laut.de-Kritik

Der Tastenmagier degradiert sein Klavier zum Statisten.

Review von

"Ich bin viel zu beschäftigt, meine Musik zu spielen, als dass ich ihr Namen oder Titel geben könnte. Das ermöglicht den Klängen, ohne jede Ablenkung einfach da zu sein", so Keith Jarrett in den 70ern.

Auch das aktuelle Doppelalbum "No End" ist schlicht von "I" bis "XX" nummeriert. In musikalischer Hinsicht fällt die Platte jedoch komplett anders als der Großteil seiner reinen Pianokonzerte. Der Tastenmagier degradiert sein geliebtes Klavier vorübergehend zum Statisten und spielt stattdessen ein fettes Fusionwerk mit elektrischer Gitarre, Fender-Bass, Drums und Tablas ein. Das Ergebnis ist einmal mehr beeindruckend.

Die Aufnahmen stammen allesamt aus dem Jahr 1986. Warum nur hat Jarrett mehr als ein Vierteljahrhundert gebraucht, der Welt diese berauschenden Töne zu schenken? Ganz einfach: Jarrett stammt aus einer Zeit, in der es möglich war, Musik als reine Ekstase zu begreifen. Ein emotionales Erlebnis, das Schablonen-Mucke und -Denken gleichermaßen aufzubrechen sucht. Dem Publikum möchte er mit dieser Doppel-CD und ihren improvisierten, ungewohnten Klängen lieber Fragen stellen als Antworten aufzwingen. "Die Zeiten waren 1986 nicht ganz so schmerzvoll und eindimensional. Man konnte Musik für sich selbst sprechen lassen, ohne den Menschen eine bestimmte politische oder religiöse Sichtweise zu injizieren."

Mit der sehr rhythmischen Musik auf "No End" vermittelt er seinem Publikum Spaß und weckt Neugier. Jarrett bleibt Jarrett. Nach dem Genuss dieser guten anderthalb Stunden fühlt man sich wie neu geboren.

Percussion und Drums verleihen den Tracks einen recht ungewohnten Hauch südländischer Exotik. Ein Abstecher nach Lateinamerika hier ("II", "V"), eine Safari durch Afrika dort ("XIII"). Die Gitarre wandert - vor allem bei den Uptempo Tracks - nicht selten auf den Pfaden John McLaughlin anno "Bitches Brew". Jarrett lässt die alten Tage als Mitglied von Miles Davis' Band wieder ein wenig aufflammen. Er bleibt dabei jedoch immer ganz bei sich selbst und der eigenen Deutung (Anspieltipp: "XV").

Auch die ruhigeren Momente funktionieren hervorragend. Wie ein Fährmann nimmt der Amerikaner seine Hörer etwa auf "XI" und "XII" mit auf einen ruhigen Fluss, bis diese schlussendlich in der sanften Psychedelik des Sechssaiters bewusstseinserweiternd dahin schweben. Musik als klingender Kokon für Herz und Seele.

Kritikpunkte gibt es folglich nur auf höchstem Niveau. Nicht alle der 20 Stücke haben die gleiche Strahlkraft. Vor allem die zweite Hälfte der ersten CD wartet mit zwei Stücken auf ("VI", "VII"), die für die gesamte Dramaturgie der Platte unwichtig bis überflüssig sind. Solch kleinen Stolpersteine kratzen am Gesamtbild. "No End" erreicht damit nicht ganz die pointierte Klasse seiner legendären Pianokonzerte. Wer ausschließlich auf den Stil von Jarretts Meisterwerken wie "Solo Concerts Bremen/Lausanne" oder den ewigen Meilenstein "The Köln Concert" schwört, sollte vorher ausführlich reinhören. Für alle anderen gilt: Fallen lassen bis der Arzt kommt.

Trackliste

CD 1

  1. 1. I
  2. 2. II
  3. 3. III
  4. 4. IV
  5. 5. V
  6. 6. VI
  7. 7. VII
  8. 8. VIII
  9. 9. IX
  10. 10. X

CD 2

  1. 1. XI
  2. 2. XII
  3. 3. XIII
  4. 4. XIV
  5. 5. XV
  6. 6. XVI
  7. 7. XVII
  8. 8. XVIII
  9. 9. XIX
  10. 10. XX

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