laut.de-Kritik

Bricht zwei Dutzend Knochen und das Herz.

Review von

Locker 15 Jahre reicht Kae Tempests Diskografie inzwischen zurück, oft genug hinterließ sie schwer beeindruckt. Trotzdem ändert dieses Album von einer auf die andere Sekunde alles: Es ist pure, entfesselte Naturgewalt. Egal, wie vorbereitet du dich wähnst, völlig egal, ob und, wenn ja, wie intensiv du Kae Tempests Schaffen bisher verfolgt hast, unabhängig davon, ob dir der Slam Poetry-Vibe, den viele der Tracks verströmen, gut reingelaufen ist oder dich eher abgestoßen hat: "Self Titled" überrollt dich wie eine Flutwelle. Es fegt dich von den Füßen, reißt dich mit sich, bricht dir zwei Dutzend Knochen und das Herz, und dann lässt es dich am Grund eines ausgewaschenen Flussbetts zurück. Auf dem Rücken, mit Blick in die Wolken. Geschunden, mitgenommen, aber seltsam ruhig.

Das Gefühl, angekommen, zu sich selbst und endlich, endlich die eigene Stimme gefunden zu haben, durchzieht "Self Titled" von Beginn an. So im wahrsten Wortsinn selbstverständlich, so ungewohnt anders und zugleich so sehr nach sich klang Kae Tempest noch nie. Dabei zeigt dieses Album überdeutlich, wie mühsam dieses neue Standing erkämpft werden musste. Der Struggle war qualvoll, hart und zermürbend, und er ist keineswegs bereits vorbei. Kae Tempest hat allerdings den richtigen Weg für sich ausgekundschaftet, ihn eingeschlagen und lädt nun dazu ein, ihn ein Stück weit mitzugehen.

Oh, nein: Es wird kein leichter sein. Entsprechend düster und bombastisch gerät der Opener, den Produzent Fraser T. Smith ausrollt. Kae Tempest rauscht darüber hinweg wie der beschriebene Fluss: "Time is a river that carries and buries", heißt es da, gefolgt von der Erkenntnis: "If you wait for the right time you never be ready." Kae Tempest, daran besteht von der ersten Zeile an keinerlei Zweifel, ist trotzdem bereit wie nie. Bereit, alles zu teilen, die Ängste und nagenden Zweifel, das allgegenwärtige Gefühl der Ausgeschlossenheit, die Verzweiflung und den Zorn.

Wie politisch das zutiefst Private ist, offenbart "Self Titled" immer wieder: "We all know something's gone wrong / Looking for convenient scapegoats to blame it on / With all the problems that we have to contend with / Why are trans bodies always on the agenda?" Als ob die eigenen Dämonen nicht ausreichten, gilt es auch noch unentwegt, sich gegen Anfeindungen und Diskriminierung von außen zu wehren. Kae Tempest wirkt inzwischen jedoch wie die personifizierte Ruhe im Auge dieses Orkans: "The norm is not normal, it's a construction", konstatiert "Statue In The Square". Die Folgerung daraus wirkt wie ein Schlachtruf: "It's fine. We don't need permission to shine."

Allerdings legt Kae Tempest "Self Titled" nicht wie einen Kreuzzug an. Obwohl die ersten drei Tracks in epischer Breite über eine*n hinwegwalzen, annonciert bereits "I Stand On The Line": "Love is the muscle I train." Spätestens in "Know Yourself" tritt die wahre Natur dieses Albums dann ganz offen zutage: Einen "Liebesbrief an das jüngere Ich" nennt es Kae Tempest und geht dann ganz buchstäblich in den Dialog mit der eigenen Vergangenheit. Aufnahmen von einem früheren Auftritt stehen da zwischen den Verses. Allein schon der krasse Kontrast der Stimme(n) verdeutlicht, was und wieviel in "twenty years deep in rhymes and beats" passiert sein muss. Was für einen abartig guten Rapper diese zwanzig Jahre geformt haben, offenbart spätestens "Breathe": knapp sechs getriebene Minuten ohne jede Atempause - und ohne Hook.

Kae Tempest mag noch nicht am Ende der persönlichen Reise angekommen sein, wohl aber an einem Punkt, der ermöglicht, anderen, vor allem aber sich selbst mit Nachsicht, Verständnis und Mitgefühl zu begegnen. Auch wenn sich vieles nicht mehr ändern, sich die Zeit eben nicht zurückdrehen lässt. Auch wenn es zu spät ist, um vor der Zimmertür des geschundenen Kinds von einst bis zum Morgengrauen Wache zu halten, um das Schlimmste zu verhindern. Auch, wenn die liebevolle Umarmung spät, in gewisser Hinsicht sicher zu spät kommt: Sie wirkt dennoch ungemein heilsam und tröstlich.

"I'm just trying to be someone the child I used to be could believe in": Diesem Ziel dürfte Kae Tempest mit der Entwicklung, die dieses Album zeigt, einen gewaltigen Schritt näher gekommen sein. Bei aller Wucht, Brachialität und Düsternis erscheint "Self Titled" in seiner Gesamtheit musikalisch wie inhaltlich perfekt austariert. Gleichermaßen knallhart wie endlos zärtlich setzt sich Kae Tempest mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander, mal adressiert an das jüngere Selbst ("Know Yourself", "Til Morning"), mal an ein ungeborenes Kind von (vielleicht?) morgen ("Bless The Bold Future").

"It's the world that's sick, baby, we allright.": "Self Titled" erzählt von Diagnosen, Kompensations- und Bewältigungsstrategien, von Selbstfindung, und obwohl Kae Tempest "Sunshine On Catfield" und die Liebe gefunden und sich selbst ungeahnte neue Perspektiven eröffnet hat, bleibt noch Raum, für die Gefühle anderer: "It hurt me to remember the girl I knew before", beklagt "Prayers To Whisper", das Opfer hat sich jedoch gelohnt: "At least you do not suffer anymore." Streiche "at least". Das ist doch wirklich eine uneingeschränkt gute Nachricht.

Trackliste

  1. 1. I Stand On The Line
  2. 2. Statue In The Square
  3. 3. Know Yourself
  4. 4. Sunshine On Catford
  5. 5. Bless The Bold Future
  6. 6. Everything All Together
  7. 7. Prayers To Whisper
  8. 8. Diagnoses
  9. 9. Hyperdistillation
  10. 10. Forever
  11. 11. Breathe
  12. 12. Til Morning

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