laut.de-Kritik

Shut up, already! Kreativer Höhepunkt vom Purple One.

Review von

Ein Blick in die Prince-Diskographie zeichnet das Bild eines übermenschlichen Workaholics. An die 900 Songs soll der sexy Motherfucker mittlerweile geschrieben und veröffentlicht haben, sowohl für sich selbst als auch für andere Künstler. Was darüber hinaus noch in den Schränken der Paisley Park Studios in Minnesota versteckt liegt, mag man sich kaum vorstellen. Fingerzeige auf Höhen und Tiefen bei einem solch umfangreichen Gesamtwerk sind nur schwer zu bewerkstelligen, trotzdem sticht aus der umtriebigen Zeit Mitte der Achtziger ein Album monolithartig heraus, egal ob bei Umfang, Komposition oder Produktion.

"Sign 'O' The Times" sollte ursprünglich nie erscheinen. Mehr noch, es sollte nie produziert werden. Es war ein Unfall, eine ungeplante Abweichung von Weg, den Prince seit seinem Mainstream-Durchbruch "Purple Rain" anvisierte.

Dieser Pfad bestand ursprünglich aus drei Projekten. "Dream Factory" sollte der Höhepunkt der Zusammenarbeit mit seiner Band The Revolution und vor allem mit Wendy und Lisa, seinen Songwritingpartnerinnen seit "Purple Rain" sein. Parallel bastelte er an einem ganzen Album unter dem Pseudonym "Camille", das beschleunigte und hochgepitchte Vocals verwendete und zeigen sollte, ob die Musik auch ohne die Marke Prince besteht. Doch weder "Dream Factory" oder "Camille" werden je veröffentlicht, stattdessen feuert Prince Wendy, Lisa und den Rest der Revolution und kombiniert die Songs zu einem drei LP-starken Mammutwerk namens "Crystal Ball".

Stolz marschierte er damit zu Warner-Boss Mo Ostin, der nach schwachen Verkäufen der Vorgänger partout kein Dreifachalbum auf den Markt loslassen wollte. Zerknirscht gab the Purple One nach und kompilierte aus Tracks von "Dream Factory", "Camille" und "Crystall Ball" das Doppelalbum "Sign 'O' The Times", die sprichwörtlich Zeichen der Zeit, die alles andere als einfach waren.

Nach so viel Hin und Her sollte das Album eigentlich wie eine auf den Kopf gestellte Plattensammlung klingen. Unterschiedliche Sounds, unterschiedliche Vocals, von schmusigen R'n'B über staubtrockenen Funk-Stampf bis hin zu Powerpop und Uptempo-Rock. Prince rumpelte über alle gängigen Albumstrukturen und roten Fäden mit vollem Karacho drüber. Erwartungen anderer interessierten den 1,58 Meter großen Multiinstrumentalisten nie.

Wahrscheinlich deshalb erschuf er, wenn auch der ursprüngliche Plan etwas anderes vorgesehen hat, mit perfektionistischer Brillanz ein interessantes und höchst forderndes Stück Musik, das in Sachen Abwechslungsreichtum ganze Karrieren anderer Künstler in die Tasche steckt. Er mag zwar klein sein, aber die künstlerische Latte legte er mit "Sign 'O' the Times" auf Wolkenkratzerhöhe. Schlussendlich lieferte jeder Song, der den Weg auf dieses Doppelalbum fand, seinen Beitrag zu einem außergewöhnlichen Hörerlebnis, das Prince in dieser Form nicht mehr toppen konnte.

Lyrisch beginnt das Album mit einem Aufschrei. "In France a skinny man died from a big disease with a little name". Gesellschaftskritische Texte von dem Herren, der auch Jahre später noch "23 positions in a one-night-stand" forderte und wie kein zweiter für den passenden Soundtrack zu rhythmischen Bettsport steht? Aber ja doch.

Wenn auch bisher sehr dünn gesät, so ist die ernste Seite an Prince keineswegs zu vernachlässigen. Anprangerungen von Armut und Reichtum, Drogen und Nuklearkrieg federn über einem kühlen Keyboardgroove, den ein Snarebackbeat windelweich prügelt. Etwas distanziert steht der Prinz hier auf der Predigerkanzel, lehrt uns vom Bösen auf der Welt, während gegen Ende Marschtrommeln anschwellen.

