6. Juni 2024

"Der Ramalama-Hype ist älter als TikTok"

Interview geführt von

Sie spielt gerade ihre erfolgreichste Tour als Solokünstlerin und hat nur lobende Worte für ihre Band übrig. Ein Gespräch über unerwartete Viral-Hits, die neue Platte mit DJ Koze und Songwriting als Wurzelbehandlung.

Im Backstage des Zürcher Clubs X-tra werden alle Erinnerungen von Roisin Murphy wieder allgegenwärtig. Ob sie es will oder nicht. Eine Wand ist volltapeziert mit Konzertplakaten. Sie spielte hier schon mehrmals mit Moloko und später auch als Solokünstlerin, so dass die Frage aufkommt, ob sie überhaupt schon mal eine andere Halle der Schweizer Metropole von innen gesehen hat. "Ja, ich war auch mal woanders", entgegnet sie prompt, und das Kaufleuten darf sich rühmen: "Es war ein Theater mit der größten Diskokugel, die ich jemals gesehen habe."

Für das Interview sitzen wir in einem schmucklosen Umkleideraum des Clubs. Die frühere Moloko-Sängerin trägt ein offenes Jeansheamd über weißem Shirt und kommt direkt vom Soundcheck. Schon nach einem halben Durchlauf von "Pure Pleasure Seeker", den Murphy regungslos an der Bühnenkante abspult, erahnt man, welche massive Power diese Band später auf die Bühne bringen wird. Neben dem Sofa, auf dem die Irin nun Platz nimmt, hängen diverse, ausnahmslos schwarze und weiße Outfits auf einer simplen Kleiderstange. "Meine Garderobe für heute Abend, monochrom", lacht sie.

Deine Tournee endet morgen in Paris, bevor die Festivalsaison beginnt. Fast alle Konzerte waren ausverkauft. Fühlt es sich für dich an, als würdest du immer populärer werden?

Roisin Murphy: Ich glaube wirklich, dass wir gerade unsere besten Konzerte spielen. Und da muss ich Eddie Stevens hervorheben, der seit 28 Jahren dabei ist und schon bei Moloko der musikalische Direktor war. Er ist derselben Meinung, was schon eine relativ waghalsige Aussage ist nach all den Jahren. Aber meine aktuelle Band besteht einfach aus unglaublichen Musikern.

Klingt fast schon so, als sei ein Live-Album in Planung.

Vielleicht, wer weiß. Wir schneiden jedenfalls einige Shows mit.

Abseits deiner Karriere bist du Mutter von zwei Kindern. Wie gelingt dir der Spagat zwischen umjubelten Konzerten und dem Familienalltag mit Hausaufgaben?

Oh, ich werde gar nicht erst gefragt, wenn es um Hausaufgaben geht. Ich war selbst keine gute Schülerin. Darum kümmert sich bei uns der Papa. Er ist gut in Mathe, Sprachen, Naturwissenschaft, Programmieren ... alles Dinge, mit denen ich mich nicht auskenne. Meine Kinder sind sehr kreativ. Ich bin eher eine ungewöhnliche Mutter. Ich hatte immer viel zu tun. Daher haben wir die Aufteilung, dass mein Partner oft zuhause bleibt, so dass ich unterwegs sein kann.

Somit ist er gewissermaßen für dein Karrierehoch mitverantwortlich.

Heute habe ich mehr um die Ohren als früher. So oft wie in den letzten zwei Jahren war ich vorher nicht weg von zuhause. Früher habe ich mich meistens auf Festivalauftritte oder Konzerte am Wochenende konzentriert.

"'Hit Parade' ist draußen im All"

Dein letztes Album "Roisin Machine" erschien in der Pandemie und war ein intensives Four-to-the-Floor-Album, ein Bekenntnis zum Dancefloor, den man damals nicht betreten konnte. "Hit Parade" ist komplett anders. Ein wilder Ritt durch verschiedenste Stimmungen, angeführt von Zeremonienmeister DJ Koze.

"Roisin Machine" ist eine Sheffield-Platte. Ganz klar. Ich habe sie mit Parrot gemacht, der eine Legende in Sheffield ist. Für mich ist es deshalb Sheffield-House-Music, Sheffield-Disco. Es hat einen bösen Unterton, ein dunkles Klirren, fast Industrial-artig. Den Disco-Appeal bekommt es durch die darübergelegten Spuren, dadurch klingt es discomäßig flamboyant. "Roisin Machine" ist ein sehr ortsgebundenes Album. Wie ein Palast, in den du eintrittst, mit sehr vielen Räumen. Du bist dir sehr bewusst, wo du bist.

