Der Popmusiker vertritt Deutschland im Mai beim 66. Eurovision Song Contest. Es hätte schlimmer kommen können.

Konstanz (jah) - Mal ehrlich: Wäre es nicht so amüsant, sich jedes Jahr aufs Neue über die deutsche Blamage auszulassen, würden sich hierzulande wohl noch weniger Leute für den Eurovision Song Contest interessieren. "Schau dir mal den deutschen ESC-Vorentscheid an." So sitze ich armer Tropf also da und versuche, mir ein paar nicht allzu gehässige Zeilen aus den Fingern zu saugen, über einen Freitagabend, den ich in wieder geöffneten Clubs, bei Freunden oder wenigstens mit Netflix auf dem Sofa hätte verbringen können.

Stattdessen: Fast zwei Stunden die volle Dröhnung Pop-Gesülze. Solltet ihr den Vorentscheid nicht selbst live mitverfolgt haben (kann ich niemandem übel nehmen), keine Sorge: hier kommt ein Recap des Abends. Voller Einsatz für die Leserschaft!

Über dem Niveau wird eine Kellerwohnung frei

Die Show – und damit auch das Unheil – startet wie so oft mit Barbara Schöneberger. Statt den Stiefel einfach runterzumoderieren, fängt sie direkt selbst an zu singen. Ich hatte es befürchtet. "Wir fahren nach Italia. Wir zerschneiden eure Nudeln, doch lieben euer Land" Das Niveau hatte gerade vermeldet, dass über ihm eine Kellerwohnung frei geworden ist, da betritt Bülent Ceylan die Bühne zum Duett. Die beiden singen zusammen, spielen erst ein italienisches Pärchen und imitieren dann den ESC-Vorjahressieger Måneskin. Wie Susanne Daubner sagen würde: Cringe. Das Publikum klatscht fröhlich mit.

Weitere Details zur Begrüßung mit billigen Jokes und belanglosem Gelaber ersparen wir uns an dieser Stelle. Kommen wir zum spannenderen Part: den sechs Finalisten. Diese werden vor ihrem Auftritt jeweils in einem Vorstellungsvideo angeteasert, in dem sie erzählen, dass sie schon Musik machen wollten, bevor sie überhaupt auf der Welt waren und seit 500 v. Chr. davon träumen, beim ESC aufzutreten.

Die Auftritte der sechs Finalisten

Über die Qualität der Songs gibt es nicht mehr viel sagen, das hat der Kollege bereits gestern übernommen. Deswegen nehmen wir hier die Auftritte ins Visier. Kandidat Nummer eins: Malik Harris. Ein sympathischer junger Mann, gelbes Basic-Shirt, Gitarre, Keyboard, das wars. Er performt "Rockstars", ein Song über die guten alten Zeiten und die Unbekümmertheit der Jugend, im Hintergrund sieht man seine Kindheitsbilder. Kein spektakuläres Bühnenbild, kein Schnickschnack, einfach eine gute Stimme und ein solider Auftritt. Am Ende zeigt er die Rückseite seiner Gitarre, auf der "Stand with Ukraine" zu lesen ist.

Weiter gehts mit Maël & Jonas, die mir nach dem Vorstellungsvideo schon ein bisschen ans Herz gewachsen sind: Zwei Jungs, die sich nicht zu ernst nehmen und offensichtlich Spaß daran haben, Mucke zu machen. Gesanglich ist der Auftritt eher schwach, liegt aber auch daran, dass die Mikros viel zu leise sind. Nach der sehr energetischen Performance ist das Duo vollkommen außer Puste. Im Gespräch mit Barbara Schöneberger haben sie trotzdem noch den einen oder anderen Joke parat.

Es folgt Eros Atomus, eher so der Typ Justin Bieber. Sein Gesang ist gar nicht mal schlecht, der Song leider schon. "Alive" heißt das gute Stück, das ungefähr so lebendig wie der Basilikum in meiner Küche klingt, der trotz Gießen natürlich wieder nach zwei Tagen verreckt ist. Die Andreas Bourani-Vibes kicken rein, und ich muss meinem neben mir sitzenden Hund die Ohren zu halten – damit wenigstens nur einer leidet.

Schnell weiter zu Emily Roberts, der selbsternannten "half Brit, half Potato". Gesanglich das Lowlight des Abends, sehr wenig Power in der Stimme und dann vergisst sie auch noch mitten im Lied ihren Text. Naja, kann mal passieren, sie nimmts mit Humor und macht einfach weiter. Man merkt aber, dass sie mit dem Aussetzer hadert, danach klingt sie teilweise, als würde ihr gleich die Stimme versagen. Immerhin kann Roberts im Nachhinein darüber lachen: "Sorry Leute. Das ist so witzig, dass das grade passiert ist." Sympathisch, Humor hat sie. Gut wars trotzdem nicht.

In Felicia Lu hatte ich zuvor ein bisschen Hoffnung gesetzt. Ihr Song "Anxiety" ist ein sehr persönlicher – der wichtigste, den sie jemals geschrieben hat, wie sie im Vorstellungsvideo erzählt. Der Auftritt ist okay, die Stimme erinnert stark an Lena, die uns mit "Satellite" 2010 den bis dato letzten ESC-Titel bescherte. Schade, dass im Refrain das Mikro wieder viel zu leise ist – der stärkste Text bringt dir nichts, wenn man ihn nicht versteht: "Hmnananahmnene ... Anxiety!" "Wie hast du dich gefühlt da oben?" fragt Barbara Schöneberger nach dem Auftritt. Felicia Lu: "Mega. Gleich noch mal bitte", und ich fühle mich ein bisschen wie früher, als Mama gefragt hat, wie das Essen schmeckt und man diplomatisch geantwortet hat: "Gut, aber brauchst du nicht noch mal kochen."