Sollte gar noch die Gefahr von Massenbewegungen in den ersten, knapp fünf Minuten angesprochen werden, so funkt er sich mit der Gitarre wieder auf Zehenspitzen aus der Kirche und rauf auf die sonnendurchflutete Blumenwiese: "Play In The Sunshine" erweckte im Geiste die Kraft einer James Brown-Performance, der seine Band auch mit dem kleinen Finger durch die waghalsigsten Breaks steuerte. Angetrieben von einer fließenden Bassline nimmt sich auch diesmal Prince Zeit für ein schmetterndes Gitarrensolo, das die violette Gitarre wieder ordentlich bluten lässt.

Ohne seine Backingband spielte Prince, bis auf vereinzelte Guest-Spots, alle Instrumente selber ein. Und er nahm immer und überall auf. Auf Tour, im Schlafzimmer, in Studios überall zwischen London und Los Angeles. Dabei war immer nur die Technikerin Susan Rogers, die meist nicht mehr machte, als das Mischpult einzuschalten. "Arranged, Composed & Performed by Prince" prangt es auch in großen Buchstaben am Backcover, womit er ein für allemal klar stellt, dass er hier den Ton angibt.

"Housequake" zelebriert knochentrockenen Funk, der ohne wirklichen Refrain als Frage-und-Antwort-Spiel mit Zeilen wie "The kick drum is the fault" oder "Let's do the twist, a little bit harder than they did in '66" für viel Schweiß an die Clubwände sorgte. Zwischen der ganzen Party-Attitüde baut sich ein ganzes Labyrinth an wahrlich kurzen Synthie-Flächen auf, die ehe man sie bewusst wahrgenommen hat, wieder verschwinden. Saxophonsoli werden eingezählt und nach wenigen Takten von Prince wieder mit den Worten "Shut up, already" zum Schweigen gebracht. Scheinbar versinkt alles in einem tanzwütigen Chaos, Perfektionist Prince erdachte jedoch jede einzelne Note dieses Erdbebenfunks.

Kein Erdbeben, sondern ein Schneesturm sorgte eines Abends bei weiteren Sessions für einen Stromausfall, was dem Mischpult den halben Saft abdrehte. Resultat dieser hardware malfunction ist der etwas dumpfe, allen Höhen beraubte Klang von "The Ballad of Dorothy Parker", den Prince am nächsten Morgen allerdings als überaus passend für den Track empfand. Über die wabernde Keyboardfläche holt er den Geschichtenerzähler heraus, der Jahre zuvor auf "Little Red Corvette" eine ähnliche Begebenheit noch vergleichsweise wortkarg ins Mikro flüsterte.

Wie zuvor verzichtet Prince hier auch auf einen Refrain als Songhöhepunkt. Er lässt den Rhythmus vor sich hin köcheln und singt sich seine Erzählungen von der Seele weg, variiert durch Intonation, Backingvocals und einer Unmenge winziger Melodielinien die Intensität, dass er die Hörer förmlich mitzieht, egal wohin er geht.

Verliert man sich fast im blubbernden R'n'B-Groove, treiben schon die ersten Sekunden von "It" den Teufel der Einlullung wieder aus. Knallharte Synthie-Drums dreschen jedes Gefühl aus der Bahn, wollen so gar nicht die harmonischen Schichten der vielfachen Prince-Chöre über sich ergehen lassen. Doch beim beschwichtigen "Alright" am Ende jeder Textzeile fügt sich die steinkalte Percussion mit den wohligen, mehrstimmigen Vocals für einen kurzen Moment des Einklangs zusammen. Die Melodie will hier erst entblättert werden, leicht lässt sich Prince nicht in seine catchy Karten schauen.

Aber der kreativen Theorie des Chaos folgend kann eigentlich nichts anderes folgen, als die luftige Pianonummer "Starfish And Coffee", dem auch die fette Reverb-Snare nichts vom Ohrwurmpotential nimmt. So einen straighten Popsong erlaubt er sich nicht oft, fährt aber damit genau zur rechten Zeit aus dem Tal der kruden Keyboardsphären wieder raus.