Das neue Album ist draußen im All. Ich denke, es reflektiert die Art und Weise, wie Stephan und ich arbeiteten, weit voneinander entfernt. Er war in Deutschland, ich in Spanien oder London. Die Musik entstand remote. Mit Stephan hatte ich daher nicht die Verbindung, die ich zu Parrot hatte. Dafür hatten wir keinerlei Druck: Das Album entstand über den Zeitraum von fünf Jahren. Sehr laissez-faire. Wobei man sagen muss: Auch "Roisin Machine" ist nicht gerade schnell entstanden. Der Song "Stimulation" ist ja schon zehn Jahre vor dem Album erschienen. Das sind die schönen Seiten am Musikmachen von heute: Man kann arbeiten, wann man will, und Musik erst dann veröffentlichen, wenn sie fertig ist.

Du sagst, das neue Album entstand komplett in remote - so eine Arbeit gelingt ja sicher nur, wenn zwischen beiden Akteuren großes Vertrauen herrscht. Wie entstehen solche Kooperationen?

Ich bin recht gut darin, Menschen auszuwählen, denen ich vertraue. Das ist eines meiner Talente. Das Vertrauen muss groß genug sein, um gemeinsam die Angst zu überwinden, in unentdeckte Gebiete vorzudringen. Es geht eben nicht darum, Stephan in die Richtung von Parrot zu drängen, aus Parrot einen Matthew Herbert zu machen, oder aus Matthew Moloko. Man lässt sich gemeinsam fallen.

Wie schwer fällt es dir, eine Konzert-Setlist zusammen zu stellen, die sowohl deine Lieblingssongs als auch die vom Publikum erwarteten Hits beinhaltet?

Ich beschäftige mich ehrlich gesagt wenig mit Dingen, die das Publikum erwartet - in jeglicher Hinsicht. Ich möchte wirklich niemanden vor den Kopf stoßen, aber manchmal denke ich, es könnte ja auch einer der Gründe sein, warum ich heute noch hier bin. Die aktuelle Setlist ist ein schöner Mix aus Moloko und meinen Solosachen, wobei auf der letztjährigen Tour mehr Songs aus "Hit Parade" drin waren, obwohl die Platte damals noch gar nicht erschienen war. Ich mag das. Am Anfang ist eine Setlist meist etwas wackelig, dann bleiben wir dran, bis wir einen Flow finden. Und wenn es mal läuft, wird uns schnell langweilig und wir tauschen Songs aus.

"Matthew Herbert hasste den Song"

Ich habe mich gefragt, ob du manchmal bei der Entstehung einer Setlist an einen Song denkst, der dir vielleicht sehr am Herzen liegt, obwohl er irgendwo auf einem älteren Album versteckt ist, sagen wir "Primitive" von "Overpowered". Und du ihn dann der Band vorschlägst.

Ja, so läuft es. Zur Zeit spielen wir zum Beispiel "Dear Miami", einfach weil mich viele Fans gebeten haben, dass ich diesen Song wieder singen sollte. Solche Sachen gibt es auch.

Apropos Festivals: Ich habe dich mit Moloko 2003 in Karlsruhe bei "Das Fest" live gesehen, vielleicht erinnerst du dich. Es ist ein sehr besonderes Festival, weil das Publikum auf mehreren Hügeln verteilt steht und auf die Bühne hinunterschaut.

Tatsächlich, ich erinnere mich. Wunderschön, ein Setting wie aus der Bibel.

Gestern fragte mich meine Tochter, wen ich interviewe. Ich dachte, sie könnte "Sing It Back" oder "The Time Is Now" kennen, letztlich war es aber "Ramalama Bang Bang" aufgrund des Viral-Hits auf TikTok. Wie hast du davon erfahren?

