13. Oktober 2020
"Wir wollen die Bandcamp-Idee auf Tickets übertragen"
Interview geführt von Manuel BergerMit "Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic" setzen The Ocean ihre 2018 begonnene Aufarbeitung des jüngsten Äons der Erdgeschichte fort. Es entstand ein Soundtrack für die Zeitspanne von der Ära der Dinosaurier bis zum Ursprung des Menschen. Wir sprachen mit Bandleader Robin Staps über den ungewöhnlichen Produktionsprozess zum Album, welche Planung eine Tour in Coronazeiten erfordert, wie er mit seinem Label Pelagic Records auf die Krise reagiert und wie es zur Zusammenarbeit mit Berlins Exportschlager Kadavar kam.
Wir treffen Robin Staps im Kellergeschoss eines Industriehofs in Berlin. Dort liegt das Hauptquartier von Pelagic Records – dem Plattenlabel, das Staps vor gut zehn Jahren in erster Linie für seine Band The Ocean gegründet hat. Inzwischen ist die Firma zu einem Pfeiler der internationalen Post Metal Szene geworden und überzeugt neben hochqualitativer Musik auch mit durchdachten, aufwendigen Vinyl-Editions seiner Releases.
Das zahlt sich aus: Im Lager stapelt sich bereits kistenweise The Oceans neues Album "Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic", das wenige Wochen nach unserem Gespräch dank reger Vorbestellerei letztlich auf Rang 9 der deutschen Albumcharts landet und damit die erste Top 10 Platzierung für Band und Label markiert. Schon bald könnte die nächste folgen, denn Staps expandiert: Berlins schönste Bärte Kadavar suchten nach dem Schritt in die Unabhängigkeit einen Logistikpartner für ihr neu gegründetes, eigenes Label Robotor Records und fanden ihn in Pelagic. Fans, die ein sogenanntes "Vinyl-Abo" beim Label abschließen, bekommen Kadavars kommendes Album "The Isolation Tapes" sogar in einer nicht frei verkäuflichen, geheimen Farbversion.
Doch nicht nur beim Musikkonsum in den eigenen vier Wänden schlagen Staps, The Ocean und Pelagic Records neue Wege ein. Auch für den gerade während der Coronakrise schwer gebeutelten Livesektor gibt es konkrete Pläne, um künftig unabhängiger von scheinbar übermächtigen Playern zu werden und den Künstlern selbst mehr Kontrolle zu verschaffen. Bevor wir darauf zu sprechen kamen, ging es allerdings erst einmal um "Phanerozoic II", Dinosaurier und was Filmemacher Lars von Trier damit zu tun hat.
Wie kommt man auf die Idee, eine Steinplatte zum Album zu packen?
Robin Staps: Na, das liegt doch auf der Hand, wenn das Album von Steinen handelt! Die Idee hatten wir schon länger. Wir wollten eine Box für beide Alben machen und irgendwas Cooles beilegen, was eben kein Pin oder T-Shirt ist. Einen ganz schönen Pin gibt es zwar jetzt doch, aber wir wollten mal ein bisschen was anderes machen. Als wir dann Martin Quammes Artwork gesehen haben – monochrom, hell auf dunklem Untergrund – dachte ich sofort: Das wird voll geil aussehen mit einer Schieferplatte. Also haben wir geschaut, wo man das herbekommt und jemanden gefunden, der das graviert. Und daneben gibt es ja noch die Fossilien. Die Idee stammt von meinem Vater. Er hat mich nach dem Konzept des neuen Albums gefragt und ich hab ihm erzählt, dass es an "Precambrian" anschließt. Und in dem Haus, wo wir gerade waren, lag tatsächlich ein Fossil rum. Mein Vater meinte: "Leg doch ein Fossil bei." Erst hab' ich laut gelacht, dann aber gedacht, wie geil das wäre. (lacht)
Dann hab' ich viel rumtelefoniert. Es gibt jede Menge Händler auf dem Markt für sowas, aber es war extrem schwierig, beständig was in selber Größen-, Preis- und Gewichtsklasse zu finden. Die Dinger sind halt hunderte Millionen Jahre alt und werden irgendwo in der Wildnis gefunden. Letztlich bin ich am geologischen Institut in München auf eine sehr nette Dame gestoßen, die total Lust auf das Projekt hatte und uns geholfen hat, die Mengen zu finden, die wir brauchten. So war es dann tatsächlich möglich, für 1000 Boxen 1500 Fossilien zusammenzustellen. 250 kamen mit je drei Fossilien, 750 mit einem Fossil. Das war nicht ganz einfach und ging über einen längeren Zeitraum. Wir wussten immer: Okay, bald kriegen wir 85 Mosasaurier-Zähne – also verkauften wir 85 mit Mosasaurier-Zähnen und danach gabs wieder was anderes.
