Denken Sie groß: Das beste Technoprojekt aller Zeiten und Mrs. Moloko an der Schweizer Riviera.
Montreux (kluk) - Sie haben Freddie umgebettet. Kein Scheiß. Die Bronzestatue des Mannes, der einst sprach: "Wenn du deinen Seelenfrieden willst, komm nach Montreux." Einfach verschoben. Das 57. Montreux Jazz Festival steht im Zeichen der Umwälzungen. Schon bei der Ankunft am Genfer See zeigt sich: Die Riviera steht Kopf, und der nur ein paar Meter weitergeschubste Freddie Mercury trägt noch den geringsten Anteil daran.
Fanden die legendären Headliner-Auftritte zuletzt noch indoor im Auditorium Stravinski statt, orientiert man sich 2024 erstmals an Boden- und Gardasee und zimmert eine stattliche Seebühne ans Ufer.
Je 5.500 Wochenendschweizer feiern hier bis 20. Juli täglich Acts wie PJ Harvey, Massive Attack, Michael Kiwanuka und Deep Purple. Heutige übers Wasser schwebende Heilige Heiligtümer: Kraftwerk und Róisín Murphy.
Die Festivalisierung des Festivals
Davor lohnt ein Blick übers ganze Terrain: Denn das kostenpflichtige Programm an See und Casino wird von reichlich Klang, Kulinarik und Konsum flankiert. An allen Ecken und Enden ploppen wahlweise Souvenirshops, Straßenmusizierende und weitere Bühnen auf.
Der von Werbepartnerlogos geschmückte Uferreigen ist schon am frühen Nachmittag bestens gefüllt. Super Bock (leider, leider doch keine neue Mo-Do-Single, sondern portugiesisches Bier) stellt eine eigene Stage, auch der erwiesenen Kulturmagnat Nestlé hält seinen eklig greenwashingbefleckten Zeh in den bis gerade noch blauen Genfer See. Darauf erst mal einen 20-Euro-Garden-Gourmet-Burger. Aber allen verlockenden Kommerzspott mal beiseite: Ein kurzer Lauscher in die verschiedenen In-und-Outdoorlocations beweist, dass sich der Trip nach Montreux auch ohne Ticket auszahlt – sogar mit kostenfreien Jazzdarbietungen.
Pleasure überall
Vom einen Ende des Trödelma- … äh, Festivalgeländes zum anderen vergeht dann auch gerne mal eine halbe Stunde, was aber in Teilen auch auf die Durchschnittsgeschwindigkeit des Kraftwerk-Publikums zurückzuführen ist. Ein beachtlicher Teil dieser Autobahn-Shirt-tragenden Spezies schafft es dann leider auch nicht rechtzeitig um 20 Uhr zur Bühne, wo Molokos "Pure Pleasure Seeker" das letzte Seewasser aus der Muschel pustet. In wahrlich amtlicher Open-Air-Lautstärke predigt Róisín Murphy "stimulation in body and cell". Nicht zuletzt ihre perückierte Ganzkörper-Löwenmähne lässt das Publikum rasch Folge leisten.
Alles andere als roboteresk schwoft sich das 7- bis 70-Jährige Publikum zu den Vibrationen von fünf Solo- und drei Moloko-Bangern ein. Die gute Laune der inzwischen zu Zylinder und Jacket gewechselten Grande Dame überträgt sich schnell, der für Outdoor-Verhältnisse lächerlich überragend klare Sound (diese Percussions!) schnürt den Euphorie-Sack mit Doppelknoten zu.
Regenbögen und tiefe Bässe
Beim finalen "Can't Replicate" lassen sich die zunächst nur vereinzelten Regentropfen dann tatsächlich nicht mehr wegignorieren, dafür entblößt der Blick nach hinten einen pompösen Regenbogen über der Riviera. Zum Abschluss versenkt die Band den Song gekonnt in einem Drone-Inferno, das Anwohnenden, die die balkonseitig mit schwarzen Pappwänden umzäunte Location überblicken können, vibrationsmäßig den Rest geben dürfte. Murphy zerschmettert derweil (mit Liebe!) ihren Rosenstrauß auf den Bühnenbrettern. Und so schnell ist eine Stunde dann auch schon wieder vorbei.
