laut.de-Biographie
Pumarosa
Die erste Enttäuschung setzt beim allerersten Treffen zur Bandgründung ein. Es kommen nur zwei Leute. Die zweite Enttäuschung bremst während der Promotion des Debütalbums die ersten gemeinsamen Gehversuche, die sie in die breite Medienöffentlichkeit hineinwagen. Ein Mitglied steigt aus, und die Frontfrau erhält in der Release-Woche eine Krebsdiagnose. Pumarosa erleben keinen glatten Start. Und doch einen guten: Kritiker schließen die Band sofort ins Herz. Denn über ihren Stil lässt sich nichts Sicheres sagen. Er ist mutig, spricht Herz, Hirn und Füße an. Die Band selbst verabscheut eine Zuordnung. "Eigentlich ist der Sound der Briten undefinierbar", hält es der WDR ganz kurz.
Die erste Single der Band ist gar nicht kurz. Knapp acht Minuten dauert sie. "Priestess" (2015) durchstreift in einer hypnotischen Mischung aus predigtartigem Spoken Word und Synthie-Beats die Gestade von Art-Pop und Post-Wave. Die Single läuft in England tatsächlich ungeschnitten im Radio. Im zugehörigen Tanz-Videoclip scheint die Sängerin Isabel Munoz-Newsome für die Band vor der Kamera zu stehen. Doch zu sehen bekommt man ihre Schwester, Fernanda, eine Tänzerin.
Visuell, professionell, Marketing-affin ist die Band. So sperrig der Sound, so smooth die Darbietung. Witzige, in Erinnerung bleibende Pressebilder leuchten aus der üblichen Sonnenbrillen-Langeweile des Genres 'PR-Fotos' heraus. Mit ihren Songtexten erheben Pumarosa gesellschaftlichen Anspruch. Das Potential ist riesig; die Band weiß aufzufallen.
Pumarosa bestehen aus einer charismatischen Sängerin und vier, dann nur noch drei, männlichen Instrumentalisten. Markanten Anteil am Sound hat vor allem der Drummer, Nicholas "Nick" Owen. Er erscheint zu dem allerersten Treffen und tut sich dort mit Isabel zusammen. Ohne zu wissen, was später für ein Stil dabei herauskommt.
Nick verteidigt das Vorgehen, eine monströse, sperrige Debütsingle gedroppt zu haben: "Rückblickend denke ich, dass es eine gute Entscheidung war. Ich denke nämlich, wenn du (...) ein bisschen mit der Norm brichst, schaffst du dir die Möglichkeit, danach eigentlich alles tun zu können", erläutert er gegenüber Diffusmag, und fügt hinzu: "Sei so extrem wie möglich.(...) Viel Musik heute – wie soll ich es sagen – ist Musik, zu der man Latte trinkt ..." Diese Funktion von Musik ist nicht nur ihm zu wenig.
Als Produzent des Tunes "Priestess" macht sich kein No-Name, sondern Dan Carey für den XL-Song abseits der Hörgewohnheiten stark. Carey greift auf illustre Kundenreferenzen zurück und kann sich Non-Konformes leisten: Sia, Santigold, Bat For Lashes, Kate Tempest, Emiliana Torrini, Sophie Hunger oder Caroline Polachek – gerade starken Frauen ebnete er oft den Weg. Der Dreh geht auf, Carey wird zum Geburtshelfer für Pumarosa. Die Band arbeitet sich fortan mit ihrer Debüt-EP zum Support für die Glass Animals und später, mit dem ersten Album, im Nu zur Vorgruppe für Depeche Mode hoch. "The Witch", "Die Hexe", heißt jener erste Longplayer. Er befasst sich mit Frauenrollen in unserer Zeit.
Das Prinzip aller Pumarosa-Songs liegt im kathartischen Aufbauen von Tragik, inklusive der Entladung in einem explosiven Höhepunkt. Deswegen funktioniere, so Nick Owen, ein Song wie "Priestess" anders als in der langen Version einfach nicht. Besonders ergriffen lauscht der britischen Band schon bald das Publikum in Tokio. Immerhin hat der Keyboarder und Saxofonist der Band, Tomoya Sukuzi, einen japanischen Hintergrund.
Doch einen abgrenzbaren Markt gibt es für Pumarosa nicht, zumal die Gruppe ein Sammelsurium von Stilen zusammenmischt: Punk, Piano-Pop, Industrial, Trip Hop, Noise-Rock, vieles weitere.
Im Mai 2017 durchbricht ein Schicksalsschlag den aufkeimenden Erfolg der Band. Frontfrau Isabel hatte schon einiger Zeit beunruhigende Blutungen und das Gefühl, in ihrem Körper sei etwas nicht in Ordnung. Testergebnisse liegen während der Promo-Woche zum Album-Release vor: Die junge Sängerin leidet an einem Tumor im Gebärmutterhals. "Während unserer vorigen Tour wusste ich, dass etwas falsch war; sie verlief ziemlich hedonistisch. (...) Deswegen schien es mir da umso unwahrscheinlicher, dass ich etwas Schlimmes haben könnte ... aber genau das hatte ich. So fühlte es sich dann äußerst fremdartig an, weiter zu funktionieren. Die Aktivitäten rund um den Release weiter durchzuspielen und all das."
Den einzigen Promo-Tag in Deutschland bricht die Band mittendrin ab. Isabel unterzieht sich einer Operation, lässt sich das Organ und die zugehörigen Lymphknoten entfernen - ein gewaltiger Einschnitt in das Leben einer jungen Frau. Sie beginnt tiefer zu ergründen, wie die Anatomie des weiblichen Körpers aussieht und wie man in Kultur und Gesellschaft darüber spricht. "Die Art, wie sich die Nerven der Vagina mit dem Gehirn verknüpfen, ist unglaublich tief. In einer Weise, die sich Jungs gar nicht vorstellen können."
"Ich bin eine Fabrik", meint Isabel 2019 im Song "Factory", und vergleicht den menschlichen Körper mit einer Fertigungsstätte, die mit Hilfe des Atems immer irgendwie weiter arbeitet, auch wenn es einem einmal richtig schlecht geht. Das zweite Album "Devastation" ("Verwüstung") knüpft unmittelbar an diese Gedanken und Lebenserfahrung(en) an und erforscht die Geheimnisse der weiblichen Sexualität.
Um sich "gegen Standard-Gitarrenrock und seelenlose Dance Music" zu wenden, suchen Pumarosa für die Arbeit am zweiten Longplayer Inspirationen bei großen Namen der elektronischen Musik. PR-technisch fangen sie mit der Scheibe sowieso wieder knapp über Null an. Warum also nicht etwas ganz Neues machen? Als Producer schleift der für St. Vincent tätige Produzent John Congleton die Details. "Devastation" gerät zu einer spannenden Scheibe.
1 Kommentar
Ein sehr interessante Band!
Und ja, die Sängerin hat in der Tat ein grosses Charisma.
Meine Tidal Playlist wurde um einige Songs erweitert.