Der "Ramalama"-Hype ist sogar älter als TikTok. Der Song war vor ungefähr 15 Jahren Teil der amerikanischen TV-Show "So You Think You Can Dance". Dort kreierte ein bekannter Choreograph dazu einen Zombietanz. Danach war er ziemlich bekannt. Wenn du den Songtitel auf Youtube eingibst, findest du endlos viele Tanzfiguren dazu, vor allem aus Amerika. Selbst große Gruppenchoreos mit Fahnen in Fußballstadien. Für mich ist es auf eine Art auch pervers, weil es wirklich der verrückteste Song überhaupt ist. Es ist kein House, kein Disco, völlig durchgedrehter Pop. Es war ziemlich verwirrend, zu erleben, wie er dann auf TikTok nochmal abhob. Das hat auch dem dazugehörigen Album "Ruby Blue" nochmal Aufwind gegeben, die Dance-Community hat die Platte dadurch entdeckt.

Wirklich eine tolle Geschichte, gerade weil der Song so absolut weird ist.

Ich weiß noch, wie ich Matthew Herbert angefleht habe, den Song fertig zu machen. Er hasste ihn. Ich lag im wahrsten Sinne des Wortes weinend auf dem Boden. Er haderte die ganze Zeit mit dem Arrangement und stellte sich quer. Diesen Song aus ihm rauszupressen war wie eine Wurzelbehandlung. Jetzt ist er glücklich.

Auf Spotify ist der Song auf dem zweiten Rang direkt hinter "Overpowered", was mich ehrlich gesagt auch verwundert hat. Gibt es dazu auch eine Geschichte?

Nein, "Overpowered" ist einfach eine Single von der Platte, die weithin als mein Mainstream-Album angesehen wird. Damals hatte im Unterschied zu heute komplette Freiheit. "Hit Parade" ist ein Album, das im Verhältnis 50:50 Stephan und mir gehört. Auf "Overpowered" war ich zu 100 Prozent der Boss.

Ich habe gelesen, dass die Plattenfirma bei deinem Album "Hairless Toys" 2015 gerne mehr Songs als acht auf dem Album gesehen hätte ...

Nein, das stimmt nicht. Ich hatte mit Labels nur einmal Probleme, das war 2005 bei meinem Debüt "Ruby Blue". Es ist beim selben Label erschienen wie zuvor die Moloko-Platten. Sie sind uns lange treu zur Seite gestanden, auch in Zeiten, als es nicht so gut lief. Ich ging also davon aus, dass ich mir weiterhin dieselben Freiheiten erlauben darf. Wir mussten bei Moloko nie jemandem unsere Demos vorspielen. Wir lieferten unsere Platte ab und das Label nickte sie ab. Und genauso machte ich es dann mit "Ruby Blue".

Das war vielleicht etwas naiv. Ich erinnere mich noch genau. Als ich ihnen die Platte aushändigte, kam als Reaktion: "Das ist die falsche Platte." Man muss ihnen aber zugute halten, dass es eine schwere Zeit gewesen ist: Das Label, die ganze Plattenindustrie, ging bereits den Bach runter. Sie waren im Panikmodus. Aber zurück zu "Hairless Toys": Da konnte uns niemand reinreden, weil wir die fertige Platte mehreren Labels angeboten haben und schließlich ist sie auf PIAS erschienen.

Die Genderverteilung auf Festivals ist über die Jahre zu einem großen Thema ...

Aber nicht mein Thema, nächste Frage bitte.

Auf der letzten Platte singst du die Zeile: "I feel my story is still untold but I make my own happy ending". Ist das eine Art Lebensmotto?"

Ja, das bin ich. Eine selbstbestimmte Person. Das geht zurück auf meine Kindheit, ich bekam als 15-Jährige in Manchester Probleme mit meiner Familie und beschloss auszuziehen. Seither macht mir keine Situation im Leben mehr Angst. Es war für mich das Beste, was ich damals hätte tun können. Ich hätte auch mit meiner Mutter nach Irland zurückgehen können, aber die Trennung meiner Eltern verlief traumatisch. Ich wusste instinktiv, dass es besser für sie wäre, eine Weile nur auf sich zu schauen und dass ich mich um mich selbst kümmern muss. Ich hatte das Glück, dass es damals staatliche Unterstützung gab, so dass ich mir in der Nähe meiner neuen Schule und meiner Freunde ein Zimmer leisten konnte. So begann mein selbstbestimmter Weg.

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Roisin Murphy

Bevor Moloko 2002 die Arbeiten am vierten Studioalbum "Statues" antreten, sind Roisin Murphy und Mark Brydon bereits kein Paar mehr. Seit 1994 teilte …

1 Kommentar