laut.de-Biographie
Roisin Murphy
Bevor Moloko 2002 die Arbeiten am vierten Studioalbum "Statues" antreten, sind Roisin Murphy und Mark Brydon bereits kein Paar mehr. Seit 1994 teilte das Duo außer der Bühne auch das Bett, und als die Liebe plötzlich versiegte, wollte die Plattenfirma noch ein Album. Blöd. So entsteht "Statues" unter völlig neuen Begleitumständen und dass es Moloko dennoch schaffen, eine ihrer besten Arbeiten abzuliefern, spricht wohl für ihre Professionalität.
Als es dann um die obligatorische Tourplanung geht, verschärfen sich die Probleme. Brydon spürt als Murphys Verflossener wenig Lust, mit seiner Ex ein Album zu promoten, weswegen Roisin (sprich: Rosheen, gälisch für "kleine Rose") alleine durch Europa reist und sich auch später auf der Tournee nach den Konzerten meist alleine zurück zieht oder aber nochmal einen Schwung Interviews gibt (so auch für laut.de auf dem Southside Festival).
Dennoch erinnert sich Murphy später mit Freude an die "Statues"-Tournee: "Es war großartig. Gegen Ende spielten wir diese riesigen 8000er-Hallen. Das Geld, das ich dadurch verdiente, hatte ich für die Zeit danach auch dringend nötig", verrät sie 2005 dem britischen Guardian. Die Rückkehr vom alltäglichen Tour-Wahnsinn mit einer befreundeten Crew in die Leere ihrer Londoner Wohnung kommt für Roisin einem Schock gleich. Ohne den Halt einer festen Beziehung im Rücken erkennt die Sängerin plötzlich, dass sie über all die Jahre nur lose Bekanntschaften anstatt richtige Freunde um sich scharte.
Der Lebensweg der 1974 im zwei Stunden von Dublin entfernten Arklow geborenen Roisin Murphy verlief bis dahin mit dem Tempo eines Düsenjets. Aufgewachsen in der behüteten Enge einer Provinzstadt, flüchtet sie als Teenie nach Manchester, wo elektronische Musik Anfang der 90er Jahre einem explosiven Aufbegehren der Jugend gleich kommt. Für das Power- und Ausgehgirl Roisin mit den Vorbildern Kim Gordon und Kim Deal genau der richtige Mix. Um diese Zeit dürfte sie auch Abstand von ihrem ursprünglichen Wunsch genommen haben, Künstlerin oder Fotografin zu werden, denn immer mehr fühlt sie sich der Clubmusik verpflichtet. In Sheffield angekommen, kreuzt sich ihr Weg 1993 schließlich mit dem des Produzenten Mark Brydon und die Moloko-Erfolgsgeschichte nimmt ihren Lauf.
Anstatt sich 2004 nach dem (vorläufigen) Ende ihrer Band einem Kunststudium zu widmen, wie sie es im laut.de-Interview ein Jahr zuvor bereits andachte, trifft sie sich mit dem Londoner Produzenten Matthew Herbert, der in der Vergangenheit bereits Remixe für Moloko ("Sing It Back", "The Flipside") anfertigte. Zunächst wollen beide nur ein wenig gemeinsam experimentieren, um sich gegenseitig zu beschnuppern, doch nach und nach merkt Murphy, dass der Kompositionsprozess auch ohne Langzeitpartner Brydon funktioniert. Ihr Gefühl für ungerade Melodien lässt sie bald auf äußerst experimentierfreudige Weise über Herberts Arsenal entrückter Sample-Zerstückelungen hinweg rauschen, und weder Fahrradklingeln, Knistergeräusche noch quäkende Bläsersätze halten ihre Performance auf.
Insgesamt weist das letztlich auf zwölf Song angewachsene Solo-Debüt "Ruby Blue" einen deutlichen Jazz-Ansatz auf, wenngleich der Funk Molokos natürlich immer noch häufig genug durchschimmert (Auf Vinyl erscheint das Werk in drei Teilen unter dem Titel "Sequins EP"). Die Elektronik ist jedoch nicht länger grundlegend für Beatstruktur und Arrangements, als vielmehr eine luftige Beigabe, die mal mehr ("Ruby Blue"), mal weniger ("Leaving The City") in Erscheinung tritt. Unter Rückgewinnung von altem Selbstbewusstsein posiert Murphy für das Cover in gewohnt extravagantem Pailetten-Fummel für den kurz zuvor in einem Pub aufgelesenen Großformatmaler Simon Henwood.
Als alte Rampensau macht die Irin natürlich auch einige Livetermine klar. Mit einem Satz Blechbläser im Line Up beweist die Ex-Moloko-Sängerin allen Zweiflern mit Bravour, dass sie auch auf der Bühne durchaus ohne ihren Ex-Kollegen Mark Brydon bestehen kann. Im laut.de-Interview verrät Murphy im November 2005, dass sie nach wie vor von der Idee fasziniert ist, "Popmusik zu kreieren, die Grenzen überschreitet, die neu und aufregend klingt, modern und eben nicht wie etwas bereits Dagewesenes". Ein neues Studioalbum soll nach dem Willen der Sängerin 2006 entstehen.