Wart ihr eigentlich in der Produktion des zweiten Albums von der Coronakrise beeinträchtigt?
Gemischt und gemastert war zum Glück schon alles, als dieser ganze Quatsch losging. Direkte Produktionsschwierigkeiten hatten wir also nicht. Es war eher so, dass wir durch die Krise dann noch Sachen gemacht haben, die ursprünglich gar nicht geplant waren – das Fotobuch zum Beispiel. Die Idee wollte ich sehr gerne umsetzen, hatte mich aber im Januar eigentlich bereits dagegen entschieden, weil ich Zweifel hatte, ob wir das zeitlich hinbekommen. Wir sollten durch Südamerika touren und im März/April schon einige Wochenend-Festivals spielen. Das Material war zwar da, aber das alles zusammenzuklauben, zu layouten, die Fotografen-Rechte zu klären und so weiter... das wollte ich mir erst nicht antun.
Das Album im September zu veröffentlichen war aber von Anfang an geplant?
Ja, das Album war immer für September geplant. Wir haben nochmal kontrovers diskutiert, letztlich aber beschlossen, es durchzuziehen. Das Album ist fertig und ehrlich gesagt glaube ich, dass gerade eine gute Zeit ist, um Alben zu veröffentlichen. Die Leute sitzen zuhause und haben total Bock auf Musik. Es gab halt jetzt lange nichts – weder live noch auf Platte. Alles wurde eingefroren und verschoben. Jetzt hat man es vielleicht leichter, Aufmerksamkeit zu bekommen – gerade im September, der ja sonst ein sehr voller Monat ist.
Das Album hat ja sogar noch mehr Zeit auf dem Buckel als üblich, denn ein Großteil des Materials stand bereits vor der Veröffentlichung von "Phanerozoic I: Palaeozoic". Wie war es für dich, den Komfort zu haben, genau zu wissen, was als nächstes kommt ohne erst noch Komponieren zu müssen?
Das erleichtert die Arbeit natürlich schon, weil man genau weiß, woran man ist. Andererseits war immer sehr klar, was auf dem ersten Teil des Albums landen wird, aber der zweite Teil war ein Buch mit sieben Siegeln. Das Material gab es zwar, aber ich wusste noch nicht, wie das als Album zusammenfinden sollte. Irgendwann habe ich mich davon völlig losgelöst und darauf vertraut, dass das schon irgendwann kommen würde. Das war ein anderer Ansatz, denn normalerweise plane ich alles von Anfang bis Ende durch. Bei "Phanerozoic I" wusste ich von Beginn an, welche Songs in welcher Reihenfolge auf dem Album landen würden. Das Material hatte auch einen ähnlichen Vibe. Das für den zweiten war sehr vielschichtig, insgesamt anders und deckt eine hohe Bandbreite ab. Bei allen anderen Alben haben wir uns sehr an meine Vorstellungen in der Vorprodukten gehalten, die immer schon sehr detailliert ausgearbeitet waren. Da ist man teilweise aber auch schon so darauf fixiert, dass man neuen Ansätzen – zum Beispiel beim Mix – erstmal nicht unbedingt offen gegenübersteht. Das wollte ich diesmal vermeiden. Ich entschied, was alles auf das Album kommt, aber wie genau, ließ ich bis zuletzt offen. Das überlegten wir dann im Studio und es hat wunderbar geklappt. Erst als wir im Dezember anfingen zu mischen, fing ich langsam an, darüber nachzudenken, wie die Songs zusammenfinden, in welcher Reihenfolge sie stehen und wie die Transitions ausfallen sollen. Plötzlich hat alles Sinn ergeben.
Es ist ja noch kein gutes Album, wenn man zehn Songs hat und die einfach irgendwie aneinander klatscht. Man braucht innere Logik. Bei "Phanerozoic I" war mir das sofort klar – bei "Phanerozoic II" überhaupt nicht. Das blieb wirklich bis zum Ende offen. Ich wusste, was der Opener werden wird, ich wusste, dass "Jurassic | Cretaceous" der zweite Track wird und ich wusste, dass "Holocene" das Ende bilden soll. Aber vieles dazwischen war noch total offen. Als wir alles im fertigen Soundgewand gehört haben, ging es aber ganz schnell. Wir haben auch ein bisschen damit gekämpft, alles rechtzeitig fertig zu kriegen, weil wir das komplette letzte Jahr auf Tour waren. Unser Synth-Mann Peter konnte aus persönlichen Gründen nicht mit auf die Leprous-Tour und hat währenddessen zuhause weiter am Album gearbeitet. Bass haben wir zum Teil während der Leprous-Tour zwischen Soundcheck und Gig aufgenommen. Das war zum Teil stressig, aber es war gut, eine Deadline zu haben. Insgesamt war alles ein wenig intuitiver als bei anderen Album, was auch den Charakter der Platte geprägt hat.
