Wolfgang Seidel - "Krautrock Eruption"

Worum gehts?
Wie der Untertitel des Buchs sagt, geht es darum, die Geschichte des Krautrock mit einem alternativen Ansatz und für ein internationales Publikum auf Englisch zu erzählen, ohne dabei die anderen (west)deutschen Musik-Szenen der 1960er und 70er außen vor zu lassen. Dabei drehen sich die meisten Kapitel weniger um einzelne Songs, Platten oder Bands, sondern um gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um die Vorgeschichte von Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Alliierten-Besatzung, Wirtschaftswunder und um Strömungen wie Feminismus und '68er-Revolte.
Die Mischung aus Soziologie, Zeitgeschichte, biographischen Splittern und nüchterner Musikanalyse bombardiert mit Fakten und Zusammenhängen. Sozioökonomisches rund um Hausbesetzungen (Squatting) und Stadtflucht, Anekdotisches wie vom legendären Konzert der Rolling Stones auf der Berliner Waldbühne, Gesetze und Stimmungen sorgen für viele Ebenen. Worauf das Buch allerdings hinaus will, ist in vielen Kapiteln gar nicht so klar zu erkennen. Aufgrund des stringenten Schreibstils stört diese fehlende Fokussierung jedoch überhaupt nicht.
Was diese Abhandlung im Grunde zeigt: Krautrock ist ein vages Konstrukt, um westdeutsche Bands zusammenzufassen, die lange Songs mit wenig Text und losgelöst von rhythmischen Regeln machten. Außerdem reduziert der Autor Kraut auf eine ausgesprochen kleine und kurzlebige Bewegung mit einem guten Dutzend Bands zwischen 1968 und '74 (Achtung, einige Compilation-Reihen der Bear Family und von Warner widersprechen dem genauso wie die Diskographie am Ende des Buchs mit 50 LP-Empfehlungen von 1969 bis '80).
Das Buch grenzt Krautrock von Beat ab, betont aber gleichzeitig die vielen Überschneidungen mit Fluxus-Bewegung, Karlheinz Stockhausens Avantgarde, (Free-)Jazz, Fusion, Swing, Minimal, Neuer Musik, Geräuschkunst, Garage, Progressive und Psychedelic. Einige Kapitel in der Mitte des Buches erörtern anhand der Wiederholungsschleifen und eingesetzten Instrumente bei manchen Krautrock-Acts, welchen Einfluss Kraut wirklich auf Ambient und Elektronik gehabt habe. Immer wieder betont der Autor die weitgehende Absenz von Synthesizern und kehrt andererseits hervor, wie kommerziell untauglich Kraut-Bands im Vergleich zu den späteren poppigen Kraftwerk gewesen seien.
So konzise selten nachzulesen ist die armselige Situation der Plattenläden in den Sixties in der BRD, wo vieles, das wir heute als Kult und Meilensteine betrachten, rar war und wovon Händler die Namen nicht aussprechen konnten. Das Buch geht auf den immensen Einfluss von Radioprogrammen der Alliierten insbesondere im amerikanischen Sektor und auf Presselandschaft und Fernsehsendungen wie "Jour Fix" (SDR) und "Beat Club" (Radio Bremen) ausführlich ein. Ein Highlight setzt dabei die Schilderung einer kontroversen TV-Diskussion zwischen Klaus Doldinger und dem Saxophonisten Peter Brötzmann. Querverbindungen zwischen bildender Kunst, Filmen, Musik, Theater, städtischen Förderprogrammen und Jugendzentren lassen ein lebendiges Bild der alten Zeiten entstehen. Die "Krautrock Eruption" differenziert die einzelnen Szenen in Düsseldorf, Wuppertal, Köln, Frankfurt am Main, München und West-Berlin und das wenig dokumentierte Live-Geschehen jenseits von Studioaufnahmen.
Wer hats geschrieben?
Wolfgang Seidel ist ein deutscher Synthesizer-Pionier und Schlagzeuger, kurzzeitiges (Gründungs-)Mitglied von Ton Steine Scherben, langjähriger Arbeitspartner von Conrad Schnitzler, in den 70ern Veranstalter multidisziplinärer Performance-Happenings, in den 80ern Grafiker und in den 2000ern Gelegenheits-Autor. (Er ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen und fast gleichaltrigen Autor über die Geschichte deutscher Redewendungen.)
Bereits 2016 veröffentlichte Seidel auf Deutsch zu seinem Lieblingsthema "Wir müssen hier raus! Krautrock, Free Beat, Reeducation". "Krautrock Eruption" ist im Wesentlichen das gleiche Buch, aber auf Englisch, und enthält zusätzlich 16 Seiten Hochglanz-Schwarz-Weiß-Fotos der wichtigsten Kraut-Bands und 24 Seiten mit Platten-Tipps. Holger Adam hat die empfohlenen Platten für den angefügten Diskographie-Teil ausgesucht und beschreibt diese sehr knapp in jeweils zwei bis fünf Sätzen. Adam gibt "Testcard" heraus, eine deutschsprachige Reihe, die seit 1995 über Popkultur reflektiert.
Wer solls lesen?
Wer sich für deutsche Geschichte der Nachkriegszeit und speziell der 1960er interessiert. Wer das Phänomen Krautrock erfassen oder verstehen möchte, aber auch für dessen Entzauberung bereit ist. Wer auf wissensreiche Sachbücher mit viel eigenem Input des Autors und wenigen Fremdzitaten steht. Wer keine Ahnung von Krautrock hat und einen kompakten, neutralen Überblick wünscht, der sich nicht (oder nur selten) in Namedropping verzettelt.
Das beste Zitat:
"The Ruhr area had experienced several waves of immigration (...) It was a hard-labour culture characterised by work in collieries and steelworks. People had to be able to rely on each other beneath the ground. Competition could be fatal (...) There is a great similarity to the English industrial cities here, so it is no wonder that the British invasion - The Beatles, The Who, The Kinks - triggered a wave of beat bands forming in the Ruhr area. In addition to this rather proletarian movement, there was the influence of the art academies. The cities had money and spent it on culture."
Wertung: 4/5
Text von Philipp Kause
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