Im Frühjahr 2007 verdichten sich dann langsam die Gerüchte, wonach Murphy mit neuen Songs kurz vor der Veröffentlichung steht. Mal wieder ist es MySpace, wo die Auftaktsingle "Overpowered" sowie deren B-Seite "Sweet Nothings" als erstes zu hören sind, derweil Murphys Homepage noch ins neue Design übersetzt wird. Beide Songs belegen Murphys Ankündigung, sich wieder verstärkt elektronischen Beats widmen zu wollen. Das Acid House-lastige "Overpowered" ähnelt somit auch wieder mehr ihrer Moloko-Vergangenheit.
Das Video zum Song, das Murphy in skurriler Bühnenverkleidung durch die Straßen Londons schlendernd zeigt, stammt von Regisseur Jamie Thraves, der bereits für Radiohead, Blur und Death Cab For Cutie gearbeitet hat. Der Song ist ab Anfang Juli zu erwerben, das gleichnamige zweite Album folgt im Oktober bei Roisins neuem Label EMI.
Als Produzenten vertraute sie dieses Mal dem Londoner Drum'n'Bass-Spezi, Remixer und DJ Paul Dolby, der unter seinem Pseudonym Seiji wohl etwas besser bekannt ist. Der frühere Cellist gilt als offener Geist, was seine Arbeit unter mehreren Pseudonymen (Opaque, G-Force und Bugz In The Attic) verdeutlicht und dürfte daher musikalisch schonmal auf Murphys Wellenlänge liegen. Neben ihrer Platte schloss er gerade die Arbeiten an seinem elektronischen Instrumentalalbum "DJ Tools" ab, das auf Sonar Kollektiv erscheint.
Im Herbst 2007 geht Roisin mit ihrem neuen Album auf Europa-Tour. Bei einem Auftritt in Moskau Ende Oktober übertreibt sie es mit dem Headbangen ein wenig und schlägt mit dem Kopf so fest auf eine Stuhlkante, dass sie sich am Kopf verletzt und das Konzert abbrechen muss. Nachdem sie für die erforderliche Operation mit Vollnarkose nach Großbritannien zurückgekehrt ist, sagt sie die einige Termine ab.
Danach dauert es tatsächlich acht lange Jahre, ehe Murphy ein weiteres Album veröffentlicht. Die Sängerin wird Mutter und konzentriert sich auf eine Art Familienleben. Doch das geht nicht lange gut, sie trennt sich von ihrem Partner. Ihr zweites Kind bekommt sie mit dem Produzenten Sebastiano Properzi.
Dabei kehrt sie der Musik nie ganz den Rücken zu. "Hairless Toys" erscheint 2015 mit ihrem musikalischen Langzeitkollegen Eddie Stevens. Im Folgejahr erscheint "Take Her Up To Monto". Moloko-Fans kommen hier kaum auf ihre Kosten: Roisin versucht sich an kühler pluckernder Electronica. Diese Intelligent Jazz Disco findet 2020 mit "Roisin Machine" ein jähes Ende. Murphy hat wieder Bock auf den Dancefloor und legt davon beredt Zeugnis ab. Obwohl die Songs über den Zeitraum von mehreren Jahren mit der Sheffielder House-Ikone DJ Parrot (Sweet Exorcist, The All Seeing I) entstanden sind, wirkt die Platte wie aus einem Guss.
2023 erscheint ihr nächstes Album "Hit Parade" in Zusammenarbeit mit dem deutschen DJ Koze: "Wir arbeiteten aus der Ferne, in verschiedenen Ländern, und schickten uns mehrere Jahre lang Tracks und Ideen hin und her. (...) Das bedeutete, dass wir beide an einem persönlichen, privaten Ort waren, als wir an den Songs arbeiteten. Für mich brachte das eine intimere Herangehensweise an das Songwriting mit sich, ich erzählte diesem Album meine Geheimnisse. Für Koze bedeutete das totale Freiheit und absolute Konzentration ohne die Ablenkung durch meine Anwesenheit. Er tauchte tief in sich selbst ein, und ich glaube, das ist der Grund, warum die Musik so pulsierend und lebendig ist. Sie explodiert geradezu vor Farbe! (...) Für mich geht es auf der Platte um Liebe und Sinnlichkeit, aber auch um die Musik selbst und darum, dass sie für mich immer da war. Neben all der Freude gibt es auch Anklänge an Dunkelheit, an den Abgrund. Es gibt eine Betrachtung der Sterblichkeit, die mich (und vielleicht auch ihr als Hörer:innen) daran erinnern soll, wirklich zu leben, solange wir können".
Auf 13 Tracks zimmert Koze ein futuristisches Elektro-Klangbild zusammen. Besonders "Can't Replicate" findet großen Gefallen in der Clubszene und wird von Künstler:innen wie Daniel Avery, Peggy Gou, Jamie xx oder Sven Väth in ihren DJ-Sets verwendet. Zudem läuft es als Soundtrack für die Chanel Herbst/Winter '23-Laufstegshow während der Paris Fashion Week - als einziges Stück überhaupt.
Roisin Murphy kennt keine Genregrenzen und findet für jeden Output neue Inspiration. Ihre versatile Stimme passt sich zur Musik perfekt an, im Nu ist man ihrem Charme erlegen. Moloko war nur der Anfang, ihre Solokarriere meistert sie ebenfalls mit Bravour. Wer experimentellen Elektro-Dance im Allgemeinen zu schwätzen weiß, der kommt an der Irin nicht vorbei.
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