Also hat sich doch noch einiges im Material verändert, seit "Phanerozoic I"?
Ja, auf jeden Fall. Die Rohsongs waren zwar alle schon da, aber es hat sich zum Beispiel noch viel durch Peters Beitrag geändert. Die Synths kamen als letztes Element nach dem Gesang, haben die Songs aber zum Teil sehr verändert. Das war beim ersten Teil ähnlich. Es ist alles viel später passiert als vorgesehen, hat sich aber letztendlich sehr geil ineinander gefügt. Das Endresultat ist eine tolle Reise, die an einem Punkt beginnt und an einem völlig anderen endet. Wenn man den ersten Song hört, kann man noch nicht erahnen, wo es hingeht. Das finde ich sehr schön. Für mich hat das Album zwei Hälften – die erste ist der "Mesozoic"-Teil und vor dem zweiten kommt noch so eine Übergangs-Grauzone mit Tracks wie „Oligocene“. Im Grunde ist es ähnlich wie bei "Pelagial", wo der Anfang sehr verspielt ist und dann nach und nach ausdünnt, auch in der Instrumentierung und im Tempo. Auch diesmal gibt es die überladene erste Hälfte, die ausgedünnte, spärlich instrumentierte zweite Hälfte und den Übergang dazwischen. Am Ende hat das alles wunderbar funktioniert und ineinander gegriffen.
"Sollte ich vielleicht nicht zu laut sagen, sonst verklagt uns Lars von Trier"
Die Tracklist entspricht chronologisch den verschiedenen Zeitabschnitten des Mesozoikums und Känozoikums. Wenn du sagst, die Songreihenfolge habe sich erst zum Ende hin ergeben – heißt das, die Texte haben sich noch entsprechend verändert?
Klar, daran hab ich zum Teil noch gearbeitet. Aber ohnehin gibt es textlich viele Referenzen zwischen den Tracks – was vor dem Hintergrund des Themas 'eternal recurrence' ja durchaus Sinn ergibt. "Die ewige Wiederkunft des Gleichen", wie Nietzsche das nannte, also dass sich Dinge der Erdgeschichte wiederholen – genau wie auch im eigenen Leben. Wir haben versucht, das sowohl musikalisch als auch textlich umzusetzen. Teile des Textes von Opener "Triassic" tauchen zum Beispiel im Closer "Holocene" wieder auf. Einen Gitarrenpart von "Jurassic | Cretaceous" greifen wir in "Eocene" wieder auf. Solche Referenzen zwischen einzelnen Songs gibt es viele. Damit werden wir dem Gedanken eines zyklischen Zeitkonzepts gerecht. Deshalb war es auch möglich, Songs zu schieben – es gab ja ohnehin schon gleiche Teile in verschiedenen Songs, was immer so vorgesehen war.
Was war dir wichtig, textlich für die einzelnen Epochen herauszugreifen?
Naja, die Lyrics setzen sich mit den jeweiligen Epochen nur abstrakt auseinander. Es gibt zwar direkte Bezüge und natürlich hab' ich bei jedem Song erstmal geguckt, was denn jeweils in der Zeit passiert ist. War das eine warme oder kalte Zeit? Passt das zum Song? Gleichzeitig wollte ich aber auch nicht zu sehr ins Detail gehen. Es ergäbe ja keine Sinn, Texte über irgendwelche Mikroorganismen zu schreiben. Es braucht immer eine menschliche Ebene. Eine gewisse Abstraktion war also immer schon da – bei all unseren letzten Alben, auch "Pelagial". Damals war es einmal die Reise von der Meeresoberfläche in die Tiefe und textlich dazu die Reise von der Oberfläche in die Tiefe der Psyche. Diese Metaebene gab es auch jetzt wieder. Es geht weniger um bestimmte Arten, die zum Beispiel im Eozän gelebt haben, nicht aber in der Trias.
In "Pliocene" und "Holocene" kommt tatsächlich der Mensch ins Spiel...
