, aber ich könnte mir niemals vorstellen, wegzuziehen.

"Es gibt kein Gehemnis durch das man erfolgreich wird."

Evidence fungiert als Creative Director der Musikvideokampagne. Wie kann man sich den Austausch zwischen euch vorstellen?

Evidence hatte die Idee für das Musikvideo zu "Jerome". Ich vertraue ihm. Wenn er sagt, mach das, dann mache ich das. Er ist ebenfalls Rapper und hat daher ein Verständnis für beide Seiten. Als Musiker möchte man, dass das Visuelle mit der Musik zusammenpasst. Evidence hat das verstanden, weshalb die Kommunikation mit ihm als Regisseur großartig war. Das Musikvideo zu "Virgo" drehte Jason Goldwatch. Er ist zwar kein Rapper, aber arbeitete mit so vielen Rappern zusammen, dass er weiß, wie man mit ihnen kommuniziert.

Im "Virgo"-Video bist du beim Bahnfahren zu sehen. Welche Beziehung hast du zu dieser Art zu reisen?

Natürlich habe ich schon Straßenbahnen und Kurzstreckenzüge genutzt, aber für das "Virgo"-Video bin ich tatsächlich das erste Mal richtig mit dem Zug durch die USA gereist. In Europa habe ich den Zug schon häufiger genutzt, da es bei euch ein besser ausgebautes und benutzerfreundlicheres Netz gibt. Bei uns steigen die Menschen lieber ins Auto.

Hast du jemals die Deutsche Bahn nutzen müssen?

Ja, vor vielen Jahren als wir in Deutschland auf Tour waren. Es war in Ordnung.

Lass uns über das Leben als Indie-Künstler reden. Was ist der große Unterschied zwischen damals und heute?

Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, um diese Frage zu beantworten. Als wir starteten, hatten wir Schwierigkeiten, überhaupt Musik zu machen. Wir konnte es uns kaum leisten, Studiozeit zu bezahlen, Alben zu pressen und die Musik zu vertreiben. Heute ist es für mich viel einfacher, da wir uns bereits einen Namen gemacht haben. Ich kann also nicht für junge Künstler von heute sprechen, die all das noch vor sich haben. Mir fällt es dadurch auch schwer, einen Vergleich mit jungen Künstlern von früher zu ziehen. Wir hatten damals zwar keine sozialen Medien, aber unabhängig davon habe ich nicht das Gefühl, dass es für neue Künstler viel leichter geworden ist. Um aus der Masse herauszustechen, müssen Künstler herausfinden, wie sie eine Verbindung zu ihren Hörern herstellen. Das ist alles. Es gibt kein Geheimnis durch das man erfolgreich wird. Es gibt Labels, die stecken Unmengen an Geld in Künstler, die dann trotzdem nicht erfolgreich sind. Am Ende des Tages geht es eben nur darum, eine Verbindung mit den Hörern herzustellen.

Eure Musik ist von vielen Stilen beeinflusst. Nenne zum Abschluss doch deine fünf liebsten Nicht-Hip-Hop-Platten!

Um dir eine ehrliche Antwort geben zu können, müsste ich lange nachdenken. Meine ersten spontanen Gedanken sind aber: "Purple Rain" von Prince, "Dirty Mind" von Prince, "Controversy" von Prince, "1999" von Prince und "Sign o' the Times" von Prince.

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