laut.de-Kritik

Das vollkommene Leben, dekadent bis über beide Ohren.

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Mit den Anschlägen in Paris erreichte der IS-Terror am 13. November 2015 endgültig Europa. An fünf verschiedenen Orten starben 130 Menschen, 352 wurden verletzt. Gerade als im Bataclan-Theater die Eagles Of Death Metal das Duran Duran-Cover "Save A Prayer" beendeten und die ersten Takte von "Kiss The Devil" erklangen, begannen die Angreifer, mit Sturmgewehren in die Menge zu schießen. 89 Menschen kamen ums Leben.

Vollkommen anders, als sie es sich gewünscht hatten, gehen die Eagles Of Death Metal in die Geschichtsbücher ein, und mit ihnen über Umwege auch "Rio" von Duran Duran. Eine Initiative, die sich für Solidarität und Unterstützung für die Opfer von Paris einsetzt, versuchte, "Save A Prayer" auf die Nummer eins der britischen Charts zu hieven. Ihr Ziel verfehlten sie, verhalfen der Band um Jesse Hughes und seinen Kumpel Josh Homme jedoch zu ihrer höchsten Chartsplatzierung: Rang 48 in Deutschland, 53 im Vereinten Königreich. Dabei geht es in dem Stück nicht etwa um Gebete, sondern um einen One-Night-Stand.

Im Mai 1982 sah die Welt noch komplett anders, und zwar möglichst pastell- oder neonfarben aus. Das Partyjahrzehnt voll Überschuss, Konsum und Yuppietum war gerade erst angebrochen und kannte scheinbar keine Grenzen. MTV, DeLorean DMC-12, Atari 2600, BMX, Stirnbänder und Vokuhilas ... Mittendrin lieferten Duran Duran den versnobten Soundtrack, der Teenieherzen höher schlagen ließ.

Als New Romantics gestartet, rutschten die drei nicht miteinander verwandten Taylors, der androgyne Nick Rhodes und der Pop-Dandy Bon, Simon Le Bon, eher zufällig in die Rolle der Posterboys. Dort angekommen, beschwerten sich die bis auf Ausnahme vom Le Bon aus der Working Class stammenden Fab Five aber nicht länger über die neue Position.

Unter der durchgestylten Oberfläche und hinter den Skandal-Videos, den Drogen, den sexuellen Eskapaden und den teuren Jachten hatten sie jedoch einiges auf dem musikalischen Kasten. Duran Duran waren die logische Weiterentwicklung von Japan und David Bowies "Scary Monsters (And Super Creeps)" mit einem dynamischen Rock-Vibe.

Dabei entgingen die fünf Briten im Juli 1983 selbst nur knapp einem Anschlag. Die erklärten Lieblinge von Prinzessin Diana spielten ihr zu Ehren im Londoner Dominion Theatre. Die IRA versteckte in der Nähe der Royal Box eine Bombe, die im Umkreis von 18 Metern jeden Menschen, das königliche Ehepaar und Duran Duran eingeschlossen, getötet hätte. In letzter Minute verhinderte ein Undercover-Ermittler das Attentat. Schlagzeuger Roger Taylor spricht diesbezüglich noch heute vom schlimmsten Moment seines Lebens.

"Rio" führt das 1981 unter eigenem Namen erschienene Debüt konsequent weiter. Rhodes' fremdartige Keyboardflächen, Roger Taylors von südamerikanischem Flair angestecktes Schlagzeugspiel, Andy Taylors ebenso polierte wie scharfkantige Gitarren und Le Bons nachdrücklicher, immer leicht neben dem Ton liegender Gesang rückten noch näher zusammen. "Jeder von uns spielt auf dem Höhepunkt seines Talents", schrieb John Taylor über "Rio" in seinen Memoiren "In The Pleasure Groove". "Es gibt keine Prahlerei. Jeder Part ist durchdacht, wohlüberlegt und Teil des großen Ganzen."

Trotzdem ist "Rio" ein Album für Bassisten. Vergesst den oft viel zu unterkühlt musizierenden Mark King. Hier spielt der wohl beste, gutaussehendste und coolste Pop-Bassist der Achtziger groß auf. Seine schnurrenden Bassläufe stehen ungewöhnlich deutlich im Mittelpunkt des Mixes.

In Amerika fiel die Platte mit dem von Patrick Nagel gezeichneten und von Malcolm Garrett designten Cover zuerst gnadenlos durch. Die erste Pressung war klangtechnisch eine Katastrophe. Zudem konnte man mit dem Image der New Romantics nicht viel anfangen. Über den Umweg der Remixe auf der "Carnival"-EP verwandelten sich Duran Duran in eine Dance-Band. David Kershenbaum knetete für die US-Zweitveröffentlichung die ersten fünf Stücke noch einmal ordentlich durch, und schon fand sich "Rio" auf Platz sechs der Billboard-Charts wieder.