Ganz genau! Am Ende dann. Dort, wo das Album aufhört, kommt der Mensch eigentlich erst an – und "Heliocentric" dockt an. Im Grunde ist "Phanerozoic" ja das Zwischenalbum zwischen "Precambrian" und "Heliocentric". Bei "Triassic" und "Jurassic | Cretaceous" zum Beispiel – der "Mesozoic"-Teil und wahrscheinlich die beiden spektakulärsten Tracks – war relativ klar, wohin es gehen sollte. Am Ende der Kreidezeit gab es eine Asteroiden-Kollision, ein Teil schlug in Yucatan ein und entfernte die Dinos bzw. 90 Prozent aller damaliger Arten. Dieses Massenaussterben wird tatsächlich auch in den Texten aufgegriffen. Wir setzen das in Bezug zu Lars von Triers "Melancholia". Auch da geht es um eine planetare Kollision. Die Gewissheit, dass das Ende nahe ist, und wie die Protagonisten damit umgehen, zieht sich durch die Lyrics. Dieser Einschlag hat faktisch das Mesozoikum beendet, was ganz interessant ist, denn alle anderen Übergänge zwischen geologischen Ären können immer nicht genau festgelegt werden und variieren um hunderttausend Jahre. Aber hier ist auf den Tag genau klar, dass das Mesozoikum vorbei ist. Wir stellten den Bezug zum Menschen in der Gegenwart her und überlegten, was wohl wäre, wenn wir wüssten, dass alles in 23 Tagen vorbei wäre. Das zieht sich durch den Song.
Loïc singt von "Existential emptiness".
Genau, das ist "Jurassic | Cretaceous". Im Trier-Film erzählt die Mutter ihrem Kind immer von einer magischen Höhle, wo sie Zuflucht suchen und alles gut ist. Das greifen wir im Text auch auf. Sollte ich vielleicht nicht zu laut sagen, sonst verklagt uns Lars von Trier. (lacht)
Ein Massenaussterben hattet ihr schon bei "Phanerozoic I", an der Perm-Trias-Grenze. Auf "Phanerozoic II" kommt das eben angesprochene am Ende der Kreidezeit. Nehmen wir an, es gäbe bald wieder eins. Yuval Noah Harari spekulierte in "Sapiens" zum Beispiel kurz über intelligente Ratten oder Kakerlaken. Wie stellst du dir eine neue Evolution vor?
Uh, also dass Ratten und Kakerlaken überleben, ist wahrscheinlich relativ klar – die überleben schließlich alles. Aber ob sie unbedingt intelligent werden? Gewagte Theorie, aber interessant. (lacht) Abraham haben darüber ein schönes Album gemacht: "Look Here Comes The Dark" – übrigens auch eine Pelagic-Platte. Das ist ein Album in vier Teilen, unterteilt in vier Ären ähnlich der Erdzeitalter – nur in die Zukunft gedacht. Es geht um die Zeit nach dem Ende der Menschheit. Im ersten Teil erobert die Pflanzenwelt die Städte zurück, überwuchern die Gebäude. Im zweiten Teil entsteht ein Mycelium – ein Pilzimperium. Im letzten Kapitel schwebt die Erde als lebloser Fels im Weltall. Das haben sie wirklich schön gemacht, auch musikalisch. Der pilzige Teil ist total psychedelisch, und wenn die Erde als Fels im Weltall steht, hört man nur noch entfernte Drones. Wirklich extrem geil gemacht. Eigentlich haben sie damit schon unser nächstes Album vorweggenommen.
Ihr habt vor Kurzem eine Tour für Anfang 2021 angekündigt. Du bist also zuversichtlich, dass man dann bereits wieder auftreten kann?
Ja, ich bin zuversichtlich, gleichzeitig auch realistisch. Die Tour wurde zu einer Zeit gebucht, als noch niemand absehen konnte, wie lang der ganze Quatsch hier dauert. Jetzt kann das noch immer niemand absehen, aber wir wollten das jetzt einfach ankündigen. Auch, um ein Hoffnungssignal zu senden. Falls es nicht geht, müssen wir uns damit auseinandersetzen. Wir haben ein Backup-Routing für Juni. Sollte es also nicht wie geplant klappt, verschieben wir die Tour um ein paar Monate. Ich könnte mir schon vorstellen, dass es im Januar bereits klappt, aber das hängt von extrem vielen unvorhersehbaren Dingen ab. Wenn bei einer Tour mit 30 Dates und Bus-Routing drei, vier Konzerte in einzelnen Ländern ausfallen müssen, gefährdet das auch viele andere Shows. Ein Bus kostet einfach viel Geld. Wir können uns als Band nicht leisten, nur jeden zweiten Termin zu spielen. Die Gefahr, dass mehrere Termine abgesagt werden, ist zwar relativ groß, aber die Promoter sind alle zuversichtlich. Viele sind auch bereit, entsprechende Maßnahmen umzusetzen, die womöglich noch nötig sein werden. Wir wollen das ebenfalls machen. Das wird auf jeden Fall eine komische Tour, aber auch eine, an die man sich wahrscheinlich erinnern wird. Ich kann mir schon vorstellen, mit reduzierter Kapazität, zum Beispiel mit bestuhltem Publikum zu spielen. Warum denn nicht? Haben wir eh schon gemacht.
Geht das finanziell für euch?