Gut, dass es noch Nico Suave und sein "Team Liebe" gibt. Dass der Text des Songs in diesen Tagen nicht super passend ist, haben die vier gemerkt und performen eine abgewandelte Version: "Hallo Welt, ich seh dich! Das macht mich down." statt "Hallo Welt, wie gehts dir? Warum so down?" Damit ist die Message des Tracks gar nicht mehr so dämlich und auch die Live-Performance – ich hätte nicht gedacht, dass ich das hier schreiben würde – die positive Überraschung des Abends. Solange Suave nicht singt, sondern nur rappt, ist es wirklich erträglich, im Refrain harmonieren die Stimmen der vier super. Der gospel-mäßige Klavierpart rundet das Ganze ab. Bület Ceylans Kommentar im Nachgang, "Ihr vier seid die neuen ABBAs", geht dann doch ein bisschen zu weit.

Politische Zeichen und emotionale Botschaften

Nach einem kurzen Schnelldurchlauf der sechs Performances geben Conchita und Jane Comerford eine grauenhaftes ESC-Hit-Medley zum Besten, inklusive Überraschungsgast Gitte Hænning, die Nicoles "Ein bisschen Frieden" singt. Damit wird der ernstere Teil des Abends eingeläutet. Ein Einspieler thematisiert den Krieg in der Ukraine, mit besonderem Fokus auf die ukrainische Sängerin Jamala.

Mit dem Song "1944" hat sie 2016 den ESC-Titel in ihr Heimatland geholt. Dasselbe Heimatland, aus dem sie mit ihren Kindern zuletzt Hals über Kopf fliehen musste. Sie richtet zutiefst emotionale Worte an die Zuschauer: "Ich singe heute im Namen der Kinder. Ich singe heute im Namen der Frauen. Ich will, dass die ganze Welt unsere Stimmen hört. Ich werde schreien, damit die ganze Welt hört, dass es so nicht sein darf." Mit Ukraine-Flagge in den Händen und den Tränen nah singt sie live im Studio. Alle sind sichtlich gerührt, Standing Ovations.

Bei allem Spott: Das kann eben auch ESC sein, ein wirklich schöner Moment mit einer starken Message. Die ARD sammelt rund um die Sendung per Hotline zahlreiche Spenden. Alle gemeinsam, für die Ukraine.

And the winner is ... Malik Harris!

Aber zurück zur Musik: nach einem weiteren Schnelldurchlauf der sechs Songs läutet Barbara Schöneberger die letzten 60 Sekunden zum Abstimmen ein. In mir wächst die Vorfreude: Bald ist es überstanden. Die Promigäste geben ihre Tipps ab: Thomas Herrmanns setzt auf Team Liebe, Conchita schwankt zwischen Maël & Jonas und Team Liebe, auch Jane Comerford favorisiert Team Liebe. Die Panik krabbelt meine Waden hoch: Wir werden doch nicht ernsthaft den Suave dahin schicken, oder?

Verantwortlich für die Entscheidung sind in diesem Jahr zu 50 Prozent Radiohörer aus ganz Deutschland, die vorab online abstimmten, und zu 50 Prozent die Anrufer in der Live-Sendung. Nachdem die Repräsentanten der neun Rundfunkanstalten das Ergebnis ihrer Online-Abstimmung bekanntgeben, führen Maël & Jonas vor Malik Harris und Felicia Lu. Eine Vollkatastrophe ist schon mal abgewendet.

Das Endergebnis verkündet Thomas Herrmanns: Die Anrufer haben am meisten Bock auf Malik Harris. Er vertritt Deutschland 2022 mit "Rockstars" beim ESC in Turin. Am Anfang ein bisschen wie Lewis Capaldi, zwischendrin wie Kid Laroi und am Ende etwas Eminem: Der Song ist sicher nicht die schlechteste Wahl – was ihn trotzdem nicht richtig gut macht.

Wenn das Ziel gewesen wäre, sich mit Anlauf zu blamieren, hätten wir besser gleich den Wendler oder Kay One geschickt. So aber versinken wir – ohne dem wirklich sympathischen Malik Harris zu nahe treten zu wollen – mit einem Standard-Radio-Pop-Hit vermutlich wieder in der Belanglosigkeit. Dennoch prophezeie ich mal: Null Punkte werden es sicher nicht. Und wer weiß, vielleicht kommt der Song in Turin ja richtig gut an – ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.

Barbara Schöneberger verabschiedet mit den Worten "Tschüss aus Berlin, wir sehen uns dann wieder am 14 Mai." Ja, Barbara, I doubt it. Knapp zwei Stunden Leben, die man nicht wieder bekommt – das muss ich mir nicht unbedingt noch mal antun. Mit einer letzten Live-Performance von "Rockstars" geht ein Abend mit unzähligen starken politischen Symbolen und rührenden Momenten, aber auch sehr viel, sehr langweiliger Musik zu Ende. Naja, immerhin fährt weder Eros Atomus noch der Suave nach Turin.

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laut.de-Porträt Malik Harris

Er selbst bezeichnet sich als "anonymer Kolonist", Radiosender nennen ihn eine "wortgewaltige Hitmaschine" und wir Deutschlands Act für den Eurovision …

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