laut.de-Kritik
Ein Kantopop-Superstar und die Cocteau Twins.
Review von Yannik GölzChinesischer Pop ist ein fantastisches Wurmloch, in dem man mal ein Wochenende oder eine Lebenszeit verbringen kann, wenn man gerade sonst nicht so viel zu tun hat. Es gibt drei Untergenres (Mandopop für Mainland China, Kantopop für Hongkong und Hokkien Pop für Taiwan), zwölf legendäre Divas, vier imperiale Könige und viel mehr absurd dramatische Spitznamen zu entdecken.
In unserem inadäquaten, kleinen Laut-Meilenstein-Rundown zu dieser immensen Musikwelt widmen wir uns heute einer in Beijing geborenen Kantopop-Ikone, deren großes Vorbild Teresa Teng aus Taiwan stammt. Ihr Name ist Faye Wong, ihre Stimme klingt wie die verkörperte Schwerelosigkeit, und 1995 hat sie eines der besten Alben aller Zeiten gemacht, als sie am Höhepunkt ihrer Berühmtheit beschlossen hat, für ein ganzes Album die schottischen Post-Punker der Cocteau Twins Modell stehen zu lassen. Es war damals eine Anomalie, es ist heute eine Anomalie und klingt trotzdem wie eines der zugänglichsten und einladendsten Musikprojekte, die man irgendwo auftun könnte.
Jetzt gibt es natürlich zwei Wege, sich diesem Album zu nähern. Der Kontext, in dem es gemacht wurde und der Kontext, in dem wir es heute rezipieren können. Ich versuche heute beides, fange aber bei uns an. Hört man dieses Album, würde man es für ein verlorenes Stück des supercoolen, schottischen Dream Pop-Kanons halten. Es hat objektiv mehr mit Bands wie A Sunny Day In Glasgow zu tun als mit Genre-Kolleginnen wie Anita Mui (Queen) oder gar anderen asiatischen Pop-Genres.
Faye Wong spielt ihre Musik low-key und gibt auch den das Genre sonst dominierenden Balladen wenig Raum. Was herauskommt fühlt sich an, als würde man rückwärts den toten Mann machend auf einem Amazonas-breiten Jogurtfluss senkrecht durch den Kosmos treiben. Wenn ihr generellen Life Advice von mir hören wollt: Schnappt euch eure besten Freunde, nehmt daheim Drogen, sammelt am nächsten morgen alle ausgeschlafen auf, holt sie auf die selbe Couch, macht die Rolladen genau ein Viertel auf, dass ein paar Strahlen Vormittag im Raum landen, macht dieses Album an, esst kalte Pizza vom Vortag und guckt an die Decke. Ihr werdet denken: "Verdammt, Review-Typ aus dem Internet, du hattest recht, so lebe ich ja mal richtig hart mein Leben!". Gern geschehen! [laut.de ruft NICHT zum Konsum von Rauschmitteln auf, Anm. d. Red.]
Ich kann nicht genug darüber schwadronieren, wie schwerelos und filigran, aber trotzdem tight und präzise die Grooves auf diesem Album sind. Egal, ob es sich dabei um ätherische Gitarren-Picks wie auf "Duoluo" und "Wuchang" handelt oder Synth-Pop, so verloren und treibend, dass man es irgendwo als Missing Link von Brian Eno- oder Hiroshi Yoshimura-Ambient bis zum Vaporwave einordnen könnte. Hört die ersten Sounds auf "Mori" und erzählt mir, dass das nicht Bilder von römischen Statuen als JPG auf einem pink-schwarzen Schachbrett evoziert.
Okay, damit haben wir etabliert: Dieses Album ist cool ist wie Eisbärs Zehennägel und nähert die chinesische Popmusik teilweise in die Zukunft antizipierend an Dream Pop, Ambient und Ethereal Wave an. Glaubt mir, dass das nicht die nächsten Nachbarn waren! Das ist ein bisschen so, als würde ich euch von diesem einen Roland Kaiser-Album erzählen, dass er in den Achtzigern mit Slayer gemacht hat. Und diese Unterschwelligkeit, dieses Verzichten auf Hits und große Balladen zugunsten einer halbe Stunde pure Vibes, die hat Spuren hinterlassen. Diese Frau ist so cool, dass sogar heutzutage Hongkongs coolste Indieband My Little Airport ihr noch Songs widmet. Aufmerksame Hörende fragen jetzt sicher: War so was normal im Hongkong der Neunziger? Die Antwort ist nein. Faye Wong gilt auch in ihrer Heimat ein bisschen als ein artsy Eisklotz, wenn man Leute über ihre Aura sprechen hört.