Das ist eher für die Promoter schwierig. Wir selbst haben halt gewisse Kosten und kriegen gewisse Garantien, das machen zu dürfen. Aber wenn die Promoter nur ein Drittel ihrer Tickets verkaufen, dann kommt der schwer auf seine Kosten. Dann kommt es darauf an, ob er auf sich allein gestellt ist oder ob Staat oder Stadt eingreifen und es Funding gibt. Das ist vielerorts durchaus im Gespräch. Man muss das für jede Show der Tour einzeln betrachten. Wenn es bei mehreren nicht wirtschaftlich ist und sie entsprechend absagen müssen, wird das die ganze Tour gefährden. Aber im Moment sind wirklich alle zuversichtlich. Wir machen das jetzt und gucken, was passiert. Natürlich haben wir die Weichen so gestellt, dass wir rechtzeitig den Stecker ziehen können, falls es einfach nicht geht oder nicht wirtschaftlich ist. Dann können wir den Stecker ziehen und verschieben. Tickets behalten dann natürlich ihre Gültigkeit und werden übertragen bzw. können zurückgegeben werden.
Der Trend geht dahin, dass Musiker immer mehr Bereiche ihres Geschäfts selbst übernehmen – angefangen bei der Möglichkeit, zuhause am Laptop ganze Alben zu produzieren. Ein Bekannter mutmaßte neulich, ob die Zukunft des Livegeschäfts vielleicht sogar darin liegen könnte, dass Bands irgendwann ihre eigenen Venues unterhalten. Trivium haben vor Kurzem tatsächlich einen alten Flugzeughangar gekauft und planen, im Lauf der nächsten Jahre genau das umzusetzen. Wie stehst du zu solchen Ideen, insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemie und den eingeschränkten Möglichkeiten im Livebereich?
Wir machen gerade auch etwas in die Richtung und haben über Pelagic unsere eigene Ticketagentur gegründet. Zwischen Band und Promoter geht wahnsinnig viel Geld verloren. Verschiedenste Agenturen sind dabei involviert und jeder zieht sich seine Marge. Zumindest wenn es um Ticketing Fees geht, möchten wir das umgehen. Meistens gibt es lokale Ticketgebühren, die allesamt an große Konzerne gehen, nur damit diese den Verkauf durchführen. Das können wir auch selbst machen. Die kommende Tour ist gewissermaßen unser Pilotprojekt. Wir haben mit jedem einzelnen Veranstalter Verträge abgeschlossen, sodass wir ein gewisses Ticketkontingent kriegen und selbst verkaufen dürfen. Wir rechnen das mit denen zum normalen Ticketpreis ab, den sie auch mit Live Nation oder CTS Eventim oder wem auch immer abrechnen. Aber die Gebühren, die diese Agenturen noch oben drauf schlagen, ziehen jetzt wir uns und geben sie dem Künstler – was in diesem Fall eben wir selbst sind, The Ocean.
Das Modell ist in Zusammenarbeit mit unserer Booking Agentur NMC Live durchaus auch dafür gedacht, auf andere Bands angewandt zu werden. Wir wollen die Bandcamp-Idee auf die Ticketing-Ebene übertragen. Musikfans lieben den Gedanken, ihre Lieblingsbands direkt zu supporten. Das ist großartig und muss so sein. Diese Möglichkeit bieten wir auf diese Weise: Kauft die Tickets bei uns, sodass der Künstler bestenfalls ein bis zwei Euro mehr pro Ticket bekommt. Wir probieren das jetzt mal aus. Natürlich hängt da ein riesiger Rattenschwanz dran – angefangen bei steuerlichen Überlegungen. Wir sind ja eine deutsche Agentur, die dann Tickets zum Beispiel in Madrid oder Paris verkauft. Das ist nicht so trivial, auch mit den Umsatzsteuersätzen, Ermäßigungen bla bla bla. Da steckt viel Arbeit dahinter. Die Software dafür war ebenfalls ein ziemlicher Aufriss. Aber ich glaube, seine eigenen Tickets zu verkaufen, ist die Zukunft. Längerfristig kann man natürlich dann auch überlegen, eine andere Preispolitik zu fahren. Im Moment ist unser Gedanke, denselben Preis zu bieten, der eh für Live Nation und CTS fällig wäre, sodass es für den Konzertgänger keinen Unterschied macht, wo er kauft. Aber er weiß: Wenn er bei Pelagic kauft, kriegt der Künstler ein bis zwei Euro mehr pro Ticket.