Es sind solche Gegensätze, mit denen Sign 'O' The Times immer zuerst fordert, dann aber belohnt. Alles war möglich beim Prince der Achtziger, dessen kreativer Mut noch lange nicht ausgeschöpft war. Nach der mit Bläser beladenen Kerzenlichtballade "Slow Love", aus der der Soul nur so trieft, geht es mit "Hot Thing" wieder ab auf den düsteren Haarspray-Dancefloor, auf den sich immer wieder Saxophonist Eric Leeds verirrt, einer der wenigen Gäste auf dem Album. Ganz ohne die bis zum letzten Schaltkreis ausgelasteten Synthies nickt sich dann "Forever In My Life" an einem vorbei. Percussion und drei Gesangsspuren, aus, fertig. Es genügt ihm eben auch ein einfacher "La la la dadadadada"-Singsang, um sich in den Ohren festzusetzen.

Den Weg zur Gitarre fand dafür die weitere Single "U Got The Look". Protege Sheila E. darf ein paar Percussion-Overdubs beisteuern, Sheena Easton trällert den Chorus, ansonsten gelang Prince wieder ein Lehrstück in Popo bewegenden Pop. Neben der hypnotischen Hook, die auch seiner alten Funk-Kapelle The Time bestens auf die schulterbepolsterten Sakkos gepasst hätte, hat der Song besonders ab der Zwei-Minuten-Marke einige Verrücktheiten zu bieten.

Mit Simplizität tat sich Prince seit jeher schwer, gab er einige seiner größten Popjuwelen doch an andere Künstler weiter. Seine großen Radiohits waren auf anderen Alben vertreten, und wie so oft in der Geschichte wurde solch künstlerischer Output selten mit dem Lorbeerkranz der guten Verkaufszahlen geadelt. Doch das kümmert Prince, der in letzter Zeit seine Alben in Kollaboration mit Zeitungen verschenkt, herzlich wenig.

Mit "If I Was Your Girlfriend" tanzt er weiter auf dem schmalen Grat zwischen Kuriosität und Perfektionspop. Die Vocals sind als ein Bestandteil des Camille-Projekts in höchste Höhen verfremdet, teilweise so stark, dass das Signal im roten Bereich verschwimmt. Im Text reflektierte er seine Beobachtung (und seine Eifersucht) über die enge Bindung zwischen seiner Freundin und deren Zwillingsschwester. Liefert er am Anfang noch eine soulschwangere Gesangsperformance über den geslappten Funkbass, so steigert er sich immer weiter in die manischen Anflehungen einer Person hinein, die mit sich und der eigenen sexuellen Orientierung nicht ganz im reinen sein kann.

Geradezu gewöhnlich mit Four on the floor-Bassdrum stampft im Vergleich "Strange Relationship" am mittlerweile gefangenen Ohr vorbei. Wieder mit Camille-Vocals transportiert vor allem die Hook "Baby I just can't stand to see you happy, more than this, I hate to see you sad", dass auf Beziehungsebene der Exfreund von Kim Basinger, Madonna, Carmen Electra und vielen mehr nicht unbedingt der einfachste Typ ist.

Doch auch nachdenkliche Momente sollen erlaubt sein, wenn dann wieder die Gitarre umgeschnallt wird. "I Could Never Take The Place Of Your Man" rockt forsch und geradeaus an einer längeren Verpflichtung zu einer Beziehung vorbei. Kopf an Kopf mit "Play In The Sunshine" geht es im lebensfrohen Uptempo in ein feuriges Gitarrensolo, das, nachdem dem Pop lange genug gehuldigt wurde, eine bluesige Abzweigung nimmt und minutelang Licks mit sich selbst austauscht.

Prince scheint scheinbar doch Gefallen am Rock gefunden zu haben, zumindest besteht "The Cross" zum größten Teil auch nur aus lauten Stromgitarren. Der Intensitätsschub beim Einsetzten des Grooves reißt förmlich die Fäuste nach oben. Gut so, denn die Füße bekommen bei Prince generell viel Gelegenheit, die Qualität der hauseigenen Schuster zu überprüfen. Thematisch wird Prince wieder zum Fürsprecher der Ungerechtigkeit, verweist auf die Stärke des Glaubens: "Don't cry, he is coming". Seit er Jehovas Zeuge wurde, nennt er den Song zwar "The Christ", die Mischung zwischen wuchtigem Schlagzeug und drückenden Akkorden funktioniert immer noch genauso.

