laut.de-Kritik

"Reality Rap" von Chicagos realstem Drill-Erbe.

Review von

Wer Trap verstehen will, sollte sich ein Bild davon machen, wie verschieden das Genre sich in verschiedenen Regionen ausgebreitet hat. Vom Hauptnexus in Atlanta wuchern gerade neue Äras an Traprappern an beiden Küsten, in Houston, in Memphis und in Detroit. Ein besonders interessanter Fall ist Chicago, denn dort bewegen sich die Generationen der Trap-MCs etwas asynchroner als im Rest der vereinigten Staaten.

Polo G ist der perfekte Weißabgleich, um diese Entwicklung zu beobachten. Auf seinem neuen Album "Die A Legend" zapft er die bebende, explosive Energie der Chicago Drill-Szene vom Anfang des Jahrzehnts an, um sie mit melodischen Sensibilitäten und einem eingängieren, zeitgenössischeren Vocal-Stil zu verbinden.

Die Einflüsse zehren also gleichermaßen von Rappern wie Lil Durk, G Herbo und Chief Keef, wie sie es auch von überregionalen Durchstartern wie YoungBoy Never Broke Again, Lil Skies oder Gunna tun. Denn während woanders in Chicago Rapper wie Tay600, King Von und FBG Duck den Drill-Geist hochhalten, geht Polo G wie seine Zeitgenossen 147Calboy und Lil Zay Osama eine poppigere Route.

Bestes Beispiel ist seine Durchbruchs-Single "Pop Out": Gemeinsam mit dem New Yorker Lil Tjay findet sich hier ein Gebilde vor, das auf Effektivität ausgelegt ist. Das Instrumental basiert auf einem rührseligen, aber ansprechenden Piano-Loop, versüßt mit einer schlingenden Gitarre, dazu ein paar 808s, ein paar Drumloops und fertig ist der Spaß. Polo G rappt darauf dann in einem etwas atemlosen, verrauchten Ton, jedoch stimmungsvoll und ausdrucksstark. Gerade in den Hooks hat er etwas so nahbares, so greifbares, dass der Track eine extreme Direktheit gewinnt.

Ein Rezept, das sich im Laufe von "Die A Legend" zumindest hier und da wiederholt. Lediglich "Chosen 1", "A King's Nightmare" und "Deep Wounds" variieren die Pianos mit Klampfen und "Through Da Storm" samplet eine Spieluhr. Innovative Produktion sucht man bei Polo G also vergebens, was aber hier durchaus seinen Reiz hat. Denn die Opulenz von psychedelischen Synthesizern und exzentrischen Samples, die gerade die Metro Boomins in Atlanta umtreibt, steht gegen eine Sehnsucht nach Hausmannskost, die den Sound von Chicago bis Los Angeles beherrscht.

Und hausgemacht klingt diese Platte. Polo G ist ein konventioneller Performer, aber bärenstark darin, dem Hörer zu vermitteln, dass da tatsächlich gerade sein Herzblut in einem Verse steckt. Auf Songs wie "Pop Out", "Lost Files", "Battle Cry" oder "Finer Things" klingt er wahnsinnig hungrig, seine Melancholie auf Nummern wie "Picture This" und "Deep Wounds" klingt nahezu dokumentarisch greifbar aufgezeichnet.

Da ist generell etwas extrem Rohes und Nihilistisches im Zeitgeist aktueller Straßenrapper, das Polo G besser als viele auf den Punkt bringt. Diese ständige Umherschleichen des Todes, diese Flüchtigkeit darin, wie er über sein Vermächtnis und seinen Impact nachdenkt. Ein großer Unterschied von Straßenrappern der Neunziger zu Straßenrapper von heute ist die Selbsteinschätzung: Während sie damals noch "Big", "Old" und "Dawgs" waren, sind sie heute "Lil" und "Young". Hört man Drill-Artists in Interviews zu, klingt es, als hätten sie ihren frühen Tod schon lange in Kauf genommen. Straßenrap findet in diesem Jahrzehnt im Auge der eigenen unweigerlichen Bedeutungslosigkeit statt.

Dass dieses Album dann "Die A Legend" titelt, fügt sich passend ins Bild. Immer wieder malt Polo G sich an verschiedensten Stellen aus, wie er möglicherweise bald das Zeitliche segnet. Da steckt eine immense Ohnmacht gegenüber den Realitäten der Straße, gegen die allumspannende Gewalt der Realität in seiner Weltsicht. Sein wahrer Wert, sein wahres Erbe, das könne sich sowieso erst entfalten, wenn er selbst stirbt. Als Legende, bestenfalls.

Wer könnte es einem jungen Mann aus Chicago also verübeln, melancholisch auf die Gegenwart und hungrig auf die Zukunft zu schauen? Polo G ist besonders, weil er es nicht ist. Er hat kein Image, kein Gimmick, kein besonders ausgefeiltes musikalisches Konzept. Seine Musik zielt auf das Hier und Jetzt seiner Umstände und wird von seinem beeindruckenden Ohr für treffsichere Flows und melodische Hooks getragen. Es ist musikalisch die logische Gegenwart von Chicago 2019, aber bärenstark ausgeführt und so authentisch, dass es wohl dem nahe kommt, was Schooly D einst als Reality Rap bezeichnet hat.

Trackliste

  1. 1. Lost Files
  2. 2. Dyin Breed
  3. 3. Through Da Storm
  4. 4. Effortless
  5. 5. Pop Out (feat. Lil Tjay)
  6. 6. Battle Cry
  7. 7. BST
  8. 8. Finer Things
  9. 9. Picture This
  10. 10. Chosen 1
  11. 11. Deep Wounds
  12. 12. Last Strike
  13. 13. A King's Nightmare
  14. 14. Pop Out Again (feat. Lil Baby & Gunna)

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