Bisher scheint das ganz gut zu funktionieren. Am ersten Tag haben wir schon 500 Tickets verkauft. Das ist echt cool. Ob das längerfristig funktioniert, schauen wir mal. Es ist wie gesagt ein Pilotprojekt. Sicherlich gibts da noch einige Dinge, über die wir noch nicht nachdenken mussten. Die Abrechnung jetzt funktioniert natürlich einfacher, weil The Ocean und Pelagic sehr nah verwandte Firmen sind. Wir sind also eh auf der Tour und rechnen sowieso mit den Promotern ab. Für eine andere Band wäre das komplizierter. Unsere Überlegung ist, das eventuell über unsere Booking-Agentur abzuwickeln, die wiederum ja selbst Verträge mit den einzelnen Veranstaltern abschließen, und wir dann nur mit unserer Agentur abrechnen. Das befindet sich alles noch im Frühstadium. Auf jeden Fall wollen wir mehr Kontrolle im Livebereich. Es geht einfach zu viel verloren und kostet zu viel Geld. Gleichzeitig wäre all das durchaus auf direktem Wege durchführbar, wenn man denn bereit ist, die Arbeit zu investieren. Ob man gleich Venues kauft ... Das ist für eine tourende Band eher schwierig. Klar, vielleicht in der Heimatstadt. Wenn es eine geile Location gäbe und Geld dafür vorhanden wäre, hätte ich da schon Bock drauf. Aber in Berlin gibts ja eh nicht genug geile Venues. (lacht) Ab einer gewissen Größenordnung wird das schwierig.
Aber schauen wir mal, wie sich die Lage entwickelt. Viele Venues sind durch den ganzen Scheiß ja enorm gefährdet. Das wird zu einer weiteren Monopolisierung im Livebereich führen. Diejenigen, die jetzt keinen langen Atem haben, werden draufgehen und verkaufen müssen. Und was passiert dann? Sie werden alle von Live Nation oder Eventim gekauft. Die starken Player werden ihre Marktstellung noch weiter ausbauen, auf Kosten der kleinen Kultur- und Jugendzentren, der kleinen Venues, die unsere Kulturlandschaft enorm prägen. Das ist eine Riesenscheiße. Kann man nicht anders sagen. Ich glaube nicht, dass die Welt nach dieser Krise dieselbe sein wird. Es wird sich viel geändert haben. Viel wird einfach weg sein und nicht mehr funktionieren ohne Unterstützung von oben oder außen. Das wiederum wirkt sich aufs Programm aus. Man kann wirklich nur hoffen, dass der Staat eingreift und an den richtigen Stellen Gelder verteilt, dass ein paar mehr der gefährdeten Institutionen überleben. Naja, es wird versucht. Mal sehen, ob sich das am Ende auszahlt.
"Es wird eine Flut an Releases kommen"
Habt ihr mit Pelagic Records schon überlegt, wie ihr auf die voraussichtlich kommende Albumflut im nächsten Jahr reagieren werdet?
Unser Schedule ist voll bis Juni. Wir werden weiterhin zwei Alben pro Monat veröffentlichen. Das kann man glaube ich relativ safe sagen. Als wir letztes Jahr das Vinyl-Abo gestartet haben, hieß es, dass mindestens ein Album pro Monat kommt, wahrscheinlich mehr. 2020 stehen wir jetzt tatsächlich wirklich in fast jedem Monat mit zwei Alben da und nächstes Jahr wird das wohl so weitergehen. Ich mache mir überhaupt keine Illusionen, dass eine Flut an Releases kommen wird, aber ändern kann ich das eh nicht. Wir veröffentlichen geile Alben von geilen Bands und haben mittlerweile auch einen guten Stamm an Leuten, die allem folgen, was wir mit dem Label machen. Die werden hoffentlich auch an den kommenden Alben Interesse haben. Vertriebsmäßig wird es sicherlich schwierig, weil so viel anderes passiert. Aber andererseits ging dieses Jahr vertriebsmäßig sowieso gar nichts. USA steht seit Anfang März auf Null. Die kriegen dort halt keine Platten in die Läden gestellt. Das kann also eigentlich nur besser werden. Wie gesagt: Auch mit The Ocean haben wir ja diskutiert, ob wir wirklich jetzt im September veröffentlichen wollen. Es gab auch Gegenmeinungen. Wir können nicht touren, keiner weiß wie es weitergeht. Das ist alles richtig. Aber von den Leuten, die alles auf nächstes Jahr verschoben haben, hat auch keiner so richtig drüber nachgedacht, wie es denn da dann aussieht. Das wird ja völlig geisteskrank – nicht nur was Releases angeht, sondern auch in Bezug auf Touren! Wenn das ab März/April wieder losgeht, wird das so ein Overkill! Deshalb wollen wir unsere Tour auch gerne schon im Januar machen. Klar haben die Leute Hunger auf Touren, aber halt auch nicht unbedingt das Geld, jeden Abend auf ein Konzert zu gehen. Ich glaube, das wird ziemlich problematisch. Naja, mit Pelagic können wirs nicht ändern. Wir releasen unsere Platten wie geplant und wenn sie fertig sind.
