23. Oktober 2015

"Musik ist eine Sucht, das machst du nicht aus reiner Lust"

Interview geführt von

Jean Michel Jarre gilt als Pionier der elektronischen Musik. Der Franzose gibt sich zwar zufrieden mit seiner aktuellen Platte, würde aber am liebsten sofort wieder im Studio verschwinden.

Fast genau vor unsere Haustür, nach Zürich, lädt Jean Michel Jarre die Journaille, um über sein Mammut-Projekt "Electronica" zu sprechen. Insgesamt 30 Künstler hat er besucht und mit ihnen gemeinsam im Studio an Tracks gebastelt. Seit "Oxygène" floss viel Wasser die Seine runter, doch der immer noch frische Franzose wird nicht müde, weiter nach neuen Sounds zu suchen. Die findet er auch bei jüngeren Kollegen wie Boys Noize, M83 oder den Fuck Buttons, für die der Musiker auch nur lobende Worte übrig hat.

​​​​​Dein neues Album heißt "Time Machine" und ist der erste Part einer zweiteiligen Kollabo-Serie. Wie sieht denn diese Zeitmaschine aus und wohin führt sie?

Dahinter stand auch die einer physischen Reise, bei der ich all die Künstler besuche, mit denen ich zusammenarbeiten wollte und die direkt oder indirekt mit der elektronischen Musikszene verbunden sind. Das war in erster Linie ein räumliches Reisen, aber auch zeitlich. Einige Künstler sind eine Inspirationsquelle für mich. Einige schon seit geraumer Zeit, andere noch nicht so lange. Alle sind aber mit vier Dekaden der elektronischen Musik verbunden. "Time Machine" ist aber nicht nur etwas, mit dem man in der Zeit zurück reist, sondern auch in die Zukunft. Heutzutage hat die elektronische Musik ja eine Art Familie, ein Vermächtnis und eine Zukunft. Ich hatte 30 Künstler angefragt, und alle sagten zu. Deshalb musste ich das Projekt zweiteilen. Der erste Teil erscheint jetzt und der andere im Frühjahr, im April 2016.

Gab es jemanden, den du gar nicht erst gefragt hast, weil du ein "Nein" erwartet hast?

Nein. Man könnte natürlich den ganzen Tag darüber nachdenken, wen man noch hätte fragen können. Aber es gibt für jeden Künstler, den ich gefragt habe, einen gewissen Grund, warum er auf dem Album ist, sei es aufgrund des spezifischen Sounds, aufgrund der Inspiration für mich. Ich gebe dir ein Beispiel: Pete Townshend. Er dürfte jetzt nicht der übliche Verdächtige sein, wenn es um ein Album geht, das "Electronica" heißt. Für mich aber schon, denn Pete war derjenige, der Sequenzer und Synthesizer in die britische Rockmusik einbrachte mit Tracks wie "Baba O'Riley" oder Alben wie "Who's Next". Er wollte die Grenzen des gewöhnlichen Rock-Konzeptes verschieben, bei dem man einen Song nach dem anderen schreibt, mittels der Rock-Opern "Tommy" und "Quadrophenia". Er bezog auch Visuals in seine Konzepte mit ein. Aus vielerlei Gründen fühlte ich eine legitime Verbindung zu diesen Musikern und der Art und Weise, wie sie Klänge erzeugen. Wir haben alle, die wir an dem Album gearbeitet haben, diese organische Herangehensweise an den Klang und eine gewisse Unverwechselbarkeit. Wenn du dir 30 Sekunden von Moby, Massive Attack oder Air anhörst, weißt du sofort, dass das sie sind und niemand anderes.

Ja, man hört deine Trademarks und auch, wer da gerade mit dir arbeitet. Moby liefert hierfür ein gutes Beispiel, mit seinen Piano-Läufen und der melancholischen Grundstimmung.

Ja, stimmt. Interessant, dass du das sagst, und gut, dass du das erwähnst, weil ich auch genau das bezwecken wollte. Der Track mit Moby symbolisiert unsere Konversation. Ich habe extra etwas komponiert, das einzig und allein für ihn bestimmt war, mit diesem hypnotischen Arpeggio auf dem elektronischen Klavier, das diese Melancholie transportiert. Man nennt ihn ja den Woody Allen des Techno, mit dieser etwas depressiven Atmosphäre. Aber nicht nur wegen seiner Stimme, sondern auch aufgrund seiner Arrangements. Ich habe ihm genug Raum gelassen, um sich auszudrücken. Das Resultat ist dieser Track, der zum einen eine nostalgische Verbindung hat, er beschäftigt sich ja ständig in seinen Werken damit, und gleichzeitig mit Science Fiction. "Suns Have Gone" ... zwei Sonnen in unserem Sonnensystem, das ist pure Science Fiction. Er, M83 und viele andere Künstler teilen mit mir die Vorstellung, dass die Melodie das wichtigste Element der Musik ist, nicht nur der Beat. Moby hat seine ganz eigene Art, melodische Parts zu schreiben, bei der immer diese Melancholie mitschwingt. Das habe ich mit ihm gemein, in meinem eigenen Werk.