Wie in Leuchtbuchstaben steht Simon Le Bons Zeile "Cherry Ice Cream Smile" aus dem Titeltrack über dem Longplayer. Um Nicks an einem Roland Jupiter-4 und einem Arpeggiator entstandene Klangspielerei, Johns funkende Bassline und Andys maunzende Gitarre entwickelt sich ein energischer Pop-Kracher. Ein kurzes Vogelzwitschern und ein Lacher von Rhodes' damaliger Freundin vermitteln endgültig das exotische Gefühl eines paradiesischen Ortes, dem die Wirklichkeit nie gewachsen sein wird.

Während sich die Konkurrenten von Spandau Ballett mit Steve Norman die Sinnlosigkeit eines eigenen Saxophonisten leisteten, spielte das für die Achtziger so typische Tenor-Sax-Solo hier Andy Hamilton (David Bowie, Pet Shop Boys, Radiohead) ein.

Mit "Hungry Like A Wolf" gelang Duran Duran der Durchbruch in Amerika. Eine von Rotkäppchen inspirierte Pop-Romanze, deren "Do Do Do Do Do Do Do Do Do"-Verse und Refrain auf dem gleichen betörenden Ohrwurm-Level wirken. Das in Dschungel von Sri Lanka gedrehte Video basiert lose auf "Apocalypse Now" und "Jäger des verlorenen Schatzes". Mit Outfit und Styling stand John Taylor Pate für Sonny Crockett in "Miami Vice".

Die Vorabsingle "My Own Way" spielten die fünf für "Rio" noch einmal komplett neu ein. Deutlich langsamer, schlanker und von den überzuckerten Disco-Streichern befreit, passt sie sich ihrem Umfeld makellos an. Das düstere "New Religion", "a dialogue between the ego and the alter-ego", lässt schon einmal einen vagen Ausblick auf das vier Jahre später erscheinende, von Nile Rodgers produzierte Funk-Rock-Album "Notorious" zu.

"Hold Back The Rain" findet die perfekte Synthese aus Post-Punk, New Wave und Stadion-Pop. Der Track richtet sich direkt an John Taylor, der zu diesem Zeitpunkt laut Le Bon "zu viel Drogen nahm, zu viel Alkohol trank und sich mit den falschen Menschen umgab". Er schrieb den Text auf einen Zettel und schob ihn John unter der Tür durch zu.

Doch das Beste an "Rio" bleibt das elysische Finale, das die vorherigen Stücke noch einmal deutlich überstrahlt. So wie A-ha auf "Scoundrel Days" den perfekten Einstieg in ein Pop-Album der 1980er erschufen, lieferten Duran Duran hier den perfekten Ausklang.

Die von den Eagles Of Death Metal wieder ins Rampenlicht gerückten Ballade "Save A Prayer" verfügt über üppige subtropische Romantik. Dem entgegen steht Le Bons schmerzhaft realistischer Text, der gar keinen Platz für schnöde Schwärmerei lässt. Rhodes drückt dem Lied mit seinen meditativen Synthesizern ein weiteres Mal seinen Stempel auf, während Andy Taylors opulentes Gitarrenriff die Krönung bildet. "And you wanted to dance so I asked you to dance / But fear is in your soul / Some people call it a one night stand / But we can call it paradise."

"The Chauffeur" ist nicht nur der beste Song auf dem Album, nicht nur der beste Song von Duran Duran, sondern schlichtweg einer der besten Songs des Jahrzehnts, der dieses Album erst zum Meilenstein macht. Ganz in der Hand von Nick Rhodes und Simon Le Bon, gelingt ein atmosphärisches Meisterwerk. Eine wunderliche Fahrt durch verregnete Straßen, den kühlen Duft der Nacht in der Nase. Ein paranoides Kriechen, gepaart mit der kindlichen Unschuld einer Okarina.

1979 verließ der Sänger und Songwriter Stephen Duffy (Robbie Williams, Barenaked Ladies) Duran Duran nach ihrem ersten Vertrag. Manch einer fabuliert noch heute, dass die Band mit Duffy zu weitaus Größerem fähig gewesen wäre. Aber ändere ein winziges Detail, und jede Geschichte findet ein komplett anderes Ende. Nach einem Umweg über drei weitere Sänger stellte sich Simon Le Bon mit einem von ihm verfassten Gedicht, das später den Grundstein für "The Chauffeur" legte, vor. Man weiß sofort, warum er den Job bekam. "Sing Blue Silver."

2005 coverten die Deftones "The Chauffeur" ("B-Sides & Rarities"). Die Deftones, die am 14. November 2015 im Bataclan-Theater spielen sollten, und von denen sich ein Teil der Band noch den Beginn des Eagles Of Death Metal-Konzerts anschaute. Kurz bevor die Terroristen das Feuer eröffneten, verließen die Musiker den Saal.