Du hast eben schon das Pelagic Vinyl Abo angesprochen. Wie läuft das inzwischen?
Sehr gut! Wir haben über 200 Subscriber. Das ist für uns echt ein Safety Net. Das Label ist eben nicht mehr bloß ein Hobby. Ich habe zwei Festangestellte und zwei permanente Freelancer. Wir sind also fünf Leute im Team, haben unser Lager ... Am Monatsbeginn steht einfach inzwischen ein riesiger Kostenberg. Wenn wir früher mit The Ocean auf Tour waren, hab ich auch mal gesagt, dass man halt hier drei Monate dicht macht. Das geht jetzt nicht mehr. Das Abo bringt ein gewisses Grundbudget rein, das uns erlaubt, das zu machen, was wir machen. Es wird sehr gut angenommen und ist halt auch einfach ein extrem guter Deal. Auf Dauer werden wir das leider nicht halten können. Wir werden den monatlichen Preis leider ab 1. Januar anheben müssen, es geht nicht anders. Beim Start sind wir von 12 bis 14 Releases pro Jahr ausgegangen. Wir machen dieses Jahr aber über 20. Nächstes Jahr wird es eher gegen 24 gehen. Wir übererfüllen also quasi unser Versprechen und das kostet uns natürlich einfach Geld.
Aber wie gesagt: Es wird sehr gut angenommen und wir kommen jetzt auch dahin, eine limitierte Subscriber Edition anbieten zu können, die es sonst nicht im Handel geben wird. Wenn wir 200 Subscriber haben, können wir eben 200 Platten pressen, die wirklich nur an die Subscriber gehen. Das ist natürlich geil und macht die Sache super exklusiv. Leute, die ein Vinyl Abo kaufen, sind ja grundsätzlich Leute, die Bock auf farbiges Vinyl haben. Sie bekommen dann etwas, was es sonst einfach nirgends gibt. Durch Kadavar gab es auch nochmal Zuwachs. Das ist für uns neues Publikum und auch das wird super angenommen. Wir haben in den letzten Tagen echt einen Boost gesehen.
Die Kadavar Platten sind schon fast ausverkauft oder?
Vieles ist schon weg, ja. Das war auch zu erwarten. Die neue Platte ist natürlich anders, aber ich persönliche finde die total geil. Für mich sind "The Isolation Tapes" ihr bisher bestes Album! Bisschen mehr Keyboards und Psychedelic Rock als der Hardrock, für den die Band eigentlich bekannt ist. Mir persönlich läuft das extrem gut rein. Die Resonanz beim Pelagic Publikum darauf war auch sehr gut. Ich dachte eigentlich, dass einige Leute da skeptisch sein würden. Ist aber gar nicht so, die Platte verkauft sich super.
Wie kam eigentlich die Zusammenarbeit zwischen Kadavar und Pelagic zustande?
Über einen gemeinsamen Bekannten – ein alter Freund von mir und zufällig deren Booking Agent. Er hat mir erzählt, dass sie Hilfe suchen und momentan ihre ganze Logistik selber machen. Wir haben uns getroffen, geredet und geeinigt. Ich habe großen Respekt vor ihnen. Die haben sich echt ein mega Ding aufgebaut, mit einer angenehmen DIY-Mentalität. Sie haben ja jetzt ihr eigenes Label gegründet (Robotor Records; A.d.R.). Wir machen nur die Logistik für sie, sind also eng in Produktion und Verkauf involviert. Es macht total Spaß mit den Jungs. Super nette Leute, die extrem hart arbeiten, eine extrem gute Band sind und für uns auch einfach den Einzugskreis erweitern. Sie bringen eine Menge Leute, die Pelagic vorher vielleicht nicht so auf dem Schirm hatten. Kadavar haben natürlich schon einen riesigen Fankreis, erreichen durch uns aber natürlich auch nochmal andere Menschen. Sie waren auch begeistert von der Idee, dass wir die Platte auch für unsere Vinyl-Subscriber anbieten. "The Isolation Tapes" gibts für die Abonnenten auch schon in einer Farbedition, die es so nicht zu kaufen gibt. Es ist halt auch was anderes, ein Album als Download geschickt zu kriegen oder als Platte. Das hört sich jeder an. Irgendwie hat das alles super gepasst.
In unserem letzten Gespräch hattest du sich sehr positiv zu Spotify und Co. geäußert...
Ist das so?
Ja, du meintest damals, dass du Streaming als Chance siehst und sogar explizit Spotify genannt. Wie stehst du zu CEO Daniel Eks jüngsten Aussagen, Musiker sollten einfach mehr Musik machen, wenn sie von Streaming leben wollen.