Vom zweiten Teil des Albums sind bislang Gary Numan und Hans Zimmer als Kollaborationspartner bekannt. Kannst du noch mehr Namen nennen?

Diese beiden, David Lynch, Jeff Mills, Julia Holter und Yello. Eine Menge Künstler, die mir und die auch für die elektronische Musik sehr wichtig sind. Welcher Generation sie auch angehören. Fuck Buttons, M83 oder Gesaffelstein, Julia Holter sind junge Talente, die bereits eine wichtige Rolle spielen. Sie machen einen zeitlosen Sound, der wird auch noch in 30 Jahren Bestand haben.

Wenn wir schon beim Titel "Time Machine" sind: Gibt es für dich ein Album in der Geschichte der elektronischen Musik, bei dessen Entstehung du gerne Zeuge gewesen wärst?

Viele. Ich wäre zum Beispiel gerne dabei gewesen, als Pete Townshend zum ersten Mal mit Synthesizern experimentiert und das in die Wall Of Sound von The Who integriert hat. Das Privileg für mich war ja auch jetzt, dass ich gesehen habe, wie die Künstler arbeiten. Über die Zeit betrachtet, bleibt die Art und Weise, wie wir arbeiten, ja eigentlich die gleiche. Die Technologie mag sich ändern, aber die Herangehensweise, unsere Gewohnheiten, Geheimnisse oder wie wir uns dem Klang nähern, bleibt mehr oder weniger gleich. Was das neue Album für mich und hoffentlich auch für die Hörer interessant macht, ist nicht so sehr die Tatsache, dass die Musiker ihre Studiotür aufgemacht haben und ihre Geheimnisse und sogar Schwächen offenbart haben, sondern dass das auch in einen kreativen Prozess mündete. Das macht für mich das Ganze zu einer sehr authentischen Erfahrung in einer Zeit, in der Features auf Alben recht gewöhnlich sind, wo einfach Files auf die andere Seite der Welt geschickt werden, wo sich die Leute aber nie unterhalten, geschweige denn, sich treffen. Meist geschieht das ja aus Marketing-Gründen oder für den kommerziellen Erfolg. Für mich stand eher die Wiedererkennbarkeit des Sounds im Vordergrund.

"Ohne Musik, Filme, Bilder ist ein Smartphone auch nur ein scheiß Telefon"

Wenn du schon den kommerziellen Aspekt der Musik erwähnst: Du hast 1983 das Album "Music For Supermarkets" gemacht. Du hast es produziert und davon nur eine einzige Kopie pressen lassen, hast dieses Exemplar versteigert und die Mastertapes im Anschluss zerstört, um gegen die Kommerzialisierung der Musik zu protestieren. Im Vergleich zu heute muss dir die Situation damals doch paradiesisch erscheinen.

Ja, klar. Das Statement, das ich damals mit "Music For Supermarkets" abgegeben habe, war eine Warnung. Ich habe mich dagegen gewehrt, dass die Musikindustrie Musik wie ein Produkt verkauft. Zumindest wurde man damals so bezahlt, wie der Preis für ein Joghurt und eine Zahnpasta. Ich stimme dir da zu, nur, dass es heute noch schlimmer geworden ist. Heute bekommst du als Künstler nicht einmal mehr einen Joghurt oder eine Zahnpasta. Das wäre großartig, wenn es noch so wäre. Das zeigt einfach, dass die Musikindustrie nach und nach die Vorstellung über den Wert von künstlerischen Inhalten gekillt hat. Heute ist es so, dass wir Musik zur Verfügung haben wollen wie die Luft, die man atmet. Diese Einstellung ist sehr gefährlich. In einer Gesellschaft sollten Sachen frei zur Verfügung stehen, es sei denn, dies führt dazu, dass andere dadurch arm werden. Und wann dies der Fall sein sollte, sollte es Teil der Menschenrechte werden. Das gilt sicher nicht für reiche Musiker aus Amerika und Europa, dieses Problem muss man größer betrachten, ich, du, wir als Bürger. Wir alle haben in unseren Familien ja Kinder, die vielleicht davon träumen, einmal ein Fotograf zu werden, oder ein Autor, Journalist, Filmemacher. Dafür muss man eben einem Job nachgehen, ohne den man seinen Traum nicht leben kann. Als ich "Music For Supermarkets" gemacht habe, hatte ich von den Ausmaßen heute noch keine Ahnung, es wurde immer schlimmer.