Mit "Rio" gelang Duran Duran 1982 die große Sause. Das vollkommene Leben, dekadent bis über beide Ohren. Mitreißend und lebensbejahend. Sodom und Gomorrha. Der Gegenentwurf zu allem, wofür der IS steht. Oder wie es Bob Geldof einst feststellte: "It's a fucking killer second album."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Rio
  2. 2. My Own Way
  3. 3. Lonely In Your Nightmare
  4. 4. Hungry Like The Wolf
  5. 5. Hold Back The Rain
  6. 6. New Religion
  7. 7. Last Chance On The Stairway
  8. 8. Save A Prayer
  9. 9. The Chauffeur

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12 Kommentare mit 46 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    Jo Sven, nachdem du hier jetzt ja so ziemlich jede persönliche emotionale Erfahrung wie erster Kuss, erste Fummelerfahrung etc. deines Jugendalters mit der damals wohl eher aus Mangel zeitgemäßer Alternativen laufenden Hintergrundbeschallung verarbeitet haben müsstest, indem du an dieser Stelle die entsprechenden Luftnummern zu Meilensteinen aufblasen durftest...

    Könnten wir in den nächsten Wochen bitte wieder mehr Meilensteine bekommen, die dieser Bezeichnung u.a. auch durch einen breiteren Konsens durch die Leserschaft entsprechen, statt nur durch das Kriterium "lief während Kabelitz' goldener Jugend auf Heavy Rotation?"

    Danke.

    • Vor 9 Jahren

      Oh da ist aber einer angepisselt. ;) @Soul hat aber recht Sven, das geht schon in die Richtung die er beschrieb. Das Problem dabei, wir alle waren mal Jung und trotzdem steht er noch wie eine Eins. Heute denken wir selbst mit der "Eins" doch etwas differenzierter als damals.
      Ach übrigens etwas Selbstkritik hat noch keinem geschadet, sicher nicht wenn man weiß das die Grundlagen eigentlich da sind. ;)

      P.S. : Ein einfaches "Grumpf" würde mir als Antwort genügen Sven. :D

    • Vor 9 Jahren

      Ach, ich bin nicht angepisselt. Nur heute früh etwas kurz angebunden. Und wenn ihr weiter meckert, gibt es das nächste mal Phil Collins.

      Zu einem Meilenstein braucht es für mich immer auch Herzblut und eben die von Soulburn kritisierte eine persönliche Verbindung. Zudem hängt noch viel mit dem richtigen Zeitpunkt des Schreibens zusammen. Sonst kommt da am Ende nichts vernünftiges bei rum.

      Dieser Text wollte nach den Paris-Anschlägen vor zwei Wochen einfach raus und hat sich zur Hälfte quasi von selbst geschrieben. Tatsächlich halte ich das Album aber auch für eine wirklich gelungene Pop-Platte und mit der Meinung stehe ich, wie ihr weiter unten seht, nicht vollkommen alleine da. Aber ihr könnt das natürlich gerne komplett anders sehen. :)

      Es gibt durchaus Alben, die ich hier unbedingt sehen möchte, ich mich aber nicht für den richtigen Autor halte, da mir der Bezug fehlt. Auf der anderen Seite wurden Themen, zu denen ich gerne etwas geschrieben hätte, eben auch schon von anderen Autoren behandelt.

      Ein liebliches "Grumpf"

      Sven

    • Vor 9 Jahren

      Ein freundliches "Grumpf" zurück und danke für die Offenheit.

    • Vor 9 Jahren

      Gerne. Übrigens bin ich durchaus zu Selbstkritik fähig und verspreche hiermit hoch und heilig, nie wieder über meinen ersten Kuss und Fummelerfahrungen zu schreiben. :)

    • Vor 9 Jahren

      Also die beiden Sachen da oben war rückblickend eine traumatische Erfahrung bei mir und ich berichte da echt ungern drüber. Nun Susanne hies sie und ich lernte sie beim Schlittenfahren kennen. Ja damals gab es noch Schnee, echten Schnee und ich war 12 als ich mit meinem Schlitten Susanne über den Haufen fuhr. Mit Musik hatte ich noch nichts bis wenig (genötigt worden von Mutter die Hitparade zu schauen, zum Glück im 2 Wöchigen Wechsel dann mit Disco) am Hut.
      Nun ich brachte dann Susanne (sie war übrigens 14) nach Hause, wie sich das gehört. Damals war ich noch anständig. Bedankt hat sie sich.... nun ratet mal.

  • Vor 9 Jahren

    Geht meiner Meinung nach klar als Meilenstein. Review nicht gelesen.

  • Vor 9 Jahren

    Review geht meiner Meinung nach klar. Album nicht gehört.