Kaum dass man mal eine halbe Stunde die fiebertraumartige Schönheit des im See versinkenden Feuerballs und der davor verkehrenden Segelboote genießt, stehen auch schon verdächtig bekannte Rednerpulte auf der Bühne. Statt Biden und Trump erscheinen vier leicht bis deutlich jüngere Herren in passgenauen Anzügen und spielen dasselbe Konzert wie sie es seit 30 Jahren tun. Ehrlich fantastisch.
Neon-Minimalismus vor Seekulisse
Es hatte sich angedeutet: Mit den ersten Tieftönern von "Nummern" blasen Hütter und Ensemble hier alles weg. Die Tribüne vibriert in allen Himmelsrichtungen, ohne Ohrstöpsel geht erst mal nichts mehr. In 14 Suiten gehts durch alle Alben des vielzitierten Katalogs, heute mit etwas stärkerem "Computerwelt"-Einschlag.
Die schon vor Jahren von Vocoder auf Sprachsoftware umgestellten Robotnik-Vocals ("It's More Fun To Compute!") braten schön durch, einzig Hütters gewohnt zaghafter Klargesang geht auf dem Weg ins Headset zu Beginn etwas verloren. Visuell setzt die Show vor der Seekulisse gewohnt stilsicher minimalistische Akzente, in die sich auch ein etwas neueres Gadget einfügt: Die programmierbaren Farbwechsel der legendären, radsportbedingt noch immer perfekt sitzenden Bodysuits.
Das beste Technoprojekt aller Zeiten
Die frankophon angehauchten Mitsingchöre zu "Autobahn" erweisen sich als etwas schwierig (drehen dafür zu "Tour de France" noch mal richtig auf), kann aber natürlich auch daran liegen, dass sich schon zu "Mensch-Maschine" ca. ein Viertel der noch intakten Trommelfelle verabschiedet haben dürfte. Während sich die Anwesenden in den hinteren im mittlerweile handfesten Regen kuschelig aneinanderreiben, ist in den vorderen Reihen noch gut Raum für Tuchfühlung und Augenkontakt zu den einzelnen Bandmitgliedern. War Kraftwerk schon immer mehr als die Summe seiner Teile, so hat Cheffe Hütter die Maschinisierung seit dem Ausstieg Florian Schneiders endgültig perfektioniert. Ein neuerlicher Besetzungswechsel 2023 dürfte hier jedenfalls den wenigsten Anwesenden aufgefallen sein.
Als gegen 23 Uhr die Roboter mit dem Trans-Europa-Express einreiten, ist das Finale noch lange nicht in Sicht: "La Forme" und "Régéneration" vom "Tour de France"-Album läuten düstere Clubbing-Vibes ein, die diesen sonst so friedlichen Ort endgültig in einen Tempel des getanzten Hedonismus verwandeln. Die wenigen Locals auf ihren Balkonen nehmens mit Humor und bitten aus der Höhe zum Tanz. Über "Detroit, we so electric"-Mantras ("Planet Der Visionen") leitet "Boing Boom Tschack" das bis heute beste Livefinale der elektronischen Musik ein. Ein Finale, das Alter, Form und Farbe (Henning Schmitz' Bein leuchtet übrigens seit anderthalb Stunden durchgehend grün) von Künstlern und Publikum endgültig vergessen lässt. Und trotzdem hofft man jedes Mal, dass sich das in der zeitlosen Abschiedsformel mitschwingende Versprechen des 77-jährigen Ralf Hütter erfüllt: "Gute Nacht, auf Wiedersehen."
Setlist Róisín Murphy:
Pure Pleasure Seeker
Simulation
Overpowered
You Knew
The Time Is Now
Incapable
Sing It Back
Can't Replicate
Setlist Kraftwerk:
Nummern / Computerwelt / Computerwelt 2
It's More Fun to Compute / Heimcomputer
Spacelab
Die Mensch·Maschine
Autobahn
Computer Liebe
Das Model
Geigerzähler / Radioaktivität
Tour de France / Chrono / Étape 2
Trans-Europa Express / Metall auf Metall / Abzug
Die Roboter
La Forme / Régéneration
Planet der Visionen
Boing Boom Tschak / Musique Non Stop
Fotos Kraftwerk: Emilien Itim / MJF
Fotos Róisín Murphy: Anna Francesca & Thea Moser / MJF
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