Ist das Internet dann eher Fluch oder Segen?

Das Internet, wie auch alles andere, ist neutral. weder gut noch schlecht. Es kann ein fantastisches Werkzeug sein. Für das jetzige Projekt hätte ich ohne Internet gar nicht arbeiten können. Mein Produktionsteam sitzt in Quebec, Vacouver und Los Angeles. Wir arbeiten konstant an diesem Projekt mit Dropbox, Wetransfer und Facetime. Wenn ich schlafe, können die Jungs dann an Mixen arbeiten. Wenn ich dann wieder aufstehe, kann ich weitermachen. Wir arbeiten sogar am selben Track aus Tausenden Kilometer Entfernung mittels Facetime. Wir haben Screens für eine simultane Session und können dann mit einem Refresh alle 15 Minuten am selben Track arbeiten. Das hätte ich also ohne Netz gar nicht machen können. Das spart Zeit. Aber es gibt auch dunklere Ecken im Netz. Schau' dir dein Smartphone an. Wir sollten nicht vergessen, dass der smarte Teil des Wortes wir sind. Wenn du all das, was da drauf ist, wegnimmst, Musik, Filme, Bilder, ist das auch nur ein scheiß Telefon für 50 oder 80 Dollar.

Würdest du deinen Kindern heute raten, Musiker zu werden?

Kommt darauf an. Aus verschiedenen Gründen. Wenn ich mir wünschte, dass das Kind glücklich wird, dann würde ich nein sagen. Musik ist eine Sucht. Du machst nicht Musik aus reiner Lust. Natürlich genießt man das, was man da tun kann, von Zeit zu Zeit, aber es hat mehr etwas von einer Besessenheit und einer Sucht als von etwas anderem. Aber was die ökonomischen Aspekte betrifft, glaube ich, dass sich das bald alles ändert. Das Schlimmste liegt hinter uns. Wir müssen ein Business-Modell für die Zukunft des 21. Jahrhunderts etablieren für Musik und darüber hinaus. Wenn ein Kind also sehr besessen ist von Klängen und Musik, dann muss es das eben tun. Nicht unbedingt, um einen Traum zu verwirklichen, sondern um der Sucht nachzugehen.

Wie könnte so ein Business-Modell, das du angesprochen hast, aussehen?

Das ist recht einfach. Wir sind alle virtuelle Aktieninhaber all dieser Internet-Firmen. Nimm zum Beispiel Spotify, das ist mehrere Milliarden Dollar an der Wall Street wert. Was man von denen rausbekommt, am Ende des Jahres, reicht für eine Familienpizza. Das ist total verrückt. Das muss endlich zurück ins Gleichgewicht gebracht werden, und das wird irgendwann passieren, weil diese Companys guten Content und ein gutes Image benötigen. Wir haben gesehen, was jüngst mit Volkswagen passiert ist. Sie verloren 50 Prozent ihres Wertes, aber nicht wegen irgendwelcher technischer Probleme, sondern wegen des Images. Bei diesen großen Firmen ist es so, dass zum Beispiel Facebook schauen muss, dass sie nicht das nächste MySpace werden. Das gleiche gilt für Google. Die sind momentan sehr groß, aber sehr fragil, was das Image betrifft. Plötzlich kommen Leute wie Edward Snowden oder andere, die die Legitimität dieser Firmen anzweifeln. Wir müssen einfach mehr Lärm machen, das ist ja auch unser Job, Krach zu machen.

"Kritisiere niemals deine Kollegen!"

Wenn man nun zurückblickt zu den Tagen, als elektronische Musik ins Pop-Gedächtnis drang: Gab es mit den damaligen Bands so etwas wie einen Wettstreit, wer das bessere Equipment hat?

Das war ja lange vor dem Internet. Wir saßen alle eher isoliert in unseren Kellern und Studios rum und hatten keine Ahnung, wer da was macht. Ich kann mich nur erinnern, als "Autobahn" erschien, dachte ich, das wäre eine kalifornische Band, und wie cool ich das fand, dass eine kalifornische Band einen auf Techno-Beach Boys macht. Das gibt dir einen ungefähren Eindruck davon. Das war 1974/75, also relativ nah bei "Oxygène", da habe ich ja fast schon zehn Jahre elektronische Musik gemacht. Bei Tangerine Dream war das so, da habe ich mich noch mit Edgar Froese unterhalten, die haben damals Progressive Rock gemacht. Zu dieser Zeit haben sich einige deutsche Bands dann auch anderweitig orientiert. Tangerine Dream haben vermehrt Soundtracks produziert, mit Gitarren, Saxophon und so. Kraftwerk haben ja dann aufgehört, neue Musik zu machen, und griffen das alte Material immer wieder von Neuem auf und stellen sich jetzt ins Museum, so wie eine Techno-Version von Leonardo DaVinci, was ein sehr interessantes Konzept ist, aber sich von dem, das ich mache, doch sehr unterscheidet.