Das ist natürlich totaler Bullshit. Ich hab' ein Spotify Abo, es ist ungeheuer bequem, so Musik zu konsumieren und plötzlich alles verfügbar zu haben. Dem kann man sich nicht verschließen. Das haben wir auch von Anfang an so begriffen. Andererseits sind die Auszahlungen natürlich immer noch ein Hohn. Und die wachsende Monopolstellung ist sehr bedenklich. Mittlerweile ist das ja nicht mehr gleichzusetzen mit Apple Music – Spotify hat doppelt so viele Marktanteile. Das ist beängstigend. Je weiter das in diese Richtung geht, desto mehr können die natürlich auch machen, ohne sich vor jemandem rechtfertigen zu müssen. Dass sie das auch wissen, spiegelt sich in solchen Aussagen wider. Das ist eine Riesenscheiße. Ein Mysterium sind auch diese Playlists. Zwar wird das alles irgendwie kuratiert, an die Kuratoren kommt man aber nicht ran. Es ist höchst fraglich, ob sich überhaupt jemand die ganzen Pitches anschaut, die man anliefert. Wenn man keine direkten Drähte zu Personen hat, die gewisse Playlists kuratieren, stochert man halt im Dunkeln. Gelegentlich klappt das, auch bei uns, aber es ist überhaupt kein System dahinter auszumachen, wie man das tatsächlich mit aktiver, guter Arbeit verbessern könnte. Das finde ich extrem schwierig, weil es Willkür bedeutet. Als Label hat man relativ wenige Stellschrauben, um ein Release aufs Radar zu bringen – gerade bei kleinen Sachen.
Ich bin also sehr kritisch, gleichzeitig aber selbst Nutzer und möchte dort auch nicht wieder weg. Ich hör' mir zwar meine Vinylplatten an, aber beim Aufstehen morgens gehts einfach schneller, kurz das Telefon anzumachen. Wenn mir irgendwas gefällt, kriegt das ein Like, landet in der Library. Das ist ultrakrass bequem und halt schon einfach geil. Da muss man sich auch der Realität stellen, dass die Leute so Musik hören wollen. Klar sind die Auszahlungen beschissen, finden aber auch nur statt, wenn man ein Premium-Abo hat. Damit rechtfertigt sich Spotify ja. Sie sagen, sie wollen die Leute erziehen, ein Premium-Abo abzuschließen, dann wären die Auszahlungen auch vernünftig. Stimmt zwar nicht, aber wenigstens sind sie nennenswert. Die ganzen Free-Streams sind das nicht und machen ja immer noch die Mehrzahl aus.
Man muss sich halt auch überlegen, wer die Hörer sind: Zum großen Teil Radiohörer. Und die waren es nie gewohnt, auch nur irgendwas für Musik auszugeben. Wenn man nur einen kleinen Teil der Millionen von Radiohörer dazu bringt, 9,90 Euro im Monat für ein Spotify Premium Abo zu bezahlen, sind das riesige Mehreinnahmen, die pro Jahr den Künstlern zugute kommen – selbst wenn sie nur marginal ausgeschüttet werden. Da besteht durchaus Hoffnung denke ich. Das soll überhaupt nicht rechtfertigen, dass die Auszahlungen zu gering sind, und ich finde, es muss hierzu eine stärkere Lobby von Künstlern und Labels geben. Bei einem Monopolisten Forderungen durchzusetzen, ist halt einfach schwierig. Wenn die machen können, was sie wollen, hat man eine schlechte Verhandlungsposition. Man kann nur hoffen, dass sich das bessert. Das hängt aber auch davon ab, ob die Label- und Publisher-Lobby eine einheitliche Position findet.
Arbeitest du schon an neuer Musik für The Ocean?
Ja, ich war Anfang Juli an unserem 'Ort wo Musik entsteht'. Der liegt in Spanien an einem unbekannten Ort am Meer. Dort habe ich an neuer Musik gearbeitet, aber es ist noch zu früh, um zu sagen, ob das schon in Richtung eines neuen Albums geht. Es sind erstmal grobe Ideen für zwei Tracks. Hat viel Spaß gemacht, nach langer Zeit mal wieder zu schreiben. "Phanerozoic II" wurde 2016, 2017 geschrieben, ist also jetzt eigentlich schon über drei Jahre alt. Dieses Jahr war einfach extrem voll. Trotz fehlender Touren waren wir mit Pelagic sehr busy, haben zum Beispiel noch Kaffee rausgebracht. (lacht) Deswegen war lange keine Zeit, über Musikschreiben nachzudenken. Aber ich hoffe, in der zweiten Jahreshälfte mehr machen zu können.
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