Eigentlich in Beijing geboren, zog sie trotz fehlender Kantonesisch-Sprachfähigkeiten nach Hongkong und strebte erst eine Karriere als Model, dann als Sängerin an. In der fremden Stadt war sie achtzehn und konnte die Sprache nicht: Sie vereinsamte in einem der großen Hipster-Hotspots Asiens. Und irgendwann fragt sie sich, wann sie eine Person geworden war, die so viel Wert auf die Meinung anderer gab. Ein rebellischer Zug, der ihr erhalten bleibt. Als ihre Popkarriere ins Rollen kommt, macht sie deshalb irgendwann den Zug ins Experimentelle, ein bisschen Teresa Teng, ein bisschen Cocteau Twins. Ihre Managerin behauptet bis heute, dass ihr Erfolg eigentlich keinen Sinn ergebe.
"Fuzao" wird erst ein Flop und ein eher seltsam wahrgenommenes Stück chinesische Popmusik, findet dann aber zunehmend eine Nische für sich. Wie auch nicht? Wongs Einsamkeit in Hongkong, die Coolness der Stadt, die dramatische Kraft ihrer Idole, alles summiert sich zu diesem einmaligen, verträumten Fluss an ätherischer Popmusik. Das Interessante ist: Da ist eine gewisse Düsternis hinter diesen Songs. Keine aufgeregte, dramatische Düsternis, aber ein fast ein bisschen apathische Schwermut, die sich so wunderbar an die emotionale Losgelöstheit des Post-Punks schmiegt, aber doch ein sehr eigenes Ding dabei macht. Übersetzt man die Songtitel, kommen Begriffe wie "Unbehagen", "Dekadenz" oder "Doomsday" dabei heraus.
Das versteckt sich aber gar nicht schlecht in den teils himmelszuckerschönen Melodien. Der mit Abstand schönste Song ist hier übrigens definitiv der Titeltrack "Fuzao", der ein bisschen klingt, als würde man mit einem Zug eine gerade Linie durch ein ewiges Gebirge fahren, es ist Frühling, an den Bergkuppen schmilzt der letzte Schnee und man lehnt die Stirn ans Fenster und suhlt sich in der Erkenntnis, dass die Bewegung der Gegenwart fast so schön wie die Tatsache ist, dass man irgendwann mal irgendwo ankommen wird. Man denkt, die "Ouus" und "ahhs" wären kosmopolitisch verständlich - aber tatsächlich heißt der Titel übersetzt "Rastlosigkeit".
Es ist ein faszinierendes Album, für das ich viel geben würde, es einmal in seinem originalen Kontext verstehen zu können, irgendwie aber auch froh bin, dass es für mein Hören so enigmatisch und vielschichtig bleibt. Heutzutage gilt es als ein untypischer Kult-Klassiker von einer der größten Sängerinnen der chinesischen Popgeschichte. Ein Anti-Superstar, quasi. Und da wir relativ wenig Peil von deren Kanon haben, haben wir hier die luxuriöse Situation, ein heißgeliebtes Album von sonst wo als einen superheißen Geheimtipp verkaufen zu können. Aber ich mein's so! Auch, wenn es links und rechts an viele Sachen anschmiegt ("Victorialand" von den Cocteau Twins oder Yoshiko Sais "Mangekyou"), habe ich davor oder danach nie wieder etwas gefunden, das eine ähnliche Stimmung getragen hätte. Das hier ist ein Album, bei dem es mein Leben ein bisschen besser macht, es zu kennen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit 4 Antworten
Bin über die Dame gestolpert als ich zum ersten Mal Final Fantasy 8 gespielt habe und seitdem rotiert Fuzao auch hin und wieder mal bei mir. Schöner Meilenstein.
Taugt Teil 8 eigentlich? Hab da sehr gespaltene Meinungen gehört.
FF8 taugt absolut. Viele haben sich hauptsächlich am Stil und dem Magiesystem gestört weil das im Vergleich zu Teil 7 ganz anders daher kommt bzw. etwas komplizierter ist. Wenn man den persönlichen Geschmack mal außen vor lässt und sich in das Spiel reinfuchst bekommt man exzellente Unterhaltung geboten.
War mein erstes FF, welches ich länger als ne Stunde gespielt und so halb verstanden habe. Damals absolut krass, da sehr groß und trotzdem so coole moderne Kamera und Grafik.
Aber heute noch? Habe das Remaster noch rumliegen, aber das wird sicher eingeschweißt bleiben. In das 7er Remake hab ich auch noch nicht wirklich reingeschaut und davon steht ja jetzt auch schon der nächste Teil in den Startöchern.
Du kannst es halt nicht mit den modernen Standards vergleichen. Wenn man es aber als Produkt seiner Zeit sieht dann hat man eine gute Zeit.
Das Album ist aber kein Kantopop, da es im Hochchinesischen aufgenommen wurde, die Texte sind nicht kantonesisch.