Was glaubst du, wohin sich elektronische Musik von heute an gesehen bewegt?

Ich war immer überzeugt davon, dass elektronische Musik das dominierende Genre des 21. Jahrhundert werden wird, so wie die klassische Musik früher, weil das einen völlig anderen Ansatz hat. Die Zukunft wird von der Technologie bestimmt, denn die Technologie diktiert den Stil. Früher waren das dreiminütige Rocksongs. Das Single-Format war der Jukebox geschuldet. Später war das dann so etwas wie die Roland Drum Machine, das resultierte im Techno alter Schule wie Plastikman und den House-Sound von Chicago und Detroit. Das gleiche passierte jüngst mit Skrillex und Dubstep, das auf dem Native Instrument Massive aufbaut. Dieses Plugin benutzen Skrillex und andere, auf dem beruht dieser Stil. Die Technologie der Zukunft wird sich anderer Dinge bedienen, aber so wird das dann ablaufen.

Gibt es eigentlich einen Grund, warum das Cover der CD von "Time Machine" auf dem Kopf steht? Ist das Absicht?

Ja. Das ist jetzt kein Fehler von Sony. Plattenfirmen machen zwar viele Fehler, aber das gehört nicht dazu. Die Idee dahinter ist, dass der zweite Teil genau dazu passt und es sich dann zu einem vereint.

Wenn man das Album als Ganzes betrachtet, finden sich viele Stile und Stimmungen wieder. Gibt es eigentlich Musik, die du gar nicht magst?

Ich versteh' das nicht. Jetzt nicht deine Frage, aber die Haltung, wenn jemand sagt, dass er diese oder jene Musik nicht mag. Ich mag alle Spielarten von Musik. Unter den verschiedenen Genres gibt es dann Musiker, die ich bevorzuge, oder welche, die mich nicht wirklich interessieren. Und frag' mich nicht nach Künstlern, die ich nicht mag. Wie Serge Gainsbourg mal gesagt hat: "Kritisiere niemals deine Kollegen!" Damit hat er Recht. Ich mag Jazz, ich mag Rock, und innerhalb der elektronischen Musik gefällt mir Trance sehr, auch wenn Frankreich das Land ist, in dem Trance am wenigsten Beachtung findet, auch wenn das das populärste Genre der Dance-Music weltweit ist, mit Armin Van Buuren, Tiesto und anderen. Ich mag das sehr, diese langen und melodischen Tracks, die an sich gar nichts mit dem Pop-Format zu tun haben. Above And Beyond zum Beispiel haben einen Remix des Tangerine Dream-Tracks gemacht, der ist wirklich sehr gelungen. Eine weitere Form der Kollaboration wird es mit Remixen geben. Ich habe das schon angestoßen, mit Steve Angelo, der ja bei Swedish House Mafia war.

Deine letzten Veröffentlichungen gab es immer im 5.1.-Mix. Wird es davon auch etwas zum neuen Album geben?

Für diesen Release bereite ich gerade etwas anderes vor. Ich habe mit einer Firma zusammengearbeitet, die Audio 3D heißt, und ich plane, einige Sachen aus dem ersten und zweiten Teil in einem Format zu veröffentlichen, das Raumklang ermöglicht. Das ist der nächste Schritt nach Stereo. Das Schöne daran ist, dass man keine Hardware oder irgendeine App braucht. Das Ganze wird direkt in die Files codiert, man kann das also von jeder Plattform aus hören. Wir starten das jetzt mit Deezer und ein paar anderen Leuten. Ganz spektakulär. Wenn du von diesem Format zurück zu Stereo gehst, ist das ungefähr so, wie wenn du von Stereo zu Mono wechselst. Das ist für mich die Zukunft des Musikhörens.

Das kann man einfach über Stereo-Lautsprecher hören?

Es gibt unterschiedliche Algorithmen für Stereo-Lautsprecher. Ich werde die Kopfhörer-Version zuerst veröffentlichen. Damit kannst du dann mit jedem Kopfhörer der Welt 3D hören, vom kleinen Earplug bis zum großen Studiokopfhörer, und das von jedem Medium aus. iPod, Smartphone oder von sonstwo.

Das kann man sogar in MP3 reinquetschen?

Ja, das ändert rein gar nichts. Die MP3-Version wird dann nicht ganz so gut klingen wie hochauflösendere Formate. Was einige nicht wissen: AAC ist mitunter besser als das CD-Format. Apple kommuniziert das gar nicht, aber auf iTunes und anderen Plattformen findet man manchmal bessere Versionen, als sie die CD bereithält.

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