Was bei Prince-Konzerten auch immer gut klappt, sind endlose Funk-Orgien, wie z.B. "It's Gonna Be A Beautiful Night", dessen Grundgerüst von einem Liveauftritt in Paris stammt. Im Studio fügte Prince noch einige Overdubs dazu, beispielsweise einen Sheila E.-Rap. Nichtsdestotrotz steht hier aber ein neunminütiger Funkjam zu Buche, der vor Ohren führt, wie Prince seine Backingband damals (wie heute) im Griff hat. Der Film zum Album fing ein solches Konzert-Erlebnis der Sign 'O' The Times-Tour in den Niederlanden ein und zeigt das quietschbunte und wahrlich abgedreht Schauspiel, das Prince mit diesem Album auf die Bühne brachte.

Als abschließender Verschnaufer stellt noch das träumerische "Adore" den Balladenzähler auf Zwei. Hier zieht Prince wirklich alle Register seines stimmlichen Könnens, vom säuselnden Falsett bis zu knurrenden Tieftönen kann der Typ mit seiner Stimme so ziemlich alles anstellen, was sich andere bloß in ihren kühnsten Träumen vorstellen. Ein Umstand, der ob der Verrücktheit der Albumkomposition fast etwas untergeht.

Nach den 80 Minuten steht der geneigte Hörer erst einmal vor der Aufgabe, das eben Erlebte zu verarbeiten. Sign 'O' The Times dehnte das musikalische Spektrum von Prince in alle Himmelsrichtungen aus. Pop, Funk, Rock, R'n'B, Blues, Jazz, Dance – mit diesem Album erkannte er, dass er wirklich alles in den eineinhalb Meter großen Mixer namens Prince Roger Nelson hauen konnte, und gute Dinge würden folgen. Was eigentlich als Zugeständnis zu den Wünschen seines Musiklabels entstand, wurde des Künstlers größter Kreativstreich. Wenige Jahre später schrieb er sich Slave auf die Wange und entsagte seinem Namen. Seiner Musik war er jedoch immer treu.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

CD 1

  1. 1. Sign 'O' The Times
  2. 2. Play In The Sunshine
  3. 3. Housequake
  4. 4. The Ballad Of Dorothy Parker
  5. 5. It
  6. 6. Starfish And Coffee
  7. 7. Slow Love
  8. 8. Hot Thing
  9. 9. Forever In My Life

CD 2

  1. 1. U Got The Look
  2. 2. If I Was Your Girlfriend
  3. 3. Strange Relationship
  4. 4. I Could Never Take The Place Of Your Man
  5. 5. The Cross
  6. 6. It's Gonna Be A Beautiful Night
  7. 7. Adore

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9 Kommentare

  • Vor 13 Jahren

    Was für eine grossartige Revue. Sehr detailliert mit sehr viel Liebe gemacht. Beim lesen hört man im Kopf die dazu passenden Tracks. Es ist regelrecht spannend wie der Autor die Geschichte zu den Songs vermittelt. Hut ab vor dieser sehr guten und professionnellen Arbeit. Das hat dieses Album absolut verdient. Danke. Meilensteiniger geht es nicht.

  • Vor 13 Jahren

    konnte ich noch nie leiden... allerdings kenn ich nur wenige singles von ihm... wenn man die singles scheisse findet, lohnt es sich trozdem reinzuhören?

  • Vor 13 Jahren

    @PKingEnte (« konnte ich noch nie leiden... allerdings kenn ich nur wenige singles von ihm... wenn man die singles scheisse findet, lohnt es sich trozdem reinzuhören? »):

    Auf jeden Fall uneingeschränktes Ja! Hab mich bei Prince auch lange Zeit von der überheblichen Selbstinszenierung und den vermeintlich flachen Singles abschrecken lassen, aber der Mann ist musikalisch so wandelbar wie in seinen Videos und für die 80er absolut unverzichtbar. Als Songwriter und Multiinstrumentalist über jeden Zweifel erhaben, wovon dieses Doppelalbum eindrucksvoll zeugt.
    Ebenfalls Hut ab vor Hrn. Gasteiger, für einen Musikreferenten ist dieses Werk gleichermaßen leidenschaftlich gepflegtes Steckenpferd und in seinem Ausdruck ein Monolith an Referenz für einen Autoren. Ich bin positiv beeindruckt.